Johannes Gründel 437 Anspruch und Autorität des Gewissens Wer vom Gewissen spricht, denkt dabei zunächst an eine spezifisch menschliche Erfahrung, die jedem in irgendeiner Weise bekannt ist und die dennoch sehr vielschichtig erlebt wird: etwa als Gefühl einer Verpflichtung zu einem Tun oder als Schuldbewußtsein nach einer vorsätzlich begangenen Tat. Das Gewissen ist nicht nur ein „Wissen um etwas", sondern es berührt auch wesentlich den emotionalen und willentlichen Bereich des Menschen. Soll über den Wert oder Unwert menschlicher Handlungen geurteilt werden, so kommt dabei - zumindest indirekt - die Thematik des „Gewissen" zur Sprache, selbst wenn im einzelnen das Wort „Gewissen" nicht verwendet wird. Mit „Gewissen" ist eine allgemein menschliche Grundgegebenheit gemeint, eine Urerfahrung, ob wir gut oder schlecht gehandelt haben und deshalb gute oder böse Menschen sind. Für die Beurteilung des Gewissens spielen jedoch die jeweils vorliegenden geschichtlichen Bedingungen und gesellschaftlichen Formen eine wichtige Rolle. Eine rein abstrakte Abhandlung über das Gewissen wird diesem menschlichen Phänomen nicht hinreichend gerecht. Insofern wird dieses Thema immer wieder neu aufgerollt. Wer vom Gewissen oder über das Gewissen spricht, muß zunächst einmal sagen, was er genauer darunter versteht. Ob ich einer mehr außengeleiteten autoritären, legalistischen Moral unterworfen bin oder ob ich mein eigenes und das gesellschaftliche Leben in einer richtig verstandenen autonomen Eigenverantwortung zu gestalten habe, hängt entscheidend mit ab vom Gewissensverständnis. Offensichtlich ist heute die Thematik des Gewissens wieder neu aktuell geworden; zeichnen sich doch in unserer Gesellschaft wie in der Kirche zunehmend Tendenzen ab, dem einzelnen die ihm zugewiesene Eigenverantwortung zu ersparen. So wurde von seiten kirchlicher Autorität die Befürchtung geäußert, mit der Berufung auf das Gewissen fände eine „Apotheose der Subjektivität" statt; das Gewissen erscheine so als „die zum letzten Maßstab erhobene Subjektivität" für unser Tun (Kardinal Ratzinger); damit werde dem Willkürverhalten Tür und Tor geöffnet. Auf der anderen Seite betonten Theologen in der 1989 veröffentlichten kirchenkritischen Stellungnahme, der „Kölner Erklärung", daß das Gewissen „kein Erfüllungsgehilfe des päpstlichen Lehramtes sei", sondern daß vielmehr das Lehramt „bei der Auslegung der Wahrheit auch auf die Gewissen der Gläubigen verwiesen" bleibe; „die Spannung zwischen Lehre und Gewissen einzuebnen bedeute eine Entwürdigung des Gewissens". So sehr heute eine Außensteuerung durch Autorität oder Normen für den persönlichen Bereich abgelehnt wird, so rufen Christen doch lautstark nach konkreten gesetzlichen Regelungen für das öffentliche Leben. Ein uniformisti-scher und legalistischer Weg erscheint eben einfacher und sicherer. In allen Weltanschauungen und Religionen begegnen wir heute solchen fundamentalistischen Tendenzen, Darum erscheint eine Klärung des rechten Verstand- 438 Johannes Gründel nisses von Gewissen notwendig - im wahrsten Sinne des Wortes „notwendend": jener Notlage soll begegnet werden, daß sich Menschen angesichts bestimmter Modeströmungen oder gesellschaftlicher Manipulationen unmündig verhalten, dem Trend des „man* ausgeliefert sind und damit in keiner Weise der ihnen zugewiesenen Verantwortung gerecht werden. Kommen wir zunächst auf Eigenart und Funktion des Gewissens zu sprechen. 1. Eigenart und Funktion des Gewissens Das Gewissen ist nicht einfach eine Ansammlung bestimmter Wertvorstellungen und Normen, die gelernt wurden, um sie in der jeweiligen Situation richtig anzuwenden. Unter Gewissen versteht man zunächst eine grundlegende Befähigung eines jeden Menschen, sich ganz allgemein für das Gute zu entscheiden und das Böse zu meiden. Dies gehört zum Personsein schlechthin. Eine solche Fähigkeit kann zwar verkümmern; doch bleibt sie im Innersten eines jeden Menschen zumindest noch rudimentär vorhanden. Gleichviel, ob der Betreffende an die Existenz eines Gottes glaubt oder nicht, er weiß sich verpflichtet, das Rechte zu tun. Wo immer er offensichtlich gegen eine solche innere Stimme handelt, wird er auch von seinem Gewissen entsprechend gemahnt, gewarnt und zur Umkehr aufgerufen - es sei denn, er ist gegenüber diesen Regungen in seinem Innersten schon völlig taub und abgestumpft. Das ist gemeint, wenn die Theologen des Mittelalters vom Urgewissen als einer unzerstörbaren Anlage des Menschen sprechen. Von dieser Gewissensanlage zu unterscheiden ist der konkrete Gewissensspruch. Er meint jene Überzeugung und Entscheidung, die der Betreffende aufgrund ernsthaften Bemühens um das Rechte und Gute fällt. Bereits die ältesten ägyptischen Kulturzeugnisse berichten von einer kritischen und anklagenden Instanz, die der Mensch in seinem Inneren erfährt. In der griechischen Tragödie begegnen wir eindrucksvollen Schilderungen, die das Gewissenserlebnis bildhaft umschreiben: So in den mythischen Gestalten der Erinnyen, die als Rachegeister, Furien oder als Frauen mit Schlangenhaaren den Mörder so lange herumtreiben, bis er sein Verbrechen gesühnt hat. Hier kommt die Erfahrung des schlechten Gewissens zum Ausdruck. Dichter und Philosophen der Stoa sehen im Gewissen die Verbindung des Menschen mit einem ordnenden Weltgeist: ein Wissen um das Gute -oder bei Ovid als „Gott in uns". Jedenfalls dürfte es die Überzeugung vieler Völker sein, daß der Mensch eine Verpflichtung gegenüber einer höheren Ordnung besitzt und über das Gewissen darum weiß. Den Offenbarungstexten der Bibel liegt ein religiöses Gewissensverständnis zugrunde. Das Gewissenserlebnis wird in Beziehung zum persönlichen Gott gebracht, dessen unbestechlichem Richterspruch der Mensch unterliegt. Adam und Eva verstecken sich nach dem Sündenfall, werden aber zur Verantwortung gerufen (Gen 3,8-13). Der Brudermörder Kain erfährt die Gewis-