148 Viktor E. Fran kl Sinn und Gewissen 5. Die Transzendenz des Gewissens (...) Alle Freiheit hat ein Wovon und ein Wozu: das, „wovon" der Mensch frei sein kann, ist das Getriebensein - sein Ich hat Freiheit gegenüber seinem Es; das aber, „wozu" der Mensch frei ist, ist das Verantwortlichsein. Die Freiheit des menschlichen Willens ist also Freisein „vom" Getriebensein „zum" Verantwortlichsein, zum Gewissen-haben. Dieser Tatbestand mit seinem doppelten Aspekt ist wohl am besten getroffen von einem schlichten Imperativischen Satz der Maria von Ebner-Eschenbach: „Sei deines Willens Herr und deines Gewissens Knecht!" Und von diesem Satze, von dieser ethischen Forderung, wollen wir nun ausgehen, um zu erhellen, was wir als die Transzendenz des Gewissens bezeichnet haben. Unsere Überlegungen gestalten sich dabei folgendermaßen: „Sei deines Willens Herr... „ Nun, Herr meines Willens bin ich schon, sofern ich Mensch bin, zugleich aber dieses mein Menschsein richtig verstehe: sofern ich es eben als Freisein, mein ganzes Dasein als volles Verantwortlichsein verstehe. Soll ich jedoch darüber hinaus „Knecht meines Gewissens" sein, ja soll ich das überhaupt auch nur sein können, dann muß dieses Gewissen wohl etwas anderes sein, mehr sein als ich selbst; dann muß es wohl etwas Höheres sein als der Mensch, der die „Stimme des Gewissens" doch bloß vernimmt, - dann muß es etwas Außermenschliches sein. Mit anderen Worten: Knecht meines Gewissens kann ich erst dann sein, wenn ich, in meinem Selbstverständnis, das Gewissen als ein mein bloßes Menschsein trans-zendierendes Phänomen - und damit mich selbst, meine Existenz, eben von der Transzendenz her verstehe. Ich dürfte also das Phänomen des Gewissens dann nicht bloß in seiner psychologischen Faktizität, sondern in seiner wesentlichen Transzendentalität begreifen; „Knecht meines Gewissens" kann ich also eigentlich nur dann sein, wenn die Zwiesprache mit meinem Gewissen echtes Zwiegespräch ist, also mehr als bloßes Selbstgespräch - wenn mein Gewissen also mehr ist als mein Ich: wenn es Sprachrohr ist von etwas anderem. Sollte also die Sprache irren, wo sie von einer Stimme des Gewissens spricht? Denn das Gewissen könnte ja schon darum nicht „Stimme haben", weil es ja selber Stimme „ist" - Stimme der Transzendenz. Diese Stimme hört der Mensch nur ab - aber sie stammt nicht vom Menschen ab; im Gegenteil: erst der transzendente Charakter des Gewissens läßt uns den Menschen und läßt uns im besonderen seine Personalität überhaupt erst in einem tieferen Sinne verstehen. Der Ausdruck „Person" würde in diesem Lichte nämlich eine neue Bedeutung gewinnen; denn wir könnten jetzt sagen: Durch das Gewissen der menschlichen Person per-sonat eine außermenschliche Instanz. Welche Instanz das sei, können wir von hier aus, allein im Zu- Viktor E. Frankl 149 sammenhang mit der Ursprungsproblematik des Gewissens bzw. mit dessen transzendenter Verwurzelung, nicht erschließen; sehr wohl aber läßt sich zumindest das eine behaupten: daß auch diese außermenschliche Instanz ihrerseits notwendig von personaler Seinsart sein muß - wobei sich von diesem ontologischen Schluß dann freilich auch zurückschließen lassen müßte auf das, was man die Ebenbildlichkeit der menschlichen Person nennt. (...) Es wurde bereits gesagt, das Gewissen sei Stimme der Transzendenz und insofern selber transzendent. Der irreligiöse Mensch ist nun nichts anderes als einer, der diese Transzendenz des Gewissens verkennt. Denn auch der irreligiöse Mensch „hat" ja Gewissen, auch der Irreligiöse hat Verantwortung; er fragt bloß nicht weiter - weder nach dem Wovor der Verantwortung noch nach dem Woher des Gewissens. Das soll uns aber nicht wundern: Im I. Buch Samuel (3,2-9) wird geschildert, wie Samuel als Knabe eines Nachts gemeinsam mit dem Hohepriester Eli im Tempel schläft. Da weckt ihn eine Stimme, die ihn mit Namen ruft. Er erhebt sich und wendet sich an Eli, um ihn zu fragen, was er, Eli, von ihm wünsche; der Hohepriester aber hat ihn gar nicht gerufen und befiehlt ihm, sich wieder schlafenzulegen. Dasselbe wiederholt sich ein zweitesmal, und erst beim drittenmal weist der Hohepriester den Knaben an, das nächstemal, wenn er seinen Namen rufen hört, aufzustehen und zu sagen: „Sprich, Herr, denn dein Knecht hört!" Sogar der Prophet hat also, da er noch ein Knabe war, den Anruf, der von der Transzendenz an ihn erging, als solchen verkannt. Wie sollte da ein gewöhnlicher Mensch imstande sein, den transzendenten Charakter jener Stimme, die er aus seinem Gewissen heraushört, ohne weiteres zu erkennen? Und wie sollte es uns da wundern, wenn er die Stimme, die im Gewissen zu ihm spricht, gewöhnlich für etwas hält, das lediglich in ihm selbst begründet ist? Der irreligiöse Mensch ist also derjenige, der sein Gewissen in dessen psychologischer Faktizität hinnimmt; derjenige, der bei diesem Faktum als einem bloß immanenten quasi haltmacht - vorzeitig haltmacht, können wir sagen: denn er hält das Gewissen für eine Letztheit, für die letzte Instanz, vor der er sich zu verantworten hat. Das Gewissen ist aber nicht das letzte Wovor des Verantwortlichseins; es ist keine Letztheit, sondern eine Vorletztheit. Vorzeitig hat der irreligiöse Mensch auf seiner Wegsuche zur Sinn-findung haltgemacht, wenn er über das Gewissen nicht hinausgeht, nicht hinausfragt. Er ist gleichsam erst auf einem Vorgipfel angelangt. Warum aber geht er nicht weiter? Weil er den „festen Boden unter den Füßen" nicht missen will; denn der eigentliche Gipfel - der ist seiner Sicht entzogen, der ist vom Nebel verhüllt, und in diesen Nebel, in dieses Ungewisse, wagt er sich eben nicht hinein. Dieses Wagnis leistet eben nur der religiöse Mensch. Was aber sollte beide davon abhalten, daß sie dort, wo der eine stehenbleibt und der andere aufbricht zum letzten Wegstück, voneinander Abschied nehmen ohne Groll?