44 Eugen Roth Text 11: Eugen Roth Das Gewissen Hinführung Gelöst ist das Rätsel noch nicht, was den Schriftsteller Eugen Roth (1895-1976) dazu brachte, sein Gedicht „Das Gewissen" zu schreiben. Das Gedicht, das in der für Eugen Roth typischen Art zu reimen verfasst ist, findet sich in einem seiner besten Versbücher, und das ist das aus dem Jahre 1948 stammende Versbuch „Mensch und Unmensch", in dem der in München geborene und in München gestorbene Schriftsteller mal die großen und mal die kleinen Dinge des Lebens mit spitzer Zunge aufs Korn nimmt. Immer ist der Mensch das Thema Nr. 1 des Menschenkenners Eugen Roth, dem in der Tat nichts Menschliches fremd war und der sich fast auf alles seinen Reim zu machen wusste. In seinem Lehr-Gedicht „Das Gewissen" macht sich Eugen Roth nun daran, seiner Leserschaft Zeile für Zeile, Vers für Vers, Punkt für Punkt seine Gewissens-Lehre zusammenzureimen, deren Problembewusstsein gar nicht einmal so klein ist. So mancher philosophische oder theologische Ethiker, der die Dinge des Gewissens zu glatt und zu platt sieht, könnte sich von Eugen Roths kleiner aus Erfahrung kommender und sich an Erfahrung wendender Problemanzeige zum Phänomen der inneren Stimme des Gewissens eine dicke Scheibe abschneiden. Fragen über Fragen, die sich im Zusammenhang der Gewissensfrage stellen - Eugen Roths Gedicht spricht sie an und spricht sie aus: ♦ Da ist die Frage: Kann das sein, dass die Stimme des Gewissens mal spricht und mal nicht? ♦ Da ist die Frage: Kann das sein, dass da plötzlich oder allmählich ein ganzes Stimmengewirr ist und irgendwo darunter die Stimme des Gewissens? ♦ Da ist die Frage: Kann das sein, dass die Stimme des Gewissens im einen Fall eindeutig, im anderen Fall zweideutig spricht? ♦ Da ist die Frage: Kann das sein, dass auch das Gewissen das Gute vom Bösen gar nicht scharf trennen kann? ♦ Da ist die Frage: Kann das sein, dass das Gewissen zwar auf Empfang geschaltet ist, doch die falsche Frequenz abhört, nämlich nicht den weißen -Radio Himmel -, sondern den schwarzen - Radio Hölle - Sender? ♦ Da ist die Frage: Kann das sein, dass jemand, der seine Ruhe haben will und daher die Stimme des Gewissens abstellt statt anstellt, damit sich und der Welt einen Gefallen tut? Eugen Roth 45 Es hat gewiss seinen Reiz, auf diese in Eugen Roths Gedicht geschickt platzierten Fragen, die alles andere als nur akademische Fragen sind, Antworten zu suchen und zu finden, die Sinn machen, da sie die Stimme des Gewissens stimmig deuten. So oft das gelingt, so oft bringt das Gewinn. Das Gewissen Ein Mensch, von bangen Zweifeln voll, Ist unentschlossen, was er soll. Ha, denkt er da in seinem Grimme: Wozu hab ich die innre Stimme? Er lauscht gespannten Angesichts - Jedoch, er hört und hört halt nichts. Er horcht noch inniger und fester: Nun tönt es wild wie ein Orchester. Wo wir an sich schon handeln richtig, Macht sich die innere Stimme wichtig. Zu sagen uns: Du sollst nicht töten, Ist sie nicht eigentlich vonnöten. Doch wird sie schon beim Ehebrechen Nicht mehr so unzweideutig sprechen. Ja, wenn es klar in uns erschölle: Hier spricht der Himmel, hier die Hölle! Doch leider können wir vom Bösen Das Gute gar nicht trennscharf lösen. Ists die Antenne, sinds die Röhren, Die uns verhindern, gut zu hören? Ists, weil von unbekanntem Punkt Ein schwarzer Sender zwischenfunkt? Der Mensch, umschwirrt von so viel Wellen, Beschließt, die Stimme abzustellen. Gleichviel ob er das Richtge tue, Hat er zum mindesten jetzt Ruhe. Eugen Roth