19& Václav Havel ' :-• Havel 199 denkt sich Vaclav Havel, ich Steige in der Nacht in den Wagen einer Straßenbahn e>nr in rf™ niemand, nicht einmal der Schaffner ist. Gleich ist dann da die Qual der Wahl: Zahle ich das Fahrgeld oder zahle ich das Fährgeld nicht? Tue ich das, erwartet mich tiein Lob, denn es ist niemand da, der mich lohen könnte; tue ich das nicht, erwartet mich kein Tadel, denn es ist niemand da, der mich tadeln konnte. Was drängt mich dann im angenommenen Fall, so oder so zu handeln, den Fahrpreis iu zahlen oder nicht ZU zahlen?, fragt sich Vaclav Havel und deutet Sich „die Struktur dieses Dramas" so: ____ ich glaube, daß jedem duS eigener Erfahrung offensichtlich ist, daß es hier um afiwfl Dialog geht Den Dialog meines Jen' als des Subjektes seiner Freiheit (ich kann belaufen oder auch nicht), sslner Retfex'vn t'C" wäge afi, was ich tun soft) und setner Wahl (bei&hte Ich oder nicnl) mit etwas, was auQeih$ib dieses eigentlichen Jch' ist, was von ihm getrennt und nicht mit itim Identisch Ist. Dieser .Partner' jedoch steht nicht neben mir; ich kann !hn nicht sehen, ich kann Ihm zugleich fadOCti fleht aus den Augen verschwinden, Sein &ÜCk und seine Stimme begleiten mich, wo auch immer ich bin; ich entgehe Ihm nicht, noen küfWl ich ihn täuschen: er weiß alles, ist es die sogenannte .innere Stimme', ist es mein ,Öber-!ch\ ist es mein .Gewissen'? Sicher, wenn jtn dieses Rufen zur Verantwortung höre, bore ich es in mir Das jedoch ändert nichts deren, d.ai) drese Stimme sich an mich wendet und mit mir In ein Gesprach eintritt, daB sie also an mein .Ith' - von dam ich hoffe, daß es nicht schvophren Ist - von außen herantritt" Dieses Beispiel, das ihm da in den Sinn gekommen Sei, sagt Vädav Havel selbst, sei „ein triviales Beispiet", das sc trivial - recht besehen - nun doch mehr ist Lehrt nicht die Weisheit der Bibel, wäre gegen Vaclav Havel einzuwenden, dass das Im Leben nie und nimmer anders ist, (fass der und nur der, der „in den kleinsten Dingen zuverlässig Ist, ... es auch in den großen" ist, und dass der, der „bei den kleinsten Dingen Unrecht tut, ... es auch bei den großen" (Lk 16.10) tut?! Keine Frage: Vaclav Havel hätte gegen diesen Em^ wand nicht nur nichts einzuwenden, sondern sähe auch weder größere noch kleinere Schwierigkeiten dabei, jedem, der es wissen will, zu zeigen, dass der Standpunkt des Jesus aus Nazareth auch der des Vaclav Havel aus Prag sei. Das Thema Treue In den großen Dingen, die- Gewissens fragen sind, hat den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Im Jahre 1989 nämlich nicht minder beschäftigt als das Thema Treue in den kleinen Dingen, die Gewissens/ragen Sind, Dass dem so und nicht anders Ist, zeigt dis Rede, die Vaclav Havel am 14. Mal 1984 anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an seine Person seitens der Universität Toulouse zum Thema .Politik und Gewissen" gehalten hat. Der erste Präsident der Tschechischen Republik (von 1993-2003} sprach damals am Schluss seiner Rede seine politische Utopie aus, der einen baldigen Topos, einen baldigen Ort m der politischen Landschaft der Weit zu schaffen die schiechteste politische Initiative aus seiner Sicht der „rerum půHtScarum' gewiss nicht Ist. Seine politische Utopie, die - daran zweifelt Václav Havel nicht - den Einsatz der besten Kräfte lohne ist in einem Satz gesagt. Der lautet dann so: „ ... aus einem von den Technologen der Macht heute SO verlachten Phänomen wie dem menschlichen Gewissen eine reale politische Kraft... machen". Ein Satz, der SO lautet - Kann man den laut genug sagen? Oas kann man wohl nicht! - ist die Antwort des „antipoHtlsche Politik' machenden Politikers Vaclav Havel, denn diese Politik macht nicht die Macht, sondern das Gewissen. Politik und Gewissen „DMh, .antipolitische Politik' ist möglich. Politik ,vcn unten'. Politik des Menschen, nicht des Apparates. Politik, die aus dem Herzen kommt, nicht aus der These. Es ist kein Zufall, dafJ diese hoffnungsvolle Erfahrung gerade hier gemachl werden muß. auf jertam trüben Riff, Unter der .Herrschaft des Tages' muB mar bis zum Grund des Brumms r nar^tn iu::r um iiie Hii'i iL? in sehen." (1) [-) Es ist paradox; Der Mensch der Ära. der Wissenschaft und Technik meint, das Leben 7U verbessere weil er imstande ist, die Komplexhelt der Natur und die allgemeinen Gesetze ihres Funktionierens ZU verstehen und auszunutzen -und gerade vc-n dieser Komplexheit und von diesen Gesetzen Wird er tragisch uliL-j-rumr-lt jnc Joe-Iistet. Er eise—_e, c e Natur a: fir-drtmn .nc ?u beherrschen - das Ergebnis i£t, daß er sie zerstört und sich aus ihr ausgliedert. Was aber erwartet den „Menschen außerhalb der Natur"? Ist CS doch gerade die modernste Wissenschaft, die feststellt, daß der menschliche Körper eigentlich nur eine besonders frequentierte Kreuzung van Milliarden organischer Mi-krakörper und ihrer unvorstellbar komplizierten gegenseitigen Kontakte und Einflüsse ist, die zusammen Jenen unglaublichen MegaOrganismus bilden, der „Biosphäre'" genannt wird und von dem unser Planet umgeben ist. Nicht die Wissenschaft ab solche ist schuld, sondern der Hochmut des Menschen der wissenschaftlichen Ära. Der Mensch ist eben nicht Gott, und Gott zu spielen rächt sich grausam. Er hat den absoluten Horizont seines Beziehen; aufgelöst, seine personliche, „vor-objektive* Erfahrung der Welt und sein persönliches Bewußtsein abgelehnt und das Gewissen irgendwo in das Badezimmer seiner Wohnung als etwas bloß „Intimes" verjagt, das niemanden was angeht; er hat Sich seiner Verantwortung als einerjrIllusion der Subjektivität" entledigt - und anstelle all dessen Installierte er die - wie sich heute zeigt - von allen bisherigen gefährlichste Illusion: die Fiktion eiriervom konkreten Menschsein befreiten Objektivität, das Konstrukt eines rationalen 2DD v,-. lev i r Verständnisses des Alls, ein abstraktes Schema angeblicher „historischer Notwendigkeit" und als Gipfel all dessen die Vision eines wissenschaftlich berechenbaren und rein technisch erreichbaren „Wohls aller11, das nur in Forschungsinstituten ausgedacht und In Industrie- und Bürokratiefabriken In die Wirklichkeit umgesetzt zu werden braucht. Daß dieser Täuschung Millionen Menschen in wissenschaftlich geleiteten Konzentraticmsfagem Zum Opfer fallen - das quält diesen „modernen Menschen" nicht (soweit er sich nicht zufälligerweise selbst dort befindet und dieses Milieu Ihn nicht drastisch In seine Lebenswelt zurückwirft): das Phänomen des persönlichen Mitleids mit dem Nächsten gehört doch in jene aufgehobene Welt der persönlichen Vorurteile, die der WISSENSCHAFT, OBJEKTIVITÄT, HISTORISCHEN NOTWENDIGKEIT, TECHNIK, dem 5YSTĚM und APPARAT welchen muBte. Sie sind abstrakt und anonym, immer zweckmäßig und deshalb immer a priori unschuldig. Und was die Zukunft angeht? Wer sollte sich persönlich dafür interessieren oder sich gar persönlich damit quälen, wenn in jenes Kabinett des Intimen bzw. geradewegs ins Reich der Märchen auch die Betrachtung der Dinge sub specie aetemitatis abtransportiert worden ist! Soweit der heutige Wissenschaftler daran denkt, was in zweihundert Jahren sein wird, sc nur a\s persönlich unbeteiligter Beobachter, dem es im Grunde gleichgültig ist, ob er den Metabolismus einer Wanze, Funksignale der Pulsare oder die Erdgasvorrate des Planeten untersucht. Und der moderne Politiker? Der hat doch überhaupt keinen persönlichen Grund mehr, sich mit solchen Dingen zu befassen, besonders wenn das - falls er in einem Land wirkt, in dem Wahlen existieren - seine Chance In ihnen bedrohen sollte! (2) Ein tschechischer Philosoph, Vaclav Belohradskyr hat überzeugend dargdngl. daß der rationalistische Geist der modernen Wissenschaft auf einem abstrakten Vernunftbegriff beruht und der Voraussetzung einer unpersönlichen Objektivität, neben seinem Vater in der Naturwissenschaft - Gaiilei - auch seinen Vater in der Politik hat; es ist MacHavelli, der als erster [wenn auch mit einem Anflug bösartiger Ironie) die Theorie der Politik als einer rationalen Technologie der Macht formuliert hat, Man kann sagen - trotz aller verschlungenen historischen Peripetien -, daß gerade hier der eigentliche Ursprung des medemen Staates und der modernen Politik zu suchen ist, also wiederum in einem Augenblick, in dem der menschliche Verstand Sich vom Menschen zu „befreien" beginnt, von seiner persönlichen Erfahrung, seinem persönlichen Gewissen und also auch von dem, worauf sich in den Dimensionen der Lebenswelt jede Verantwortung einzig bezieht, nämlich vx>n seinem absoluten Horizont. Und wie der neuzeitliche Wissenschaftler den konkreten Menschen als Subjekt des Erlebens der Welt in Klammern setzt, so setzt auch immn- deutlicher der moderne Staat und die moderne Politik den Menschen in Klammem. Dieser Prozeß der Anonymisierung und Entpersönlichung der Macht und ihrer Reduktion auf die bloße Technik der Leitung und Manipulation hat natürlich tausenderlei Gestalt, Vananten und Ausdrucksfbrmen; mal ist er verborgen und unauffällig und dann im Gegenteil ganz Offenbar, maf ist er schfeichend und seine Wege Sind: raffiniert verschlungen, dann wieder Ist er fast brutal geradlinig. Im Grunde Jedoch ist es eine einzige und universelle Bewegung, Es ist eine wesenhafte Dimension der ganzen modernen Zivilisation, erwächst unmittelbar 3uS ihrer geistigen Struktur, ist mit ihr in tausenderlei verzwickten Wurzeln verwachsen und von ihrem technischen Charakter, der rlerdenhaftigkelt und Konsumorientierung eigentlich nicht mehr wegzudenken. Die Herrscher und Führer als mit sich selbst identische Persönlichkeiten mit einem konkreten menschlichen Gesicht, immer noch irgendwie persönlich verantwortlich für ihre guten Teten oder Verbrechen - nehmen sie nun ihren Platz auFgrund dynastischer Tradition, des Volkswjllens oder einer siegreichen Schlacht oder Intrige ein -, werden in der modernen Zeit vom Manager, Bürokraten, Apparatschlk, Fachmann für Führung, Manipulation und Phrasen abgelöst, dem entpersönlichten Durchschnitt VOn Macht- und Funktionsbeziehungen, einem Bestandteil des staatlichen Mcrha:iismus, in seine vorgegebene Rolle interniert, das „unschuldige" Instrument der „unschuldigen" anonymen Macht, legitimiert von Wissenschaft, Kybernetik, Ideologie, Gesetz, Abstraktion und Objektivität - also von allem anderen als der persönlichen Verantwortung forden Menschen als Pereon und Wachsten. Der moderne Politiker ist transparent: hinter seiner eifrigen Maske und künstlichen Sprache erblicken wir keinen Menschen, der mit seiner Liebe, Leidenschaft, Vorliebe, persönlichen Meinung, Haß, Mut oder Grausamkeit in der Ordnung der Lebenswelt verwurzelt ist; das alles hat auch er als PrivatiSSimum in seinem Kabinett belassen; wenn Wir dort etwas sehen, dann nur einen mehr oder weniger fähigen Technologen der Macht. Das System, die Ideologie und der Apparat haben dem Menschen - dem herrschenden wie dem beherrschten - das Gewissen, den natürlichen Verstand und die natürliche Sprache enteignet und damit auch sein natürliches MenschseJn; die Staaten werden Maschinen ähnlich; Menschen verwandeln sich in statistische Zusammenfassungen von Wählern, Produzenten. Konsumenten Patienten, Touristen oder Soldaten; Gut und Böse - als Kategorien der Lebenswelt und also Überreste der Vergangenheit - verlieren In der Politik ihnen realen Sinn; ihre einzige Methode wird der Zweck und das einzige Maß der objektiv verifiZierbare und sozusagen mathemafeerbare Erfolg. Die Macht ist a priori unschuldig, denn sLe erwächst nicht aus einer Welt, in der die Worte Schuld und Unschuld irgendeinen Inhalt haoen. (...)