____ Arthur Schopenhauer 247 1/5 Menschenfurcht, 1/5 Deisidämonie, 1/5 Vorurtheil, 1/5 Eitelkeit und 1/5 Gewohnheit Man beruft sich, der skeptischen Ansicht gegenüber, zunächst auf das Gewissen. Aber auch gegen dessen natürlichen Ursprung werden Zweifel erhoben. Wenigstens giebt es auch eine conscientia spuria [ein unechtes Gewissen], die oft mit demselben verwechselt wird. Die Reue und Beängstigung, welche Mancher über Das, was er gethan hat, empfindet, ist oft im Grunde nichts Anderes, als die Furcht vor Dem, was ihm dafür geschehen kann. Die Verletzung äußerlicher, willkürlicher und sogar abgeschmackter Satzungen quält Manchen mit inneren Vorwürfen, ganz nach Art des Gewissens. So z. B. liegt es manchem bigotten Juden wirklich schwer auf dem Herzen, daß, obgleich es im zweiten Buch Mose, Kap. 35,3, heißt: „Ihr sollt kein Feuer anzünden am Sabbathtage in allen euren Wohnungen", er doch am Sonnabend zu Hause eine Pfeife geraucht hat. Manchen Edelmann, oder Offizier, nagt der heimliche Selbstvorwurf, daß er, bei irgend einem Vorwurf, den Gesetzen des Narrenkodex, den man ritterliche Ehre nennt, nicht gehörig nachgekommen sei: dies geht so weit, daß Mancher dieses Standes, wenn in die Unmöglichkeit versetzt, sein gegebenes Ehrenwort zu halten, oder auch nur besagtem Kodex bei Streitigkeiten Genüge zu leisten, sich todtschießen wird. (Ich habe Beides erlebt.) Hingegen wird der selbe Mann alle Tage leichten Herzens sein Wort brechen, sobald nur nicht das Schiboleth „Ehre" hinzugefügt war. - Ueberhaupt jede Inkonsequenz, jede Unbedachtsamkeit, jedes Handeln gegen unsere Vorsätze, Grundsätze, Ueberzeugungen, welcher Art sie auch seien, ja, jede Indiskretion, jeder Fehlgriff, jede Balourdise [Tölpelei] wurmt uns hinterher im Stillen und läßt einen Stachel im Herzen zurück. Mancher würde sich wundern, wenn er sähe, woraus sein Gewissen, das ihm ganz stattlich vorkommt, eigentlich zusammengesetzt ist: etwan aus 1/5 Menschenfurcht, 1/5 Deisidämonie, 1/5 Vorurtheil, 1/5 Eitelkeit und 1/5 Gewohnheit: so daß er im Grunde nicht besser ist als jener Engländer, der geradezu sagte: I cannot afford to keep a conscience (ein Gewissen zu halten ist für mich zu kostspielig). - Religiöse Leute, jedes Glaubens, verstehn unter Gewissen sehr oft nichts Anderes, als die Dogmen und Vorschriften ihrer Religion und die in Beziehung auf diese vorgenommene Selbstprüfung: in diesem Sinne werden ja auch die Ausdrücke Gewissenszwang und Gewissensfreiheit genommen. Die Theologen, Scholastiker und Kasuistiker der mittlem und spätem Zeit nahmen es eben so: Alles was Einer von Satzungen und Vorschriften der Kirche wußte, nebst dem Vorsatz es zu glauben und zu befolgen, machte sein Gewissen aus. Demgemäß gab es ein zweifelndes, ein meinendes, ein irrendes Gewissen u. dgl. m., zu deren Berichtigung man sich einen Gewissensrath hielt. Wie wenig der Begriff des Gewissens, gleich andern Begriffen, durch sein Objekt selbst festgestellt ist, wie verschieden er von Verschiedenen gefaßt worden, wie schwankend und unsicher er bei den Schriftstellern erscheint, kann man in der Kürze ersehn aus Stäudlins „Ge- 248 Martin Heidegger schichte der Lehre vom Gewissen". Alles dieses ist nicht geeignet, die Realität des Begriffes zu beglaubigen, und hat daher die Frage veranlaßt, ob es denn auch wirklich ein eigentliches, angeborenes Gewissen gebe? Arthur Schopenhauer Text 4: Martin Heidegger Ruf der Sorge Hinführung „Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege. Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch es scheint nur so. Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein." Diese Zeilen, die die Ouvertüre zu „Holzwege", der 1950 in Frankfurt am Main erschienenen Schrift des Philosophen Martin Heidegger (1899-1976) bilden, zeigen an, dass dessen ganzes Interesse dem „Scivias" (Hildegard von Bingen), dem „Wisse die Wege" galt. Für den Philosophen aus dem Schwarzwald sind Wege natürlich immer Denkwege, die begangen sein wollen, und so macht sich der Philosoph auf den Weg des Denkens, weiß sich denkend unterwegs und denkt daran, andere auf den Weg des Denkens zu schicken. Denn, so spricht Martin Heidegger, Denker haben keine Lehre, sie „geben zu denken". Der Theologe Heinrich Ott (geb. 1929) hat das begriffen, denn er schreibt in seinem Beitrag zu „Durchblicke", der Festschrift zum 80. Geburtstag Martin Heideggers, die 1970 in Frankfurt am Main erschien, dieses: „Man lernt ... von Martin Heidegger nicht, indem man von ihm „Lehrsätze" oder „Lehnsätze" übernimmt, sondern indem man im Gespräch mit ihm die Strenge und Geschmeidigkeit im ,Handwerk des Denkens' einübt." Martin Heidegger wusste: Wer zu denken gibt, schickt auf den Weg des Denkens. Dass alle Wege des Denkens dann auf die Spur des Gelingens und nicht auf die Bahn des Scheiterns kommen, daran ist, so alles Denken Weg ist, alles gelegen. Die Ursprünglichkeit des Fragens, das „die Frömmigkeit des Denkens" ist, bringt das Denken auf guten Weg. Fragend ist das Denken ursprünglich unterwegs, und wie dies praktisch aussieht, zeigt Martin Heidegger in seinem Edmund Husserl (1859-1938) „in