138 Erich Fromm innere Autorität des Gewissens ausmachen. Charakteristisch für den Spruch des autoritären Gewissens ist: seine Gültigkeit gründet allein darin, dass die Regeln, die dieser Spruch reproduziert, irgendwann und irgendwo von Autoritäten produziert worden sind. Damit ist und bleibt das autoritäre Gewissen durchgängig fremdbestimmt, kennt es als heteronomes Gewissen nur den einen Imperativ, der oder den internalisierten Autorität(en), wer immer diese sei(en), zu gefallen. Immer sitzt Angst an der Wurzel des autoritären Gewissens, die bekanntlich in allen Dingen des Lebens ein schlechter Berater ist, auch in den Dingen des sittlichen Lebens und damit auch in den Dingen des Gewissens. Gut beraten ist der Mensch, sagt der Humanist Erich Fromm, der sich beizeiten auf die Seite des humanistischen Gewissens schlägt. Dessen Stimme, die „die Stimme unserer liebenden Fürsorge für uns selbst" ist, weiß immer Rat - auch dann, wenn dieser teuer ist Den Luxus, sich dieses Gewissen zu leisten, sollten sich alle gönnen, die aus Prinzip dafür und nicht dagegen sind, dass aus schwachen (Über-Ich-)Gewissen starke Gewissen werden. Jeder, der es ernst meint mit sich und seinem Gewissen, schaue sich sein Gewissen an und frage sich dabei: Wie viel Prozent dieses Gewisses sind noch autoritär und wie viel Prozent dieses Gewissens sind schon humanistisch? Wer das weiß, weiß auch, in welchem Zustand sein Gewissen ist: ob nämlich in einem eher guten oder in einem eher schlechten. Autoritäres und humanistisches Gewissen Kein stolzeres Bekenntnis gibt es für einen Menschen, als wenn er sagt: „Ich handle so, wie mein Gewissen es von mir verlangt.* Wie die Geschichte lehrt, gab es seit jeher Menschen, die gegen jeden Zwang, der ihnen auferlegt wurde, damit sie ihr Wissen und ihren Glauben aufgäben, die Grundsätze der Gerechtigkeit, Liebe und Wahrheit verteidigten. Die Propheten, die den Untergang ihres Landes vorhersagten, weil Korruption und Rechtlosigkeit herrschten, handelten ihrem Gewissen gemäß. Sokrates zog den Tod einem Zustand vor, in dem er durch einen Kompromiß mit der Wahrheit sein Gewissen verraten hätte. Gäbe es kein Gewissen, so wäre die Menschheit auf ihrem gefährlichen Weg schon längst im Schlamm versunken. Aber auch andere behaupten, ihr Tun werde durch das Gebot ihres Gewissens bestimmt: die Männer der Inquisition, die gewissenstreue Menschen auf dem Scheiterhaufen verbrannten; oder die räuberischen Kriegsstifter, die im Namen ihres Gewissens zu handeln vorgaben, wenn sie rücksichtslos ihrer Machtgier folgten. Es gibt wohl kaum eine Grausamkeit oder Gleichgültigkeit gegen andere oder sich selbst, die nicht als Gebot des Gewissens rationalisiert wurde - woraus hervorgeht, wie gebieterisch das Gewissen beruhigt zu werden verlangt. Erich Fromm 139 Das Gewissen ist in der Vielzahl seiner empirischen Manifestationen tatsächlich etwas Verwirrendes. Sind diese verschiedenen Arten des Gewissens immer ein und dasselbe Gewissen, das sich lediglich seinem Gehalt nach unterscheidet? Sind es verschiedene Phänomene, denen nur die Bezeichnung „Gewissen* gemeinsam ist? Oder sollte die Annahme, es gäbe ein Gewissen, sich als unrichtig erweisen, wenn wir das Phänomen empirisch als ein Problem der menschlichen Motivation untersuchen? (...) Im folgenden werden wir zwischen „autoritärem" und „humanistischem" Gewissen unterscheiden, eine Differenzierung, die der Unterscheidung zwischen autoritärer und humanistischer Ethik folgt. 1. Das autoritäre Gewissen Das autoritäre Gewissen ist die Stimme einer nach innen verlegten äußeren Autorität, also der Eltern, des Staates oder was immer in einer bestimmten Kultur als Autorität gelten mag. Solange das Verhältnis des Menschen zur Autorität äußerlich bleibt und keine moralische Sanktionen daraus abgeleitet werden, kann man kaum von einem Gewissen sprechen. Ein solches Verhalten wird nur von Nützlichkeitserwägungen, von der Furcht vor Strafe oder der Hoffnung auf Belohnung bestimmt und ist immer von der unmittelbaren Gegenwart dieser Autoritäten abhängig: davon, daß diese Autoritäten wissen, was man tut, und daß sie die vermeintliche oder wirkliche Macht haben zu strafen oder zu belohnen. Was die Menschen als ein dem Gewissen entstammendes Schuldgefühl empfinden, ist oft nur Furcht vor der Autorität. Sie fühlen im Grunde nicht Schuld, sondern Angst. Bei der Bildung des Gewissens werden jedoch Autoritäten wie Eltern, Kirche, Staat, öffentliche Meinung bewußt oder unbewußt als ethische und moralische Gesetzgeber angesehen, deren Gesetze und Sanktionen man annimmt und sie damit internali-siert. So werden die Gesetze und Sanktionen der äußeren Autorität zu einem Teil des Menschen selber. Man fühlt sich nicht mehr verantwortlich gegenüber etwas, das außerhalb liegt, sondern gegenüber etwas, das in einem selbst ist: gegenüber seinem Gewissen. Das Gewissen ist ein wirksamerer Regulator des Verhaltens als alle Furcht vor äußeren Autoritäten. Denn vor der äußeren Autorität kann man davonlaufen, vor sich selbst jedoch nicht und daher auch nicht vor einer nach innen verlegten Autorität, die zu einem Teil des Selbst geworden ist. Das autoritäre Gewissen entspricht dem, was Freud als Über-Ich beschrieben hat. Wie ich noch zeigen werde, ist dies aber nur eine Form des Gewissens, möglicherweise sogar nur eine Vorstufe in der Entwicklung des Gewissens. Während das autoritäre Gewissen sich von der bloßen Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Belohnung unterscheidet, da das Verhältnis zur Autorität nach innen verlegt wurde, ist der Unterschied in anderen wesentlichen Punkten 140 Erich Fromm nicht sehr groß. Die wichtigste Gemeinsamkeit besteht darin, daß auch die Vorschriften des autoritären Gewissens nicht durch eigene Werturteile bestimmt werden, sondern ausschließlich dadurch, daß seine Forderungen und Tabus durch die Autorität selbst ausgesprochen werden. Sind diese Vorschriften zufällig gut, so wird das Gewissen das Tun des Menschen zum Guten lenken. Diese Vorschriften wurden aber nicht deswegen Gewissensvorschriften, weil sie gut sind, sondern weil es Vorschriften sind, die von der Autorität gesetzt wurden. Sie würden auch dann vom Gewissen aufgenommen, wenn sie schlecht wären. Jemand, der beispielsweise an Hitler glaubte, bildete sich ein, nach seinem eigenen Gewissen zu handeln, wenn er menschenunwürdige Taten beging. (••■) Die Inhalte des autoritären Gewissens werden aus Geboten und Tabus der Autorität abgeleitet. Seine Stärke wurzelt in Angstgefühlen vor der Autorität und in Bewunderung für sie. Ein gutes Gewissen ist das Bewußtsein, der (äußeren und internalisierten) Autorität zu gefallen, ein schlechtes Gewissen, ihr zu mißfallen. Das gute (autoritäre) Gewissen ruft ein Gefühl des Wohlbehagens und der Sicherheit hervor, denn es bedeutet die Zustimmung seitens der Autorität und eine nähere Verbindung zu ihr. Das schlechte Gewissen ruft Furcht und Unsicherheit hervor, weil ein Handeln gegen den Willen der Autorität die Gefahr einschließt, bestraft oder - was weit schlimmer ist - von der Autorität verlassen zu werden. (...) Bisher habe ich mich mit der formalen Struktur des autoritären Gewissens beschäftigt. Ich habe dargelegt, daß das gute Gewissen das Bewußtsein bedeutet, den (äußeren und verinnerlichten) Autoritäten zu gefallen; das schlechte Gewissen ist das Bewußtsein, ihnen zu mißfallen. Worin bestehen nun die Inhalte des guten oder schlechten autoritären Gewissens? Es ist augenscheinlich, daß jede Übertretung einer von der Autorität gegebenen Vorschrift Ungehorsam und demzufolge auch Schuld ist, ob diese Vorschriften nun gut oder schlecht sind; aber es gibt auch Vergehen, die für die autoritäre Situation selbst eigentümlich sind. Das schlimmste Vergehen in der autoritären Situation ist Auflehnung gegen die Herrschaft der Autorität. Ungehorsam wird zur „Kardinalsünde", Gehorsam zur Kardinaltugend. Gehorsam schließt die Anerkennung der überlegenen Macht und Weisheit der Autorität ein, ihr Recht, entsprechend ihren Machtansprüchen zu befehlen, zu belohnen oder zu strafen. Die Autorität fordert Unterwerfung, und zwar nicht nur aus Furcht vor ihrer Macht, sondern auch aus der Überzeugung ihrer moralischen Überlegenheit und ihres Rechts. Der Respekt, den man der Autorität schuldet, schließt jeden Zweifel an ihr aus. Die Autorität mag sich zu Erklärungen ihrer Befehle und Verbote, ihrer Belohnungen und Strafen herablassen oder von Erklärungen absehen - aber das Individuum hat niemals das Recht, eine Frage zu stellen oder Kritik zu üben. Sollte eine Kritik an der Autorität begründet erscheinen, so kann der Erich Fromm 141 Fehler nur bei dem der Autorität unterstellten Individuum liegen, und die bloße Tatsache, daß dieses Individuum Kritik zu üben wagt, ist eo ipso der Beweis seiner Schuld. (...) 2. Das humanistische Gewissen Das humanistische Gewissen ist nicht die nach innen verlegte Stimme einer Autorität, der wir gefallen wollen und der zu mißfallen wir fürchten; es ist die eigene Stimme, die in jedem Menschen gegenwärtig ist und die von keinen ußeren Strafen und Belohnungen abhängt. Worin besteht das Wesen dieser Stimme? Weshalb hören wir sie, und weshalb können wir gegen sie taub werden? Das humanistische Gewissen ist die Reaktion unserer Gesamtpersönlichkeit auf deren richtiges oder gestörtes Funktionieren. Es ist keine Reaktion auf das Funktionieren dieser oder jener Fähigkeit, sondern auf die Totalität der Fähigkeiten, die unsere menschliche und individuelle Existenz ausmacht. Das Gewissen beurteilt, ob wir als menschliche Wesen „funktionieren". Gewissen ist (wie die Wortwurzel conscientia anzeigt) die Kenntnis über uns selbst, die Kenntnis über den Erfolg oder über das Versagen in der Kunst des Lebens. Obgleich Gewissen zwar Kenntnis ist, so ist es doch mehr als ein bloßes Wissen des abstrakten Denkens. Es hat eine affektive Qualität, da es die Reaktion unserer Gesamtpersönlichkeit und nicht nur die unseres Geistes ist. Es braucht uns gar nicht zum Bewußtsein zu kommen, was das Gewissen uns sagt, um von ihm beeinflußt zu werden. Handlungen, Gedanken und Gefühle, die ein richtiges Funktionieren und die Entfaltung unserer Gesamtpersönlichkeit fördern, rufen ein Gefühl der inneren Zustimmung, der Richtigkeit hervor. Dieses ist charakteristisch für das humanistische „gute Gewissen". Andererseits rufen Handlungen, Gedanken und Gefühle, die für unsere Gesamtpersönlichkeit schädlich sind, ein Gefühl der inneren Unruhe und des Unbehagens hervor. Dieses ist charakteristisch für das „schlechte Gewissen". Gewissen ist also die Re-Aktion unseres Selbst auf uns selbst. Es ist die Stimme unseres wahren Selbst, die uns auf uns selbst zurückruft, produktiv zu leben, uns ganz und harmonisch zu entwickeln - das heißt zu dem zu werden, was wir unserer Möglichkeit nach sind. Es ist der Wächter unserer Integrität; es bedeutet „für sich gut sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen". Wenn Liebe als Bejahung der Möglichkeiten des geliebten Menschen, als Fürsorge und als Achtung vor seiner Einmaligkeit definiert werden kann, dann kann mit Recht auch das humanistische Gewissen als die Stimme unserer liebenden Fürsorge für uns selbst bezeichnet werden. Das humanistische Gewissen ist nicht nur der Ausdruck unseres wahren Selbst, es ist gleichzeitig der Ausdruck unserer entscheidenden moralischen Erfahrungen im Leben. In unserem Gewissen zeigt sich die Kenntnis unseres