Gewissen Eine problemindikatorische Skizze Bernhard Sill „Jedoch kehre dich von dem Bösen und tue das Gute, suche den Frieden und halt ihn ständig! Mehr als alle irdischen Dinge liebe ein reines und lauteres Gewissen!" Johannes von Tepl „Jeder Mensch höre auf sein Gewissen! Das ist möglich. Denn er hat eines." Gesagt hat diese Sätze der bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen beliebte Dichter Erich Kästner (1899-1974)1, der zum Thema „Moral" bekanntlich dies zu bedenken gibt: „Es gibt nichts Gutes außer: Man tut es."2 Wie sich die eigene Gewissenserfahrung deuten lässt, beschäftigt den Menschen bleibend. Denn es stellen sich eine ganze Reihe Fragen, die beantwortet sein wollen. So etwa diese Fragen: ♦ Wessen Stimme höre ich, wenn ich die Stimme meines Gewissens höre? ♦ Wem folge ich, wenn ich meinem Gewissen folge? ♦ Worauf verlasse ich mich, wenn ich mich auf mein Gewissen verlasse? ♦ Welche Gewissheit kann ich im Urteil meines Gewissens finden? ♦ Was bedeutet es, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln? Von Komplexität und Perplexität Sich so zu fragen geben zu lassen heißt wissen: „Das Gewissen ist ein komplexes Phänomen."3 Denn sobald man sich daran macht, dieses Phänomen, das sich Gewissen nennt, in den Griff zu kriegen, es auf den Begriff zu brin- KÄSTNER, Erich: Die vier archimedischen Punkte. In: Das Erich Kästner Lesebuch. Herausgegeben von Christian Stich, Zürich 1978, 265-268, 266. 2 A. a. O. 5. Böckle, Franz: Zur Kompetenz des Gewissens, in: Ders.: Ja zum Menschen. Bausteine einer Konkreten Moral. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Gerhard Höver, München 1995, 43-53, 46. 16 Gewissen - Eine problemindikatorische Skizze gen, zeigt sich immer wieder, wie komplex dieses Gewissen genannte Phänomen doch eigentlich ist. Ja, die Zusammenhänge, was den Umgang mit diesem Phänomen betrifft, sind so komplex, dass sie den, dem sie zu denken geben, durchaus einmal auch perplex machen können. Einem der zeitgenössischen Philosophen, dem Philosophen Wilhelm Weischedel (1905-1975), ist es jedenfalls, als er sich so seine Gedanken darüber machte, welchen Umgang denn dieser oder jener Bürger mit seinem Gewissen pflegte und pflegt, so ergangen. Seine Gedanken dazu hat dieser perplexe Philosoph dann so zu Papier gebracht: „Der eine wird vom Gewissen geplagt; der andere pfeift darauf. Einige sind für ihr Gewissen gestorben; andere haben seinen Spruch sorglos in den Wind geschlagen. Mancher schüttelt es ab, weil es ihm unbequem ist; andere aber möchten alles eher entbehren als ihr Gewissen, das ihnen als untrügliche Richtschnur in der Verwirrung des Lebens dient."4 In der Tat: Wenn etwas perplex macht, dann dies: dass man mit dem Gewissen so umgehen kann, dass man für dessen Spruch nicht nur etwas, sondern alles und das heißt im äußersten Fall sein Leben gibt, oder so, dass man auf den Spruch des Gewissens buchstäblich pfeift, was heißt, gesetzt den Fall, das Gewissen spricht, man sich gar nicht darum schert. Das Gewissen im Streit der Interpretationen So wundert es nicht, dass überall dort, wo vom Gewissen die Rede ist, es auch Streit darum gibt. Da diejenigen in den Verlagen, die die Buchtitel machen, nichts darauf geben, Büchern gleiche oder fast gleiche Titel zu geben, will es schon etwas heißen, wenn binnen kurzer Zeit gleich drei Titel auf dem Buchmarkt zu haben sind, die lauten: „Das umstrittene Gewissen", „Der Streit um das Gewissen" und „Streit um das Gewissen". „Das umstrittene Gewissen. Eine theologische Grundlegung" hat der früher in Regensburg und jetzt in Freiburg im Breisgau lehrende Moraltheologe Eberhard Schockenhoff sein 1990 im Matthias-Grünewald-Verlag in Mainz erschienenes Buch betitelt.5 Die Lektüre des Buches zeigt, dass das nicht ohne Grund geschehen ist. Denn es ist einiges strittig an dem Phänomen, das die Sprache Gewissen nennt. Diesen Befund bestätigen auch die beiden Sammelbände, die nicht bestreiten können und das auch nicht wollen, dass die Frage des Gewissens mit einigem Recht auch ganz Streitfrage ist. 4 Weischedel, Wilhelm: Skeptische Ethik (st 635), Frankfurt am Main 1980, 157. 5 Schockenhoff, Eberhard: Das umstrittene Gewissen. Eine theologische Grundlegung (Grünewald-Reihe), Mainz 1990.