„Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug," sagt er, um des Fremden Seele zu erleichtern. „Rauchen Sie eine von meinen?" „Ja, danke." Zigaretten werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick, der Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen. „Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen," sagt er, „aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht gar zehn Dutzend Makrelen fangen... stellen Sie sich das mal vor." Der Fischer nickt. „Sie würden," fährt der Tourist fort, „nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren — wissen Sie, was geschehen würde?" Der Fischer schüttelt den Kopf. „Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen — eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden...," die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme,9 „Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei,10 später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben.11 Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren — und dann...," wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache. Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, sei- 110« ner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen. „Und dann," sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache. Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich verschluckt12 hat. „Was dann?" fragt er leise. „Dann," sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen — und auf das herrliche Meer blicken." „Aber das tu ich ja schon jetzt," sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört." Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid. 1 dösen klimbat, podřimovat; 2 das spröde, fast feindselige Geräusch drsný, téměř nepřátelský zvuk; 3 nachweisbar dokazatelný; 4 eine gereizte Verlegenheit nervózní rozpaky; 5 das Kopfschütteln vrtění hlavou; 6 das Kopfnicken kývání hlavou; 7 prompt und knapp promptně a stručně; 8 ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis výraz sice nemístné, avšak dojemné starostlivosti; 9 die Begeisterung verschlägt ihm die Stimme nadšením mu přeskočí hlas; 10 die Räucherei udírna; 11 per Funk Anweisung geben dávat pokyny rádiem;12 sich verschlucken zakuckat se Bertolt Brecht Wenn die Haifische1 Menschen wären „Wenn die Haifische Menschen wären," fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner Wirtin, „wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?" • in „Sicher," sagte er. „Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie im Meer für die Weinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden sorgen, daß die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitäre Maßnahmen treffen. Wenn zum Beispiel ein Fischlein sich die Flosse2 verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht trübsinnig3 würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige. Es gäbe natürlich auch Schulen in den großen Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein lernen, wie man in den Rachen4 der Haifische schwimmt. Sie würden zum Beispiel Geographie brauchen, damit sie die großen Haifische, die faul irgendwo liegen, finden könnten. Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, daß es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freudig aufopfert,5 und daß sie alle an die Haifische glauben müßten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen,6 daß diese Zukunft nur gesichert sei, wenn sie Gehorsam7 lernten. Vor allen niedrigen, materialistichen, egoistischen und marxistischen Neigungen müßten sich Fischlein hüten8 und es sofort den Haifischen melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete. Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fischlein zu erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, daß zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden,9 sind bekanntlich stumm, 112« aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und können einander daher unmöglich verstehen. Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in anderer Sprache schweigende Fischlein tötete, würden sie einen kleinen Orden aus Seetang™ anheften und den Titel Held verleihen. Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen Farben, ihre Rachen als reine Lustgärten, in denen es sich prächtig tummeln läßt, dargestellt wären. Die Theater auf •113 dem Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in die Haifischrachen schwimmen, und die Musik wäre so schön, daß die Fischlein unter ihren Klängen, die Kapelle voran, träumerisch, und in allerange-nehmste Gedanken eingelullt,11 in die Haifischrachen strömten. Auch eine Religion gäbe es da, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würden lehren, daß die Fischlein erst im Bauch der Haifische richtig zu leben begännen. Übrigens würde es auch aufhören, wenn die Haifische Menschen wären, daß alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind. Einige von ihnen würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein wenig größeren dürften sogar die kleineren auffressen. Das wäre für die Haifische nur angenehm, da sie dann selber öfter größere Brocken12 zu fressen bekämen. Und die größern, Posten habenden13 Fischlein würden für die Ordnung unter den Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im Kastenbau usw. werden. Kurz, es gäbe überhaupt erst eine Kultur im Meer, wenn die Haifische Menschen wären." 1 der Haifisch žralok; 2 die Flosse ploutev; 3 trübsinnig trudnomyslný; 4 der Rachen hltan, chřtán; 5 sich aufopfern obětovat se; 6 jemandem etwas beibringen někoho něčemu naučit; 7 der Gehorsam poslušnost; 8 sich vor etwas hüten stříci se něčeho; 9 verkünden hlásat;10 der Seetang chaluha;11 einlullen ukolébat, uspat; 12 größere Brocken větší kousky; 13 die Posten habenden Fischlein rybičky zastávající místa Brechtův sarkastický příběh o tom, jak by to vypadalo v moři, kdyby se žraloci chovali jako lidé, je napsán celý v konjunktivu souminulého času — dokážete si poradit se všemi jeho tvary? Der Radwechsel Ich sitze am Straßenrand Der Fahrer wechselt das Rad. Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld? Die Lösung Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, daß das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes? der Radwechsel výměna kola; die Ungeduld netrpělivost; die Lösung řešení; der Aufstand des 17. Juni povstání ve východním Berlíně 17. června 1953, potlačené ruskými tanky; der Sekretär des Schriftstellerverbands tajemník Svazu spisovatelů; Flugblätter verteilen rozdávat letáky; verscherzen promrhat; zurückerobern dobýt zpět; auflösen rozpustit 114«