3S- an ?r" en -irl er er n-w % f Carl Gustav Jung 129 Moralisches und ethisches Gewissen Das Wort „Gewissen" deutet an, daß damit ein Spezialfall von „Wissen" oder „Bewußtsein" gemeint ist. Die Besonderheit von „Gewissen" besteht darin, daß es ein Wissen um oder Gewißheit über den emotionalen Wert jener Vorstellungen ist, welche wir von den Motiven unseres Handelns haben. Nach dieser Definition ist das Gewissen ein komplexes Phänomen, das einesteils aus einem elementaren Willensakt oder aus einem bewußt nicht begründeten Antrieb zum Handeln, anderenteils aus einem Urteil des vernünftigen Gefühls besteht. Dieses ist ein Werturteil, das sich dadurch von einem intellektuellen Urteil unterscheidet, daß es neben einem objektiven, allgemeinen und sachlichen Charakter auch die Eigenschaft der subjektiven Bezugnahme erkennen läßt. Das Werturteil impliziert immer das Subjekt, indem es voraussetzt, daß etwas schön oder gut „für mich" sei. Wenn der Satz dagegen lautet: Es ist für gewisse andere schön oder gut, so ist dies nicht notwendigerweise ein Werturteil, sondern kann eine intellektuelle Feststellung sein. Das komplexe Phänomen des Gewissens besteht also gewissermaßen aus zwei Stockwerken, von denen das eine als Grundlage ein gewisses psychisches Geschehen enthält, das andere aber eine Art von Überbau darstellt, nämlich das annehmende oder verwerfende Urteil des Subjektes. Entsprechend der Komplexität des Phänomens ist dessen empirische Phänomenologie sehr weit gespannt. Es kann als vorausnehmende oder mitfolgende oder nachträgliche bewußte Reflexion erscheinen oder als bloße affektive Begleiterscheinung irgendwelcher psychischer Geschehnisse auftreten, wobei gegebenenfalls sein moralischer Charakter nicht einmal erkennbar ist. So kann zum Beispiel ein scheinbar unbegründeter Angstzustand bei einem gewissen Handeln entstehen, ohne daß das Subjekt sich auch nur des geringsten Zusammenhanges seines Handelns mit dem nachträglichen Angstzustand bewußt ist. Nicht selten ist das moralische Urteil in einen nachfolgenden Traum verschoben, welcher dem Subjekt unverständlich ist. So wurde zum Beispiel einem Geschäftsmann eine anscheinend durchaus seriöse und ehrenhafte Offerte gemacht, die aber, wie es sich viel später herausstellte, ihn in eine fatale Betrugsaffäre verwickelt haben würde, wenn er sie angenommen hätte. In der Nacht, nachdem ihm tags zuvor die Offerte gemacht worden war, die ihm wie gesagt annehmbar erschien, träumte ihm, daß seine Hände und Vorderarme mit schwarzem Schmutz bedeckt waren. Er vermochte darin keinen Zusammenhang mit den Ereignissen des Vortages zu finden, weil er sich nicht zugestehen konnte, daß ihn die Offerte an der verwundbaren Stelle, nämlich der Erwartung eines guten Geschäftes, getroffen hatte. Ich warnte ihn, und er war vorsichtig genug, wenigstens gewisse Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, die ihn dann auch vor größerem Schaden bewahrten. Hätte er gleich zu Anfang die Situation überblickt, so hätte er unbedingt ein böses Gewissen gehabt, denn dann hätte er verstanden, daß es um ein „schmutziges" Geschäft ging, das seine Moral nicht erlaubt hätte. 130 Carl Gustav Jung Er hätte, wie man sagt, „sich die Hände schmutzig gemacht". Der Traum hat diese Redensart bildlich dargestellt. In diesem Fall fehlt das klassische Charakteristikum des Gewissens, nämlich die „conscientia peccati", das Bewußtsein der Sünde. Dementsprechend fehlt der spezifische Gefühlston des bösen Gewissens. Dafür tritt im Schlafzustand ein symbolisches Bild von schwarzen Händen auf, das den Träumer auf eine unsaubere Arbeit aufmerksam macht. Um seiner moralischen Reaktion, das heißt seines Gewissens, bewußt zu werden, mußte er mir den Traum erzählen. Diese Mitteilung war insofern ein Gewissensakt, als bei ihm eine gewisse Unsicherheit in bezug auf Träume bestand. Er hatte sie im Laufe einer praktischen Analyse erworben, welche gezeigt hatte, daß Träume oft Erhebliches zur Selbsterkenntnis beitragen. Ohne diese Erfahrung hätte er wahrscheinlich den Traum übersehen. (...) Unser Traumbeispiel nun und viele andere Fälle ähnlicher Art legen den Gedanken nahe, daß in Anbetracht der Übereinstimmung des subliminalen moralischen Urteils mit dem Sittenkodex der Traum in derselben Weise verfahren wäre wie das auf das traditionelle Moralgesetz sich stützende Bewußtsein, und daß mithin die allgemeine Moralität entweder zugleich ein Grundgesetz des Unbewußten sei oder dieses wenigstens beeinflusse. Dieser Schluß stünde in flagrantem Gegensatz zu der allgemeinen Erfahrung der Autonomie des Unbewußten. Obschon Moralität an sich eine universale Eigenschaft der menschlichen Psyche ist, so kann dies jedoch vom jeweiligen Sittenkodex nicht behauptet werden. Er kann daher als solcher kein natürlicher Strukturteil der Psyche sein. Trotzdem besteht - wie unser Beispiel zeigt - der Umstand, daß der Gewissensakt im Unbewußten im Prinzip genau so verläuft wie in einem Bewußtsein, den gleichen moralischen Präzepten folgt wie dieses und darum den Anschein erweckt, als ob der Sittenkodex auch den unbewußten Vorgang beherrsche. Dieser Anschein aber trügt, denn es gibt ebensoviel und praktisch vielleicht noch mehr Beispiele, bei denen die subliminale Reaktion mit dem Sittenkodex ganz und gar nicht übereinstimmt. So konsultierte mich zum Beispiel einmal eine sehr distinguierte Dame, die sich durch einen untadeligen Lebenswandel ebensosehr wie durch eine „geistig" hochgestimmte Haltung auszeichnete, um ihrer „abscheulichen" Träume willen. Diese verdienten das Prädikat. Sie produzierte serienweise höchst unschmackhafte Traumbilder, die sich mit betrunkenen Prostituierten, venerischen Krankheiten und dergleichen mehr befaßten. Sie war entsetzt über solche Obszönitäten und konnte sich gar nicht erklären, wieso gerade sie, die immer nach dem Höchsten strebte, von solchen Bildern des Abgrundes verfolgt werde. Sie hätte ebensowohl fragen können, woher es komme, daß gerade die Heiligen den übelsten Versuchungen ausgesetzt seien. Hier spielt der Sittenkodex - wenn überhaupt - die gerade umgekehrte Rolle. Ferne davon, sittliche Ermahnung zu produzieren, vergnügt sich hier das Unbewußte mit dem Erzeugen aller