Heinrich Böll 101 Auferstehung des Gewissens Ein Dichter kam aus Paris nach Deutschland, um hier in verschiedenen Städten seine Gedichte zu lesen. Er hatte Freunde hier und gewann auf dieser Reise neue Freunde, aber so „nebenher" bewirkte er etwas Außerordentliches: er bewirkte, daß ein elfjähriges Mädchen in die nächste Klasse aufstieg. Unumstößlich war das Schicksal des Mädchens schon besiegelt, es sollte sitzenbleiben, aber der Dichter korrigierte das Unabänderliche. Wer je in Gefahr war, sitzenzubleiben oder je sitzenblieb, weiß, wie schrecklich die Angst in den Tagen vor Beginn der Osterferien sein kann. Jeder kennt auch die schreckliche Endgültigkeit amtlicher Beschlüsse. Aber in diesem Falle erwies sich das Endgültige als nicht endgültig, und wie der Dichter diese Korrektur des Schicksals erzwang, ist ebenso einfach wie unerklärbar; durch sein Wort, durch seine Person; er beschwor die Lehrerin, stellte ihr die Schrecken des Kindes dar, er kämpfte um dies Kind, das er nicht kannte, nie kennenlernen wird; was weinende Eltern und das Kind nicht erreicht hatten, der Dichter erreichte es: das Kind stieg in die nächste Klasse auf. Das Glück eines Kindes wiegt schwer. Diese Geschichte ist geschehen, und sie könnte rührend sein, wenn nicht in derselben Klasse, in der dieses Mädchen sitzt, wenige Tage vor der Ankunft des Dichters folgendes sich gezeigt hätte: Die Lehrerin hatte über die Juden gesprochen, und es stellte sich heraus, daß nicht ein einziges von vierzig Kindern um die Judenvernichtung wußte, um den kaltblütigsten Pogrom, der je in der abendländischen Geschichte stattfand. Der Dichter aber ist ein Jude, seine Eltern sind ermordet worden, wie sechs Millionen dreiundneunzigtausend Juden ermordet worden sind. Unsere Kinder wissen nicht, was vor zehn Jahren geschehen ist. Sie lernen die Namen von Städten kennen, mit deren Nennung sich ein fader Heroismus verbindet: Leuthen, Waterloo, Austerlitz, aber von Auschwitz wissen unsere Kinder nichts. Seltsam und recht fragwürdige Legenden werden unseren Kindern erzählt: vom Kaiser Barbarossa, der mit dem Raben auf der Schulter im Kyffhäuser sitzt; aber die historische Realität der Stätten wie Treblinka und Maidanek ist unseren Kindern unbekannt. Und doch wären die Spuren des Massenmordes an den Juden auch in Köln zu finden. Der Sammelplatz für die Kölner Juden war das Messegelände, einer der Orte, an die das „deutsche Wunder" viele Tausende von Ausländem lockt. Schon die Bezeichnung „Wunder" für den wirtschaftlichen Aufstieg sollte uns Christen nachdenklich machen: ein Wunder ist die Auferstehung Jesu Christi, und - genaugenommen - ist es blasphemisch, eine wirtschaftliche Blüte als Wunder zu bezeichnen. Möbel und Kameras, Stoffe und Maschinen werden heute ausgestellt an dem Ort, der für Tausende von Juden aus Köln und der Umgebung Kölns die erste Station auf dem Wege zum Tode war. Unsere Kinder wissen davon nichts, und wir, die wir es wissen, reden und Renken darüber hinweg, ein Vorgang, den man mit der billigen Vokabel Vitalität zu erklären versucht. Aber jene Vitalität, die das „deutsche Wunder" 102 Reinhold Schneider bewirkt, ist kein ausreichendes Alibi für unser Gewissen. Wir beten für die Gefallenen, für die Vermißten, für die Opfer des Krieges, aber unser abgestorbenes Gewissen bringt kein öffentliches, kein klares und eindeutig formuliertes Gebet für die ermordeten Juden zustande, und doch müßte, wer Augen hat zu sehen, wer Ohren hat zu hören, es überall sehen, es überall hören. Eine Spur, die sich unbekannt in der Namenlosigkeit des Massenmordes verlor, führt über ein holländisches Lager, ein holländisches Kloster unweigerlich nach Köln zurück: die Spur von Edith Stein; ihr Name blieb erhalten, weil sie als Philosophin bekannt war; aber der Name von Edith Stein zeugt nicht nur für ihre Philosophie, für ihr Leben als Karmeliterin, er zeugt auch für den Mord an den Juden. Ein Güterzug, der von Holland aus ostwärts fuhr, ein Zettel, aus dem fahrenden Zug geworfen: das ist die Spur, die in eins der Vernichtungslager im Osten führt, eine Spur, die in das Herz von Köln, in den Kölner Kar-mel zurückführt. Viele dieser Spuren, die sich in Güterwagen verlieren, führen nach Köln zurück, wie sie in jede deutsche Stadt führen. Wie die Unwissenheit der Kinder beweist, ist das Gewissen der Eltern - unser Gewissen - tot: getötet vielleicht von Scham, getötet vielleicht von Vitalität, aber wir wollen uns nicht täuschen: die Vitalität, die das „deutsche Wunder" wirkt, ist kein Alibi für das Gewissen der Christenheit. Es gibt eine christliche Vitalität, aber sie ist nicht dieselbe, die das „deutsche Wunder" bewirkt hat. Heinrich Böll Text 26: Reinhold Schneider Geschichte und Gewissen Hinführung „Was ist der Mensch, wenn nicht Freiheit? - Was ist Freiheit, wenn nicht eine Tat unseres Gewissens? - Was ist Gewissen, wenn nicht das Wissen von der Verantwortung für das Ganze der Schöpfung - vor dem, der sie geschaffen hat?" Diese Sätze des christlichen Dichters Reinhold Schneider (1903-1958) hat der christliche Ethiker Franz Furger (1935-1997) seinem 1972 in Freiburg i. Ue. erschienenen Buch „Anspruch Christi und Handeln des Menschen. Elemente christlicher Welt- und Lebensgestaltung" als Leitzitat vorangestellt und damit gewiss einen guten Griff getan. Denn das Zitat des Dichters bringt jene elementaren Bezüge gekonnt auf den Begriff, die in jeder Ethik gekannt und begriffen sein wollen. Es sind dies die Bezüge „Mensch - Freiheit, Freiheit -