Günther Anders 51 bisse und damit sein Gewissen nicht abzuschaffen, sondern im Umfeld einer moralisch kranken Gesellschaft moralisch gesund zu bleiben. Dass Menschen nicht zu Deserteuren ihres Gewissens werden, macht sie moralisch groß, sagt Günther Anders, der immer sagt, was er meint, und immer meint, was er sagt. Einen, der auszog, „moralisches Analphabetentum zu bekämpfen" hat Fritz J. Raddatz (* 1931) den „Berufsmoralisten" Günther Anders einmal genannt - zu Recht Der war nämlich in der Tat zeit seines Lebens darauf aus, in dürftiger Zeit die Welt das Alphabet des Gewissens zu lehren, das nun einmal den archimedischen Punkt der moralischen Welt bildet, woran kein Zweifel sein kann. Zu diesem Zweck wählte der belletristische Philosoph und philosophische Belletrist Günther Anders auch einmal die moralischen Themen und Thesen durch und durch geneigte Gattung der Fabel und brachte die Fabel „Die Stimme des Gewissens" zu Papier, die zeigt, dass das „ende der fabeln" (Reiner Kunze) noch nicht gekommen ist. Diese Fabel, die auch Parabel sein will, ist gewiss schwerste Kost für den Leser. Denn sie mutet dem, der sie liest, einiges zu. Doch das hat seinen - guten - Grund: Die Fabel „Die Stimme des Gewissens" will nämlich Wahrheit und nichts als Wahrheit erkennbar machen. Dazu muss sie ab und zu auch einmal schockieren duďen. Die Stimme des Gewissens Nachdem Neun von den Zehn dem Kommando, das sie erhalten, widerspruchslos nachgekommen waren und die Gruppe der Kriegsgefangenen gewissenhaft abgestochen hatten, kehrten sie grau im Gesicht und mit blutbeschmierten Händen zu ihren Kameraden zurück. Dieser Zehnte, der sich, wohl wissend, was er damit riskierte, von der Teilnahme ausgeschlossen hatte, lag nun, gebunden und mit dem Gesicht zur Wand, in der Baracke. Die Neun umstanden ihn im Halbkreis. „Recht hast du, dich zu schämen", meinte der Erste und stieß mit dem Stiefel gegen ihn. „Das nenne ich mir Solidarität!" „Genau!" bestätigte der Zweite, und trat ihm gegen sein Schienbein. „Schön bequem hast du dir's gemacht. Oder glaubst du vielleicht, wir hätten nicht auch lieber saubere Finger behalten?" „Genau!" bestätigte der Dritte, und trat ihm in sein Geschlecht. „Oder denkst du vielleicht, uns macht solche Schweinerei Spaß?" „Genau!" bestätigte der Vierte, und er trat ihm in den Bauch. „Oder redest du dir vielleicht ein, du bist der einzige, der diese famose Stimme des Gewissens gehört hat?" „Genau!" bestätigte der Fünfte, und trat ihm in die Rippen. „Oder willst du uns vielleicht weismachen, du seiest ein freier Mensch, weil du der sklavisch gehorcht hast? Von Widerstandsrecht hast du wohl noch nie etwas gehört?" 52 William Shakespeare „Genau!" bestätigte der Sechste, und zertrat ihm die Hand. „Und von Mißtrauen wohl auch noch nichts? Daß man solche Damen auffordern muß: ,Legitimieren Sie sich gefälligst!'" „Genau!" bestätigte der Siebente, und trat ihm in die Gurgel. „Und daß man solche Damen auszufragen hat: ,Warum glauben Sie denn, daß Ihr Du-sollstnicht verbindlicher sei als das Dusollst in unseren immerhin amtlich gestempelten und signierten Befehlen?'" „Genau!" bestätigte der Achte, und trat ihm, da vom Leibe nicht viel übriggeblieben war, in den Mund. „Und daß man die zu fragen hat: ,Warum verstecken Sie sich eigentlich, gnädige Frau?' Und: ,Warum tun Sie denn eigentlich so, als wenn Ihre Stimme aus meinem Munde herauskäme?"' „Genau!" bestätigte der Neunte, und wandte sich nun, nachdem er den blutigen Klumpen in die letzte Ecke geschoben, direkt an seine Kameraden: „Und selbst wenn die Worte der Dame aus unserem Munde herauskommen würden, und sogar aus unserem Herzen - bewiese denn das, daß sie wahr sind? Seit wann wären wir denn die Quelle der Wahrheit?" „Genau!" riefen sie da im Chore. Und nur der Zehnte blieb stumm wie zuvor. Leider ist es nicht zu bestreiten, daß sie, als sie nun, um ihre Hände und Stiefel vom Blut zu reinigen, Arm in Arm der Pumpe entgegenzogen, nicht mehr annähernd so grau im Gesicht waren wie vorher, sondern bereits aussahen wie robuste Männer mit gutem Gewissen. Günther Anders Text 16: William Shakespeare König Richard III. Hinführung „Karawanenführer des Gewissens" ist der Essay überschrieben, dem Tschjncis Aitmatov (* 1928) seine Rede zu Grunde legte, die er beim Festakt zum 400. Geburtstag des größten englischen Dichters William Shakespeare (1564-1616) im Moskauer Bolschoj-Theater hielt. Der Essay rät dazu, „den Weg der Shake-speareschen Karawane in die Zukunft (zu) beobachten", denn William Shakespeare, der „große Karawanenführer des Gewissens, der Reinheit und der Größe des Menschen", gehe „von Generation zu Generation und sein Zug durch die Welt" nehme „kein Ende". Damit deutet der Essay jenen geheimen Punkt an, der im Theater des großen englischen Dichters der Mittelpunkt ist.