Ihr kam es vor, als wollte sie in diesem Bild bleiben, als sie sich abermals an den Frühstückstisch setzte und noch eine Tasse Kaffee trank. Ein Gedanke hatte sich schon am Abend angedeutet, im Schlaf war er verweht worden; sie hatte gewartet, daß Harald fragte: Wie hätte dein Vater das gefunden? Albert Bachers Augen hätten den eisigen Glanz bekommen, den sie in seinen letzten Jahren so gefürchtet hatte, dieses Zeichen hartnäckigen Nichtverstehens. Die Tochter des Generals der Volkspolizei Albert Bacher hockte am Küchen tisch, während alle Bürger zu den Stellplätzen eilten. Nicht gingen, schlenderten, spazierten, bummelten, per Straßenbahn, Rad oder Auto hinfuhren, sondern eilten. Albert Bacher war nie geeilt. Er hatte sicherlich jahrelang nicht demonstriert und auf keiner Tribüne gestanden. In Zivil am Straßenrand, argwöhnisch? Dafür gab es andere. Vermutlich hatte er im VP-Präsidium gesessen, um sich Telefone und Adjutanten. Stets war gemeldet worden, alles liefe fortschrittlich-kämpferisch in Mienen, Gesten und Gesängen ab, ohne Vorkommnisse. PSie schüttelte die Betten auf, wagte es aber nicht, sie aufs Fensterbrett zu legen: Betten zwischen Fahnen und Spruchbändern, um Gottes willen. Sie füllte die Waschmaschine wie an einem Sonnabend und schaltete den Fernseher ein. Parade auf dem Roten Platz in Moskau. Schaltung. »Fieberhafte, freudige Erregung liegt über Berlin, Hauptstadt der Deutschn Demokra-tischn Republik«, jubilierte eine Mannesstimme in erhöhter Tonlage. »Draußen in den Neubauvierteln, wo Block um Block... « Ohne zu überlegen, rief sie ihre Mutter an und hörte: »Wo bist du denn?« »Zu Hause.« »Etwa krank?« »Heute morgen war mir's schummrig, da hab ich mich noch mal hingelegt. Geht schon wieder. Und bei dir?« »Eben haben sich Leute angesagt, von denen ich gar nicht mehr wußte, daß es sie gibt. Die sind mit Papa da und dort gewesen, in Moskau oder im Ministerium in Berlin, Generäle auch, ja.« »Wann in Moskau?« »Als du klein warst. Sascha holt mich übrigens ab. Du, ich hab ihn lange nicht in Uniform gesehen.« »Ich, als Papa seinen letzten Orden kriegte.« Nun war ihr Vater seit einem Jahr tot, eine Straße wurde nach ihm benannt, und Silke würde hoffentlich nicht in der Schule angeben: Nach meinem Opa heißt 'ne Straße! »Also, freu dich genügend bis zum großen Fest, Mutti!« »Werd' schon.« Vormittags am l.Mai in der Wohnung, das verursachte Druck hinter der Stirn, es konnte auch sein, ihre Regel meldete sich. Oder die Angst vorm morgigen Vormittag mit seinen Unwägbarkeiten war schuld. Katzmann hatte nur einmal die Beherrschung verloren, als mitten in einer Arbeit die Mittel um die Hälfte gekürzt worden waren, weil Kapazitäten fürs Sportfest freigeschaufelt werden mußten. Morgen wieder? Sie blieb an der Balkontür stehen, so daß sie von unten nicht gesehen werden konnte, und blickte auf die Kuppeln der Markthalle, den Schornstein des Kraftwerks und den Dampfschleier über einem Köhl- is 19 »Bestimmt.« »Schade, daß ich nicht mitfahren kann. Aber diese Sitzung in Halle funktioniert nicht ohne mich. War der große Albert manchmal auch ein zärtlicher Vater, ein lustiger, alberner?« »Als ich klein war, schickten sie ihn nach Moskau. Meine Mutter hat mir Fotos von der Lomonossow-Universität, von Papa und Stalin gezeigt. Da bildete ich mir ein, er wäre immerzu mit Stalin zusammen, und natürlich war ich unheimlich stolz auf ihn. Als er zurück war, tapezierte er einmal ein Zimmer und stand dabei auf einer Leiter. Irgend etwas mußte vorausgegangen sein, so daß ich hoffte, er fiele herunter. Für diesen bösen Gedanken hab ich mich zu Tode geschämt. Ich fürchtete, der Genosse Stalin könnte davon erfahren. Nach ein paar Tagen habe ich es Papa gebeichtet, und er hat gelacht. Damals war er der jüngste Hauptmann in seiner Abteilung - Mutti war wahnsinnig stolz auf ihn. Er war riesengroß, und das nicht nur aus der Sicht eines Kindes. Später war er immer weit weg, weit oben. Er hätte mich gern in den Parteiapparat lanciert. Ich hätte in Budapest oder Leningrad weiterstudieren können. Meine Russischkenntnisse fand er lächerlich.« »Wenigstens hatte er einen tüchtigen Sohn.« »Letzten Endes war ihm Sascha nicht sportlich genug. Ist schon anstrengend, ein gewaltiger Vater zu sein.« Am nächsten Morgen saß sie in der Poliklinik einer älteren, korpulenten Ärztin gegenüber, die, während sie die Symptome ihrer Erschöpfung schilderte, Formu- lare ausfüllte. Der Schreibtisch war mit Akten beladen, so daß sie nicht sehen konnte, ob die Notizen mit ihr zu tun hatten. Als sie eine Pause machte, hob die Arztin kurz den Blick und konstatierte freundlich: »Ja, so ist das«, als hörte sie derlei täglich oder hätte alles selbst erlebt. »Ich schreibe Sie für zwei Wochen krank und gebe Ihnen ein paar Tabletten. Eine nehmen Sie morgens, eine abends. Wenn Sie die am Abend weglassen können, ist es besser. Frische Luft, radfahren - das Wetter ist ja ganz schön. Tun Sie sich den Gefallen: Nutzen Sie die beiden Wochen nicht, um etwa Ihre Wohnung auf den Kopf zu stellen. Keinen Alkohol bitte. Rauchen Sie?« »Selten.« »Dann rauchen Sie bitte noch seltener.« Das Rezept war bereits ausgeschrieben. Sie nahm die Brille ab und stand auf. Während sie die Hand ausstreckte, bildete sich ein Lächeln, das wohltat: Eine Frau fühlte mit einer anderen. Auf der Treppe las Astrid Protter: »Faustan.« Vor der Tür wurde ein Taxi frei, was für ein Zufall. Sie fuhr nach Hause, wobei sie dachte: Ein bißchen Gardinenwaschen ist ja nicht direkt Arbeit. Sie legte sich wieder ins Bett und erwachte mit bleiernen Gliedern. Katzmanns Schwärmerei vom Grundlagenstudium fiel ihr ein; sie überlegte, was ihr Freude machen könnte. Kölpers hatte neulich eingeworfen, die Aufbauphase nach 1871 wäre höchst ungenügend erforscht. Das könnte sie aber nur reizen, wenn die Gegenwart ausgeblendet würde. Überhaupt Gegenwart: Das hinfällige Gohliser Schlößchen. Die gräßliche Hainstraße. 32 33 Als sie begonnen hatte, Kartoffeln zu schälen, klingelte das Telefon. Sie hörte ein Knacken, Rauschen, sagte: »Hallo?« und: »Ich höre nichts«, und wollte schon aullegen, als sie aus weiter Ferne verstand: »Marianne, bist du's? Ich rufe aus Berlin an. Linus Bor-nowski.« Sie wartete, drückte den Hörer ans andere Ohr. Noch einmal: »Marianne, du bist es doch?« »Ja, ich bin's.« »Ich sitze hier in einer Redaktion. Gerade meldet ADN, daß Albert 'ne Straße gekriegt hat.« »Linus?« »Ja, Marianne.« »Ich dachte schon, du wärst tot.« »Hätte ja sein können. Unkraut.« »Du arbeitest noch?« »Heute in der Schlußredaktion. Du hast nichts von mir gehört? Gelesen?« »Was gelesen?« »Ich war lange in ... « Im Hörer war es still, Marianne Bacher wartete und legte behutsam auf. Linus, Linus, Linus Bornowski. Ihr erster richtiger Liebhaber, der Mann vor Albert. Berlin, das hieß doch: Westberlin? Linus, der verrückte Motorradfahrer mit der wilden Mähne. Und weil er, der besessene Fotograf, ein bißchen krumm ging, hatte er schnell seinen Spitznamen weggehabt: Leica-Buckel. Der wieder in ihr Leben eingedrungen war, als Albert in Moskau studierte. Auch als Liebhaber verrückt, ein Schürzenjäger, aber sie hatte er wirklich geliebt. Wäre kaum gut gegangen mit uns. Es war ihr unmöglich, sich 44 ihr Leben vorzustellen, wenn sie nicht beim harten Genossen Albert geblieben, sondern mit dem Windhund Linus durchgegangen wäre. Astrid war schon auf der Welt gewesen. Linus Bornowski, der sie auch mit dem Kind heiraten wollte. Der verrückt gewesen war nach dem Mädelchen wie Albert nie. Also nicht nur der Mann vor Albert, sondern auch der dazwischen. Ihr einziger Seitensprung, der zählte. Sie schälte die Kartoffeln zu F.nde und setzte sie aufs Gas. Sie war jetzt einundsechzig, also würde Linus Sechsundsechzig sein. Aus ihrem Leben verschwunden, als er nach Westberlin abgehauen war. Wegen dieses Fotos vom Deutschlandtreffen. Sicherlich hatte er erwachsene Kinder, vielleicht Enkel. War womöglich verwitwet wie sie. Hatte bestimmt nicht mehr diese Haartolle, sondern mindestens Halbglatze. Wählte CDU? Fuhr Mercedes? Fotos hatte er sicherlich noch, vielleicht mit ihr auf diesem Motorrad. Er hatte sie immerzu nackt fotografieren wollen, aber sie hatte sich geweigert. Mit einem Schaumlöffel hob sie die Kartoffeln aus dem Kochwasser und setzte das Linsenglas in den Topf. So sparte sie Energie. Derlei Tricks hatte sie Astrid vergeblich beizubringen versucht. Albert hatte sie deswegen nie ausgelacht, höchstens gespöttelt: Die Generalin, unsere verdiente Sparerin des Volkes. Linus Bornowski würde sich wieder melden. Sie mußte schmunzeln, als ihr einfiel: mein Buckelchen. 45