Dietmar MM 431 lassen. Dietmar Mieth pBUfert jedenfalls dabei die Wortschöpfung „Minima rm-ralia" des Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorho (1903-1969) abwandelnd -, dafür, dass „in rebus morallbus" jnitia moraiia" - sanfte Moralpredigten also - „dsr christlichen Ethik besonders eigen sein" (Vorwort) sollten. Dietmar Mieth setzt euch und gerade da auf „sanfte" Töne - der Ton macht nämlich nicht nur die Musik, sondern auch dte Ethik -, wo die Dinge des Gewissens zu besprechen sind. Titel seines die Dinge auf den Punkt bringenden Essays: „Die Herausforderung des Gewissens: Mündigkeit und Verantwortung7' [ursprünglich in: Scnermav», Rudolf (Hrsg.)- Wider den Fundamen-taiismus. Kein Zurück hinter das II. Vatikanische Konzil, Bad Sauerbivnn 1990, 105-109] der gleich deutlich macht, welche Implikationen der Gewls-xr.shdgriff Dietmar Mieths hat. Dank Rainer Werner FaBhinders Film „Anyst essen seete »of ist wieder einmai deutlich geworden, so Dietmar Mieth, dass Angst in allen Dingen des Lebens, Denkens und Fühlens ein schischier Berater ist. In den Dingen der Ethik und des Ethos ist das gewiss nicht anders, Da gilt ebenfalls: „Angst essen Seele auf". Was soll die Welt mit einet seelenlosen Ethik und einem seelenlosen Ethos anfangen? Sie kann damit nichts anfangen, denn jede Ethik, jedes Ethos braucht nicht nur ein bisschen Seeie. Ein angstbesetztes Gewissen ist auf alle Fälle nicht das Gewissen, auf das Ethik und Ethos zahlen können. Das angstbesetzte Gewissen kennt nur den gebückten, nicht den „aufrechten Gang" (Erhst Bloch), und dass der Wille zum GeYffssen als Instanz von Mündigkeit und Verantwortung im Bannkreis der Angst ntcht recht gedeihen kann, Ist Zu wahr, um schön zu sein. Diesen und anderen spannenden Gedenken geht der Tuhingc.i christliche t'thiker nach. Dieser weiß natürlich, dass das mit dem Gewissen immer so ist: die Lehre ist das eine, das Leben das andere. Leben und Lehre da zur Deckung bringen ist des Ethikers heiligste Pflicht. Den Weg des Gewissens lehren kann nur der, der den Weg des Gewissens lebt Das eine lässt sich nicht vom anderen abkoppeln. „Wenn ich nicht bald so lebe wie ich lehre, werde ich bald so lehren wie ich lebe", drückt DietmarMleth gekonnt die richtige Losung der Einheit von Lehre und Leben und Leben und Lehre einmal aus. Woher dieser das weiß? Das kann den Tübinger Ethiker nur sc-ln Gewissen haben wissen lassen. Wetten, dasSi? Die Herausforderung des Gewissens: mündigkeit und verantwortung Obwohl das Wort „Gewissen" in Gese schaft und Kirche inflationär gebraucht wird, gehört es zu den Worten, über die man am wenigsten nachdenkt. Für die einen ist das Gewissen nichts anderes als das persönliche interes.se - sie brauchen also das Wort „Gewissen" nur, mm ihrem Interesse Gewicht zu geben. Für dl« anderen ist das Wort „Gewissen" nur ein anderes Wort für Ge- h£rsam - sie brauchen das Wgrt „Gewissen" nur, wenn sie den Gehorsam loben und den Widerspruch tadeln wollen. In Wirklichkeit kommen beide Typen ganz gut ohne Gewissen aus. Wir sollten also vorsichtig sein, wenn «am Gewissen die Rede ist. Politikůr reden vielleicht vom Gewissen und denken an Strategie - die Moral als Waffe im Kampf um die Macht. Kirchliche Obere machen vielleicht ihr Gewissen geltend, wenn sie sich auf ihre Vorurteile Zurückziehen. Dazu ist zu sagen: Oas Gewissen macht man nicht geltend, wenn es einem In den Kram paGt. Das Gewissen macht Sich selber geltend, oft wenn es uns gar nicht in den Kram paflt Was das Gewissen ist, ist uns nicht Im letzten verfügbar. Wir wissen, daß es ein Gewissen gibt, aus der Erfahrung seiner Widerfahmis. Diese Erfahrung hört nicht auf. Daraus lernen wir, daß das Gewissen im Werden ist, einen Prozeß darstellt, der uns zugleich vorgesehen und aufgegeben ist Das'Ist ähnlich in den Maximen unserer Moral wie in den Bekenntnissen unseres Glaubens. Es handelt sich um letzte Überzeugungen, von denen Paulus sagt: „Alles, was nicht aus tGlaubens-}ÜberzeugLrny gescheht, ist Sünde" (Rom 14,33). Der bekannte Sczialphilosoph Jürgen Habermas sagt es ganz ähnlich: „Moralisch gut ist, wer unter StreBsituütionen seine moralischen Maximen aufrechterhalten kann." Mammen sind letzte Grundsätze der Vernunft und des Glaubens in Sachen der sittlichen Richtigkeit, Sie sind, um eine von Alfons Auer sprachlich präzis gefaßte Unterscheidung zu gebrauchen, ^personal angeeignete'1 im Gegensatz zu „sozial aufer-legtej^ättlLCflkeii. wlr slncl sie «erbst vor dem Anspruch unserer eigener: Personwürde. Ein sozial gesteuertes Regelgewissen nder ein i)ber-Ich zerstören das Gewissen, sie bauen es nicht auf, Ebensowenig tut dies die aus Interesse und Neigung stammende Willkür Gewissensfreiheit steht in unseren Verfassungen, die letzte Verbindlichkeit des Gewissens gehört Zur großen Tradition de.- chiisti chen ELhik. Aber was heißt das, und wann wjrd das konkret? 1, Verantwortung Wenn das Gewissen weder Gehorsam ist noch Willkür, dann kommt ihm „Verantwortung"- am nächsten, denn rn ihr sind Aufmerksamkeit und Gehorsam, Freiheit und Pflicht In einer guten Synthese zusammengefaßt Syn-eidesjs, con-scientia, Ge-wisscn - die Vorsilbe stehl im Griechischen, Lateinischen und im Deutschen für dieses „zusammen". Wir brauchen „Gewissen" mindestens in dreifacher Hinsicht. Erstens - und das ist eher selten - in der Extrem Situation, Wer sittlich richtig handelt, obwohl er Angst hat (um Sem LeSen, um seinen Ruf, um seinen Besitz}, obwohl er sich selbst dabei riskiert, der wird mit seinem Gewissen, als Ruf „zur Sarge um das eigene Sefesf (Heidegger), zu moralischer Selbstachtung und Hin- 432 Dietmar Mfeui gabetahigkeit konfrontiert. Niemand kann ihm diesen Ruf und diese Antwort, also die ^Verantwortung" abnehmen. Zweitens brauchen wir Gewissen als letztes praktisches Urteil. Obwohl uns die von uns selbst frei anerkannter Normen, manchmal auch die uns problematisch erschein enden Normen, Orientierung geben und obwohl wir unser Gewissen Im Aütag meist fraglos danach ausrichten, muß uns doch klar sein: Normen gelten ebensowenig wie die grammatischen Regeln In der Sprache Für alle möglichen und denkbaren Fälle. Das Gewissen übernimmt hier die letzte Diagnose und die Anwendung des moralischen Formates der Person, ihrer sittlichen Vernunft, auf das einzelne Tun, Manchmal müssen wir auch ein Gesetz, im Sinne der größeren Gerechtigkeit interpretieren, die es nur unzulänglich zum Ausdruck bringt. Drittens brauchen wir das Gewissen als Bedingung der richtigen sozialen Institution, sei es Gemeinschaft („Communio")' oder Gesellschaft („Societas"], Das ist vielleicht die große humanistische Erkenntnis der letzten Jahrhunderte, der Aufklärung („Mündigkeit") und der politischen Demokratie („Befreiung"). Ohne Respekt vor dem Gewissen - im Sinne der letztenr keinem Gemeinwohl unterzuordnenden personalen Verantwortung - muß jede Gemeinschaft Oder Gesellschaft zu einem gefräßigen totalitären System verkommen, das seine Untertanen mit äußerem Druck und innerer Qual (oder Lust!) anpassungsfähig und verfügbar .macht. In der Religionsfreiheit, im Minderheitenschutz, ja auch im zivilen Ungehorsam wird die Personwürde im Gewissen und seiner Verantwortung zu einer konstruktiven sozialen Institution. Dleser öffentlich-strukturellen GewissensFunktion kann sich kein System entziehen, das sich am Kriterium der christlichen Sorialethlk ausrichtet: Die Würde der Person girr, vor dem Recht der strukturen. Auch die Kirche kann sich diesem Anspruch, den sie selbst erhebt, nicht entziehen, theologisch schon deshalb nicht, weil sie den Zusammenhang von Menschwerdung und Menschenwürde behaupten muH. Das Gerede für und wider die ^Demokratisierung" greift hier nicht. Die Kirche brauchte um ihre Identität als gott-men sc hl Lehes Hellszelchen und als „Communis" nicht zu bangen, wenn sie den Menschen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zubilligt, aus der Gewissens Verantwortung In Glaubens- und Sittensachen mitzudenken, mitzureden, mitzuhandetn. 2. Angst vor „Demokratisierung"? In Jedem Fall bleibt das praktische Urteil des Gewissens als letzte Instanz. Es kann nicht schlechthin durch einen authentischen Lehrentscheid präjudlzieft werden, Auch an einen Erfahrungsgrundsati ist zu erinnern: je ellgemeiner ein Gesetz, um so offener in der Anwendung; je kasuistischer die Gesetze, um so großer die Lücke zwischen ihnen. In jedem Fall läßt sich das Judicium ultimum practicum", das letztinstanzliche praktische Urteil des Gewissens 1 nicht ausschalten, ohne zugleich eine große katholische Tradition ai Bischof Ludwig Averkamp uon Osnabrück har m der Diskussion um die „K. ner Erklärung" mit Recht darauf hingewiesen, daö das Gewissen kein „Alt< nativbegriff zur Norm ist und daß es zu seiner Bildung der Orientierung t darf Er hat jedoch auch „in Anwendung einer alten Lehre der Moralthsoloi festgestellt": Wenn Jemand nach gründlicher und ehrlicher Auseinandersetzung mk eir Norm zu einem andL-rsgeartEten Gewissensurteil kommt, dann ist dieses Gew sensurii-ii fpr ihn bindend,- auch wenn es irrig sein sollt* ... wenn ein Christ 3. eingehend und ehrlich mit diesen Fragen, mit der Lehre und mit ihrer P gründung auseinandergesetzt hat und nach persönlichem Studium und uttx\\ einer anderem Entscheidung kommt, dann - 50 sagt c e königsteirier E-rklärunc i«t dies zulässig, weif es sich bei dem Verhöt bestimmter Metroden der Em fängrilsvernüfung nicht um eine endgültige Lehrentscheid ung handelt. Diese Anwendung eines eigenen Lehrschreibens der deutschen Bische „zum Umgang mit Äußerungen des Lehramtes" sei „bis heute zweifellos gn tig". 2ur Sorge vatikanischer Stimmenj die Theofogen könnten .einen Irrtum das moralische Gewissen der Eheleute hineintragen", sind die katholisch. Christen seihst zu befragen, Ein Teil van Ihnen, der der Kirche lau und relat gleichgültig gegenübersteht, bemerkt eher die Stimme des Papstes; thec-l gische Aussagen interessieren diesen Teil kaum. Ein anderer Teil, der in g schlo5sener und autoritativer Käthofizität zu leben wünscht, wird durch the logische Kritiken nicht in seinem Sexual-Verhalten berührt. Jene KatholikH aber, die meist zugleich engagiert und kritisch sjnd, wissen mit dem prak< sehen Urteil des Gewissens umzugehen. Ore Rede von der „Irritation d( Gewissens11 Ist oft nur eine Angst vor der Mündigkeit. Theoretisch könnte neben dem außerordentlichen Lehramt des Papstr auch das ordentliche Lehramt aller Bischöfe mit dem Papst zu Lehren n Anspruch auf Jrtfallibilität" gelangen. „Humanae vitae11 gilt zwar aJs a> thentisch, aber nicht als infalihel, So wurde die Enzyklika auch 1968 « Kardinal Lamöruscini im Auftrag Pauls VI. vorgesteJIt. Manche Tendenz! römischer Äußerungen weisen darauf hin, daß man diese Ausgangslage & ders sieht oder sehen möchte. Vor allem die letzte Instruktion der Glat benskongreuatlon scheint eine Enzyklika vorzubereiten, welche die Gebu tenregelung5norm In die Nahe einer Glaubensdefinition rückt und das Prc blem der öffentlichen theologischen Diskussion strikt entzieht. Zur Verkündigung authentischer Lehren sei an Karl Rahners kommend zur Frage der „rechten Erhellung und angemessenen Darstellung" der Wah 434 Dietmar Mitth heit (Lumen gentium 25) erinnert; „Das ist als sittliche Pflicht der Träger des Lehramtes zu verstehen ... Die apta media [geeigneten Mittel] bestehen jn einem immer neuen Umgang mit der Schrift, mit der theologische«! Arbeit.., und deren freier und unbefangener Diskussion [Hervorhebungen von mir], in dem lebendigen Kantakt mit dem sensu fidei (Oaubünsslnn} der Gesamtheit der Glaubigen, die im Glauben nicht als ganze irren kann, im ökumenischen Dialog, in der Beachtung der' .Hierare-.c de1 '.vrihi,-iii.in Gruben:;' ... in einem offenen und mutigen Dialog mit der geistigen und gesell schaftliehen Welt der eigenen Zeil ... in einen sinnvollen Beecks chtigen der .öffentlichen Meinung in der Kirche1," Daß es auch eine Pflicht der Theologen zur sorgfältigen Interpretation authentischer Lehren gibt, wird gegenwärtig zur Genüge betont - dazu gehört aber auch die sDnglltiqci \\ Vergabe der Art der Uehr-autorltät, Ihrer geeigneten Mittel und ihrer Grenzen. 3. Angst vor Mündigkeit Die Feinde des Gewissens heißen vermessenheit und Angst. Finden wir im .Gatteskomplex" moderner Mentalität oft Verm essen helt, so finden wir Obrlgkeltsslnn der Bürger und im Kleinglauben der Christen, vor allem in der Wagonhurgmenralirpt Ihrer KirchenleiCurig, oft die nachte Angst, die in Aggression gegenüber den Regungen der Mündigkeit umschlägt. An-gst erzeugt Angst - „Angst essen Seele auf" [Faßbinder). Es gibt nur ein Heiept gegen die Vermessenheit: die Verantwortung. Es gibt nur ein Rezept gegen die Angst: die Verantwortung. Und Gewissen kann nur entstehen, wo Mündigkeit und Mitverantwortung vorausgesetzt und vorweggenommen werden, wo sie noch nicht „da" sindj wo es den Ansehein hat, als fehlten Sie, und wo Sie unbequem Sind. Wer das Gewissen Will, muß Bedingungen schaffen, die den aufrechten Gang ermöglichen. Dietmar Mietm 1 TEXT 9: Johannes Gründel Anspruch und Autorität des Gewissens Hinführung Irr dem Band Jm Interesse der Suche", in dem Erzählungen des russischen Schriftsteilers Aicvanoei Scischehziyh f* 1918) gesammelt sind [Einmalige Sonderausgabe in der Reihe der „Bücher der Neunzehn', veröffentlicht im Marz 1970 als Band 183 im Hermann Luchterband Verlag GmbH, Oarmstadt und Neuwied], findet sich unter anderen auc.fr diese kleine Erzählung: Scharik Bei uns im Hof hält ein Junge den kleinen Kdter Schänk als Kettenhund, van klein auf Eines Tages brachte ich dem kleinen Hund warme, duftende Hühnerknochen. Gerade hatte der Junge das arme Ketkhen losgemacht, um es etwas im Hof laufen zu lassen. Der Schnee ist weich und tief. Scharik Sauste in Sprüngen wie ein Hass, ist einmal auf den Hinterbeinen, dann wieder auf den Vorderpfoten, aus einer Ecke des Hofes in die ändere - von einer Ecke zur anderen - die Schnauze im Schnee. Er lief auf mich Zu, zottig wie er wer, umsprang mich, beschnupperte den Knochen und - fort war er wieder, bis zum Bauch im Schnee. Eure Knochen, die brauche ich nicht - geht mir nur Freiheit! Einmal angenommen, es sei mit dieser kleinen Erzählung so wie mit allen guten Erzählungen, dann heißt das: auch dieser „Scharik" betitelten Erzählung aus der Feder des russischen Schriftstellers Ai.evAVPO. SOLSChEeuzw {* 1$18) kommt es auf den „Effekt des Tua fahula narratur, Tua res agitur" (Emsr Bloch) an. „Scharik" - das bist Du!" will der Erzähler Alexander Solschenizyn sagen. Die Geschichte des Kettenhundes „Scharik" - das ist Deine Geschichte! Kein anderer Fall als der Deine ist der Fall der Erzählung „Scharik". Du bist dieser Kettenhund „Scharik:'. Es ist in der Tat SO, als walle die Erzählung „Scharik" dadurch, dass sie dem Einzelnen anbietet, einmal in die Haut eines Kettenhundes ZU SChlUpfen, diesem sagen- Denk doch einmal nach' Bist nicht auch Du in Deinem Leben angebunden an die reißfeste Kette, die Dich ein „Hundeleben' fuhren lasst? Gäbest Du nicht altes - auch die schönsten „Knochen"- des Mundelebens", das Du führst - dafür, gäbe Dir jemand „nur Freiheit1"? Die Erzählung „Scharik" ist eine moralische Geschichte - nicht nur, weil da keine vordergründige, aber eine hintergründige „Moral von der Geschieht-