4. KAPITEL Service für Hundenasen i. 1986, Juli Alles war penibel vorbereitet. Der Leiter der Abt. Inno res beim Rat des Kreises, ein untersetzter Mann um die fünfzig mit faltigem Gesicht und abgearbeiteten Händen, hatte die Anordnungen des Hauptmanns Alexander Bacher befolgt, ohne Fragen zu stellen. Der Genosse sprach kraftvolles Erzgebirgisch mit harten Konsonanten und hellen Vokalen. Woher? Aus Schwarzenberg, fünfzehn Jahre lang unter Tage bei der Wismut. Bacher wußte: Genossen wie den mußte man auf einen Verwaltungsplatz prügeln, vor der Parteischule scheute sich so einer wie vor einer Höllenstrafe. »Die beiden sind nicht so übel«, sagte der Abteilungsleiter. »In Südamerika gehören solche zur Kirche von unten.« Zur vereinbarten Minute wurden Pfarrer Reichen bork und der Schlosser und gescheiterte Theologiestu dent Vockert angemeldet. Eine Tür blieb halb offen; Bacher saß so, daß er nicht gesehen werden konnte. »Bitte, Herr Vockert.« »Line holländische Friedensgruppe hat sich an uns gewendet und allerlei Material geschickt: Aufrufe, Broschüren in Englisch und Deutsch über Raketenrüstung, US den Zustand der Nordsee und Schildkröten in Neuseeland. Nun wollen uns ein paar von denen besuchen.« »Warum gerade Sie?« »Vielleicht hat uns jemand empfohlen.« Kränklich klang die Stimme des Pfarrers keinesfalls. »Außerdem fragen die Holländer nach Adressen von alten und bedürftigen Gemeindemitgliedern, denen wollen sie irgendwas schicken.« »Wir möchten keinen Fehler machen«, das war Vok kert. »Wenn's um Raketen geht, wird's uns mulmig.« »Und bedürftige Leute bei uns werden von der Volkssolidarität unterstützt«, belehrte der Abteilungsleiter, »wir haben es nicht nötig, im Ausland zu betteln.« »Also raten Sie generell ab?« Die Broschüren sollten sie ihm zeitweise überlassen und, wenn sie den Holländern antworteten, Aufklä-rungsmaterial der Nationalen Front beilegen. Raketen seien schließlich nicht gleich Raketen. Und falls wirk lieh eine Delegation käme gern würde er sie im Rat des Kreises empfangen. Fin aufklärendes Gespräch über Ländergrenzen hinweg! »Weil wir gerade dabei sind, Herr Reichenbork, Sie sollten sich die Schriftsteller, die bei Ihnen auftreten, genauer anschauen. Mit diesem Kunze haben Sie angefangen, der beglückt ja inzwischen die BRD. Stefan Heym hat abgelehnt, das muß doch seine Gründe haben, meinen Sic nicht?« »Er sei überlastet, hat er gesagt.« »Aber vielleicht ist es nicht nur das?« Nun trat erst einmal eine Pause ein. Länger als zehn Minuten hatte das Gespräch bisher keinesfalls gedau- ert, wenig für die Tücher unter den Sitzen. Der Abteilungsleiter sollte die Unterredung auf eine halbe Stunde ausdehnen - was der Mann sich wohl dachte angesichts der Tatsache, daß das M1S eigene Stühle mitbrachte? »Da wäre noch etwas von unserer Seite. Neulich zu einer Abendandacht sind viele Autos von außerhalb gekommen, Bürger haben sich beschwert. Abends gegen zehn dieser massierte Aufbruch!« Das mochten die Kirchenmänner nun überhaupt nicht verstehen. Wie? Und wer hätte sich beschwert? Acht Autos wären es vielleicht gewesen, gab der Pfarrer zu. Wahrscheinlich nur sechs, ineinte Vockert. Wenn man einen Trabantmotor anlasse, mache das natürlich einiges Geräusch. In der dörflichen Abendstille wirke das womöglich doppelt laut. Vielleicht sollten die Autos künftig nicht direkt vor der Kirche parken, schlug der Pfarrer vor, und Vockert, jetzt offensichtlich gereizt, verwies auf die Mähdrescher, die im Sommer abends gegen elf von den Feldern hereindonnerten. Und was war, wenn Traktoren früh um sechs starteten? »Ich wüßte wirklich gern, wer sich beschwert hat!« »Also, wenn Sie Besuch aus den Niederlanden bekommen, möchten wir ihn auch kennenlernen.« Er wäre leider nicht informiert, wie sich die Volkssolidarität um Königsau kümmere. Falls es Versäumnisse gebe, wolle er sich gern einschalten. Wintermäntel lür betagte Bürger, und wenn bei einem Rentner die Waschmaschine oder der Fernseher kaputtginge - unbürokratisch würde geholfen. »Rufen Sie mich in solchem Fall bitte an. Und ich danke für das Vertrauen, daß Sie sich 116 117 3. 1986, September »Is prima, Mama«, lobte Alexander Bacher, »daß du mir von deinem Besuch erzählt hast. Ach was, wir tun ihm nichts. Denkst du, daß du ihn erkennst?« Die Fotos, die Bornowski an Marianne Bacher geschickt hatte, waren ihm von der Abt. M zusammen mit dem letzten Brief auf den Schreiblisch gelegt worden. Ein markanter Schädel, ein Gesicht, das weniger gealtert schien, als man nach elf Jahren Zuchthaus vermuten sollte. Oder: In Bautzen II ging es eben bei weitem nicht so spartanisch zu, wie der Westen hetzte. Haß konservierte. Und Bornowski war ein Feind allererster Güte. Wen alles gleichgültig ließ, der schlaffte ab, wen eine große Wut nicht losließ, wurde steinalt. Ihm fiel Adenauer ein. Die meisten sozialistischen Politiker hatte es früh erwischt. Ausnahmen waren rar, Clara Zetkin zum Beispiel. Na, Pieck immerhin. »Linus hat mir Fotos geschickt. Sieht großartig aus, finde ich.« »Ich werde euch einen Tisch reservieren lassen, damit ihr nicht im Messetrubel von Lokal zu Lokal irren müßt. Im >Merkurs was meinst du?« »Aber dort kostet es Westgeld.« »Das hat er doch.« Bacher freute sich. »Woher kommt eigentlich sein Vorname?« »Er ist in Riga geboren, dort war der Name häufig. Seine Mutter war Deutsche, der Vater lettischer Eisenbahner. Im Krieg war Linus im Lager und auf der Flucht Zuletzt als Soldat für die Deutschen in Holland eingesetzt.« »Bei der Waffen-SS?« »Bei der Flak in Rotterdam, sagte er. Holländisch konnte er ein bißchen, fließend Russisch und Polnisch und natürlich Lettisch. In vier Wochen hat er bei einer italienischen Freundin soviel aufgeschnappt, daß er italienische Zeitungen lesen konnte.« »Vielleicht bummle ich durchs >Mcrkun, wenn ihr dort seid. Aus Neugier.« »Nicht mal ein bißchen zuzwinkern darf ich dir?« »Jaaa, Mama, wir geben Obacht, daß ihm nicht die Brieftasche geklaut wird.« »Auch im Dienst, wenn deine Mutter einen uralten Freund trifft?« Im Dienst - die Messe war Schwerpunkt. Aul sei nem Schreibtisch lag Mielkes Befehl: Weltweite politische und ökonomische Bedeutung, verschärfte Klassenauseinandersetzung. Vorbeugende Aufklärung und konsequente Verhinderung feindlicher Pläne. Gewährleistung des umfassenden Schutzes der Repräsentanten der DDR, ausländischer Gäste sowie anderer be-deutender Persönlichkeiten und sei weiter. Zehn Seiten vertrauliche Verschlußsache, dieser Befehl 4/8ö. »Treffpunkt (F)« die Frühjahrsmesse, »Treffpunkt (H)« die Herbstmesse. Daß Bornowski im DDR-Zuchthaus gesessen hatte, wußte er nicht von seiner Mutter, sondern aus den Akten. Aus diesem Wissensspeicher, diesem Kunstwerk, das vertikal und horizontal aufschließbar und innerhalb seiner Glieder abgeschottet war. Dabei 137