mit dem Blick in meine Richtung. Seine Augen waren weit geöffnet und blaßblau, »Es geht mir viel besser«, sagte ich ihm. »Mein Kopf tut nicht mehr weh.« »Wir waren alle sehr besorgt um dich.« Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich dachte, es wäre am besten, zu nicken und zu lächeln, aber ich wußte, daß er es nicht sehen würde. Weil ich nicht wußte, was ich sagen odet machen sollte, blieb ich stumm. »Ich heiße Billy«, sagte der blinde Junge, »Tag, Billy. Ich bin Robert Malter.« »Hallo, Robert. Ist dein Auge schwer verletzt?« »Ja, ziemlich.« »Du solltest mit deinen Augen vorsichtig sein, Robert.« Ich wußte wieder nicht, was ich dazu sagen sollte. »Robert ist ein Name für einen Erwachsenen, nicht wahr? Wie alt bist du«? »Fünfzehn.« »Das ist erwachsen.« »Nenn mich Bobby«, sagte ich zu ihm, »Ich bin wirklich noch nicht so erwachsen.« »Bobby ist ein netter Name. In Ordnung. Ich nenne dich Bobby.« Ich schaute ihn weiterhin an. Er hatte so ein wunderschönes Gesicht, sehr feine Züge. Seine Hände lagen schlaff auf der Bettdecke, und seine leeren Augen starrten mich an. »Was hast du ftir eine Haarfarbe, Bobby? Kannst du mir beschreiben, wie du aussiehst?« »Klar. Ich habe schwarzes Haar und braune Augen und ein Gesicht wie Millionen andere Gesichter, die du gesehen hast... also ich mein, von denen du gehört hast. Ich bin ungefähr einsfünfundsechzig groß, habe eine Beule am Kopf, und mein rechtes Auge ist verbunden.« Er lachte erfreut auf. »Du bist ein neuer Kerl«, sagte er warm. »Du bist genauso nett wie Mr. Savo.« Mr. Savo sah zu uns herüber. Er hatte sein Essen beendet und hielt sein Kartenspiel in der Hand. »Das ist genau das, was ich meinem Manager immer gesagt habe. Ich bin ein netter Bursche. Das habe ich ihm immer gesagt. Kann ich was dafür, daß ich verkloppt worden bin? Aber er hat das Vertrauen in mich verloren. Lausiger Manager.« Billy starrte in die Richtung, aus der seine Stimme kam. 46 »Bei Ihnen wird schon wieder alles in Ordnung kommen, Mr, Savo«, sagte er ernsc. »Sie werden wieder an der Spirze stehen.« »Klar doch, Billy«, Tony Savo schaute ihn an. »Der alte Tony schafft es wieder an die Spirze.« »Dann werde ich in Ihr Trainingslager kommen und Ihnen beim Trainieren zusehen, und wir werden die drei Runden machen, wie versprochen.« »Klar, Billy.« »Mr, Savo hat mir einen Kampf über drei Runden nach meiner Operation versprochen«, erklärte mir Billy eifrig, während er noch immer in die Richtung von Mr. Savos Stimme starrte. »Das ist großartig«, sagte ich. »Es ist eine neue Art von Operation«, Billy drehte sein Gesicht in meine Richtung. »Mein Vater hat es mir erklärt. Sie haben im Krieg herausgefunden, wie man es macht. Es wird wunderbar sein, einen Kampf über drei Runden mit Ihnen zu machen, Mr. Savo.« »Klar, Billy. Auf jeden Fall.« Er saß aufrecht in seinem Bett, schaute auf den Jungen und ignorierte sein Kartenspiel, das er in der Hand hielt. »Es wird wundervoll sein, wieder sehen zu können«, sagte Billy zu mir. »Ich hatte einen Autounfall. Mein Vater ist gefahren. Es ist schon lange her. Aber mein Vater war nicht daran schuld.« Mr. Savo wandte seinen Blick wieder den Karten zu und legte sie dann zurück auf den Nachttisch. Ich sah den Krankenpfleger den Gang hochkommen, um die Essenstabletts einzusammeln. »Hat dir das Essen geschmeckt?« fragte er Billy. Billy drehte seinen Kopf in Richtung seiner Stimme. »Es hat gut geschmeckt.« »Und dir, Killer?« »Hühnchen!« sagte Tony Savo, »Was kann daran schon gut sein?« Seine Stimme war jetzt allerdings flach, die ganze Erregung war verschwunden. »Wie kommt's, daß Sie diesmal die Knochen übriggelassen haben?« fragte der Pfleger grinsend. »Wer kann schon zehn Runden überstehen, wenn er nur Hühnchen kriegt?« sagte Tony Savo. Aber er schien mit dem Kopf nicht mehr bei der Sache zu sein. Ich sah, wie er sich in das Kissen zurücklehnte und mit dem linken Auge an die Decke starrre. Dann schloß er das Auge und legte seine langen, behaarren Hände auf seine Brust. 47 »Wir machen das wieder niedriger für dich«, sagte der Pfleger, nachdem er mein Tablett weggenommen hatte. Er beugte sich zum Fuß des Bettes hinunter, und ich spürte, wie das Kopfende sich absenkte. Billy legte sich zurück ins Kissen. Ich drehte meinen Kopf und sah, wie er dalag, mit offenen Augen, den Blick starr nach oben gerichtet, seine Hände unter dem Kopf, so daß seine Ellenbogen nach außen wiesen. Dann blickte ich über sein Bett hinweg und bemerkte einen Mann, der den Gang entlangeilte, und als er in Sichtweite kam, erkannte ich, daß es mein Vater war. Ich hätte beinahe laut aufgeschrien, aber ich hielt mich dann doch zurück und wartete, bis er an mein Bett kam. Er trug ein in Zeitungspapier eingewickeltes Päckchen. Er hatte seinen dunkelgrauen, gestreiften Zweireiher an und seinen grauen Hut auf. Er sah eingefallen und abgespannt aus, sein Gesicht war blaß. Seine Augen schienen gerötet hinter seiner stahlgefaßten Brille, als ob er lange Zeit nicht geschlafen hatte. Er kam schnell an meine linke Bettseite, schaute zu mir herab und versuchte zu lächeln. Aber das Lächeln gelang ihm überhaupt nicht. »Das Krankenhaus hat mich vorhin angerufen«, sagte er etwas kurzatmig. »Sie sagten mir, dal? du wach seist.« Ich machte Anstalten, mich im Bett aufzusetzen. »Nein«, sagte er, »bleib liegen. Sie meinten, daß du dich noch nicht aufsetzen sollst.« Ich lehnte mich zurück und sah zu ihm hoch. Er setzte sich auf die Bettkante und legte das Päckchen neben sich. Er nahm seinen Hut ab und legte ihn auf das Päckchen. Sein spärliches graues Haar lag wirr um seinen Kopf. Das war ungewöhnlich für meinen Vater. Ich konnte mich nicht daran erinnern, daß mein Vater je das Haus verlassen hätte, ohne vorher sein Haar ordentlich gekämmt zu haben. »Du hast beinahe einen ganzen Tag geschlafen«, sagte er und versuchte erneut zu lächeln. Seine Stimme war sanft, aber sie klang jetzt ein wenig heiser, »Wie geht es dir, Reuven?« »Ganz gut, jetzt«, sagte ich. »Sie sagten, du hättest eine leichte Gehirnerschütterung. Tut dir der Kopf nicht weh?« »Nein.« »Mr. Galanter hat heute ein paarmal angerufen. Er wollte wissen, wie es dir geht. Ich habe ihm gesagt, daß du schläfst.« »Mr. Galanter ist ein wunderbarer Mensch.« »Sie glaubren, daß du vielleicht mehrere Tage lang schlafen würdest, und waren erstaunt, daß du so früh aufgewacht bist.« »Der Ball hat mich sehr hart getroffen.« »Ja«, sagte er. »Ich habe alles über das Spiel gehört.« Er schien sehr angespannt zu sein, und ich fragte mich, worüber er sich noch immer sorgte. »Die Schwester hat mir überhaupt nichts über mein Auge gesagt«, meinte ich. »Ist es in Ordnung?« „ Er sah mich seltsam an. »Natürlich ist es in Ordnung. Warum sollte es nicht in Ordnung sein? Dr. Snydman hat es operiert, und er ist ein sehr guter Arzt.« »Er hat mein Auge operiert?« Ich hatte gar nicht gewußt, daß ich operiert worden war. »Was war denn los? Weshalb mußte er mich operieren?« Mein Vater hörte die Angst in meiner Stimme. »Jetzt ist alles wieder gut«, beruhigte er mich. »Es war ein Glassplitter in deinem Auge, und sie mußten ihn entfernen. Jetzt ist alles gut.« »Es war ein Splitter in meinem Auge?« Mein Vater nickte langsam. »Ja, am Rand der Pupille.« »Und sie haben ihn herausgenommen?« »Dr. Snydman hat ihn entfernt. Sie sagten, er habe ein Wunder vollbracht.« Aber irgendwie sah mein Vater nicht so aus, als wäre ein Wunder passiert. Angespannt und erregt saß er da. »Ist das Auge jetzt in Ordnung?« fragte ich ihn. »Natürlich ist es jetzt in Ordnung. Warum sollte es nicht in Ordnung sein?« »Es ist nicht in Ordnung«, meinte ich. »Ich will, daß du es mir sagst.« »Da gibt es nichts zu sagen. Sie haben mir versichert, daß es gut ist.« »Abba, sag mir bitte, was los ist.« Er sah mich an, und ich hörte ihn seufzen. Dann fing er an zu husten, ein tiefes, kratzendes Husten, das seinen gebrechlichen Körper schrecklich schüttelte. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche, hielt es vor seine Lippen und hustete lange. Beunruhigt lag ich im Bett und beobachtete ihn. Er hörte auf zu husten, und ich hörte, wie er wieder seufzte. Dann lächelte er mich an. Es war sein altes Lächeln, das warme Lächeln, das die Winkel seines schmallippigen Mundes nach oben bog und sein Gesicht aufhellte. »Reuven, Reuven«, sagte er und schüttelte lächelnd den Kopf, »ich konnte noch nie etwas gut vor dir verbergen, nicht wahr?« 48 '\3 r Ich sagte nichts. »Ich wollte immer einen gescheiten Jungen zum Sohn. Und du bist gescheit. Ich werde dir erzählen, was sie mir über dein Auge gesagt haben. Dem Auge geht es gut. Es ist in Ordnung. In ein paar Tagen werden sie dir den Verband abnehmen, und du kannst nach Hause kommen.« »Erst in ein paar Tagen?« »Ja.« »Weshalb bist du dann so besorgt? Das ist doch wunderbar!« »Reuven, das Auge muß erst noch heilen.« Ich sah einen Mann den Gang entlangkommen und an Billys Bett treten. Er war etwa Mitte Dreißig, hatte hellblondes Haar, und an seinem Gesicht konnte ich sofort erkennen, daß er Billys Vater war. Er setzte sich auf die Bettkante, und Billy richtete sich auf und wandte ihm sein Gesicht zu. Der Vater küßte den Jungen zärtlich auf die Stirn. Sie sprachen leise. Ich blickte meinen Vater an. »Natürlich muß das Auge heilen«, sagte ich. »Das Auge hat einen kleinen Schnitt an der Pupille abbekommen, und dieser Schnitt muß heilen.« Ich starrte ihn an. »Das Narbengewebe«, sagte ich leise. »Das Narbengewebe kann über die Pupille wachsen.« Und ich spürte, wie mir vor Angst schlecht wurde. Mein Vater blinzelte, und seine Augen hinter der Nickelbrille wurden feucht. »Dr. Snydman informierte mich, daß er letztes Jahr einen Fall wie dich hatte und daß das Auge geheilt ist. Er ist optimistisch - alles wird gut werden.« »Aber er ist nicht sicher.« »Nein«, sagte mein Vater. »Er ist nicht sicher.« Ich sah zu Billy. Sein Vater und er unterhielten sich leise und ernst. Der Vater streichelte zärtlich die Wange des Jungen. Ich sah weg und wandte meinen Kopf nach links. Mr. Savo schien zu schlafen. »Rebbe Saunders hat mich heute zweimal und einmal letzte Nacht angerufen«, hörte ich meinen Vater leise sagen. »Rebbe Saunders?« »Ja. Er wollte wissen, wie es dir geht. Er sagte mir, daß es seinem Sohn sehr leid tue, was passiert sei.« »Darauf wette ich«, sagte ich bitter. Mein Vater sah mich eine Weile an, dann beugte er sich ein wenig über das Bett. Er wollte etwas sagen, aber seine Worte gingen in einem heiseren Husten unter. Er hielt sich das Taschentuch vor den Mund und hustete hinein. Er hustete lange, und ich lag da und beobachtete ihn. Als er aufhörte, nahm er seine Brille ab und wischte sich die Augen. Er setzte die Brille wieder auf und atmete tief durch. »Ich habe mich erkältet«, entschuldigte er sich. »Gestern hat es im Klassenzimmer gezogen. Ich habe es dem Hausmeister gesagt, aber der konnte nichts finden. Nun habe ich mir eine Erkältung geholt. Obwohl wir schon Juni haben. Nur dein Vater erkältet sich im Juni.« »Du gibst nicht auf dich acht, Abba.« »Ich mache mir Sorgen um meinen Baseballspieler«, er lächelte. »Ständig mache ich mir Sorgen, daß du von einem Taxi oder einer Straßenbahn überfahren wirst, und du gehst hin und läßt dich von einem Baseball treffen.« »Ich hasse diesen Danny Saunders dafür. Er macht dich krank.« »Danny Saunders macht mich krank? Wie kann er mich krank machen?« »Er hat absichdich auf mich gezielt, Abba. Er hat mich absichtlich getroffen. Und jetzt wirst du krank, weil du dir Sorgen um mich machst.« Mein Vater sah mich erstaunt an. »Er hat absichtlich auf dich gezielt?« »Du solltest sehen, wie er schlägt. Er hat Schwartzie beinahe umgebracht. Er sagte, seine Mannschaft wütdeunsApikorsim fertigmachen.« »Apikorsim?« »Sie haben das Spiel zu einem Krieg gemacht.« »Das verstehe ich nicht. Am Telefon sagte Rebbe Saunders, daß es seinem Sohn leid tue.« »Leid! Ich wette, daß es ihm leid tut! Es tut ihm leid, daß er mich nicht gleich umgebracht hat!« Der Blick meines Vaters war fest auf mich gerichtet. Seine Augen verengten sich. Ich sah, wie das Erstaunen langsam aus seinem Gesicht wich. »Ich mag es nicht, wenn du so sprichst«, sagte er streng. »Es ist wahr, Abba.« »Hast du ihn gefragt, ob es Absicht war?« »Nein.« »Wie kannst du so etwas sagen, wenn du nicht sicher bist? Es ist furchtbar, so etwas zu sagen.« Er konnte seine Wut kaum in Zaum halten. 50 51 »Es schien Absicht gewesen zu sein.« »Sind die Dinge immer das, was sie zu sein scheinen, Reuven? Seit wann ist das so?« Ich schwieg. »Ich will nicht noch einmal hören, daß du so von Rebbe Saunders' Sohn sprichst.« »Ja, Abba.« »Nun, ich habe dir das hier mitgebracht.« Er wickelte das Päckchen aus dem Zeitungspapier, und ich sah, es war unser tragbares Radio. »Nur weil du im Krankenhaus bist, bedeutet das nicht, daß du dich von der Welt abschotten solltest. Man erwartet jeden Tag, daß Rom fällt. Und es gibt Gerüchte, daß die Invasion in Europa sehr bald beginnt. Du solltest nicht vergessen, daß es da draußen noch eine andere Welt gibt.« »Ich muß meine Hausaufgaben machen, Abba. Ich darf den Anschluß nicht verlieren.« »Keine Hausaufgaben, keine Bücher und keine Zeitungen. Sie haben mir gesagt, daß du nicht lesen darfst.« »Darf ich überhaupt nicht lesen?« »Nein, Lesen verboten. Deshalb habe ich dir das Radio gebracht. Es geschehen sehr wichtige Dinge, und das Radio ist ein wahrer Segen.« Er stellte das Radio auf den Nachttisch. Das Radio bringt die Welt zusammen, sagte er häufig. Alles, was die Welt näher zusammenbringt, nannte er einen Segen. »Jetzt zu deinen Hausaufgaben«, sagte er. »Ich habe mit deinen Lehrern gesprochen. Wenn du dich nicht rechtzeitig auf deine Prüfungen vorbereiten kannst, dann werden sie dir Ende Juni oder im September Gelegenheit geben, die Prüfungen allein nachzuholen. Du brauchst dir also darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.« »Wenn ich in ein paar Tagen schon entlassen werde, kann ich ja bald wieder lesen.« »Wir werden sehen. Wir müssen erst herausfinden, wie das mit dem Narbengewebe ist.« Ich bekam wieder Angst. »Wird es lange dauern, bis man das herausgefunden hat?« »Ein oder zwei Wochen.« »Ich kann also zwei Wochen lang nicht lesen?« »Wir werden Dr. Snydman fragen, wenn du das Krankenhaus verläßt. Aber vorerst darfst du nicht lesen.« »Ja, Abba.« »Jetzt muß ich gehen«, sagte mein Vater. Er setzte seinen Hut auf faltete die Zeitung zusammen und klemmte sie unter den Arm. Wieder hustete er, diesmal nur kurz, und erhob sich. »Ich muß Prüfungen vorbereiten, und ich muß einen Artikel fertig schreiben. Die Zeitung hat mir eine Frist gesetzt.« Er sah auf mich herab und lächelte. Mir kam das Lächeln ein wenig nervös vor. Er wirkte so blaß und eingefallen. »Paß bitte auf dich auf, Abba. Nicht daß du krank wirst.« »Ich werde schon auf mich achtgeben. Du sollst dich ausruhen. Und höre Radio.« »Ja, Abba.« Er sah mich an, und seine Augen blinzelten hinter der Nickelbrille. »Du bist kein Baby mehr. Ich hoffe...« Er brach ab. Es kam mir vor, als ob seine Augen feucht würden und seine Lippen einen Moment lang zitterten. Billys Vater sagte etwas zu dem Jungen, und der lachte laut auf. Ich bemerkte, daß mein Vater ihnen einen kurzen Blick zuwarf und sich dann wieder mir zuwandte. Dann sah ich, wie er ihnen erneut den Kopf zudrehte und sie beobachtete. Er schaute sie lange an. Dann wandte er sich wieder mir zu. An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, daß er wußte, daß Billy blind war. »Ich habe dir deine Tfillin, die Gebetsriemen, und dein Gebetbuch mitgebracht«, sagte er sehr leise. Seine Stimme war belegt und zitterte. »Wenn sie sagen, daß es dir nicht schadet, solltest du mit deinen Tfillin beten. Aber nur, wenn sie sagen, daß es wirklich nichts ausmacht und daß es für deinen Kopf oder dein Auge nicht schädlich ist.« Er hielt einen Augenblick inne, um sich zu räuspern. »Eine schwere Erkältung, aber es wird schon wieder werden. Falls du nicht mit deinen Tfillin beten darfst, bete trotzdem, ohne sie. So, jetzt muß ich gehen.« Er beugte sich vor und küßte mich auf die Stirn. Als er nahe bei mir war, sah ich, daß seine Augen gerötet und feucht waren. »Mein Baseballspieler«, sagte er und versuchte zu lächeln. »Paß auf dich auf und ruh dich aus. Ich werde dich morgen wieder besuchen.« Er drehte sich um und ging schnell den Gang entlang, klein und schmal, aber aufrecht und festen Schrittes, so wie er immer ging, ganz gleich, wie er sich fühlte. Dann war er aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich lag im Bett und schloß mein rechtes Auge. Nach einer Weile mußte ich plötzlich weinen und dachte, daß das wahrscheinlich schlecht für mein Auge sei, und zwang mich aufzuhören. Ich lag ruhig 52 53 da und dachte über meine Augen nach. Ich hatte sie immer als etwas Selbstverständliches hingenommen, so, wie ich meinen ganzen Körper und meinen Verstand als etwas Selbstverständliches betrachtet hatte. Des öfteren hatte mir mein Vater erklärt, daß Gesundheit ein Geschenk sei, aber eigentlich hatte ich der Tatsache, daß ich selten krank war und fast nie zum Arzt mußte, keine große Bedeutung zugemessen. Ich dachte an Billy und Tony Savo. Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Leben aussähe, wenn ich nur noch ein Auge hätte, aber es gelang mir nicht. Ich hatte einfach noch nie über meine Augen nachgedacht. Ich hatte noch nie daran gedacht, wie es wäre, blind zu sein. Ich fühlte wieder diese wilde Angst in mir aufsteigen und bemühte mich, sie unter Kontrolle zu bekommen. Lange lag ich da und dachte über meine Augen nach. Ich hörte ein Geräusch im Zimmer, öffnete mein rechtes Auge und sah, daß Billys Vater gegangen war. Billy lag auf dem Kissen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, mit den Ellenbogen nach außen. Seine Augen waren offen und starrten an die Decke. An einigen Betten standen Schwestern, und ich verstand, daß sich alle zum Schlafen vorbereiteten. Ich drehte meinen Kopf, um Mr. Savo zu sehen. Er schien schon zu schlafen. Mein Kopf fing an, ein bißchen weh zu tun, und mein linkes Handgelenk schmerzte noch immer. Ich lag ganz ruhig. Ich sah die Schwester an mein Bett kommen, und mit einem strahlenden Lächeln blickte sie mich an. »Nun«, sagte sie. »Wie geht's, junger Mann?« »Mein Kopf tut ein bißchen weh«, meinte ich. »Das war zu erwarten.« Sie lächelte mir zu. »Wir werden dir jetzt eine Tablette geben, damit du gut schläfst.« Sie ging zum Nachttisch und füllte ein Glas mit Wasser aus dem Krug, der auf einem kleinen Tablett stand. Sie half mir, meinen Kopf zu heben, und ich nahm die Tablette in den Mund und schluckte sie mit etwas Wasser hinunter. »Danke«, sagte ich und legte mich ins Kissen zurück. »Nichts zu danken, junger Mann. Es ist schön, auf junge, höfliche Leute zu treffen. Und jetzt: Gute Nacht.« »Gute Nacht, Schwester. Danke schön.« Sie ging den Gang hinauf. Ich drehte meinen Kopf Billy zu. Er lag ganz ruhig und mit offenen Augen da. Ich sah ihn noch eine Weile an und schloß dann mein Auge. Ich überlegte, wie es ist, blind zu sein, völlig blind. Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber es mußte wohl so ähnlich sein wie jetzt, da ich meine Augen geschlossen hatte. Aber es ist nicht dasselbe, sagte ich mir. Ich weiß, daß ich sehen kann, wenn ich mein rechtes Auge öffne. Wenn man blind ist, macht es keinen Unterschied, ob man die Augen öffnet oder nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, was es bedeuten würde, mich damit abfinden zu müssen, daß es keinen Unterschied machte, ob meine Augen auf oder zu waren - und alles dunkel bliebe. 54 55 I Kapitel 3 Im Schlaf hörte ich einen Schrei und ein Geräusch. Es klang fast wie Jubelgeschrei, und ich war sofort hellwach. Im Zimmer war alles in Aufruhr, und ich hörte laute Stimmen. Ich fragte mich, was geschehen war, denn es war wirklich sehr laut und irgendwo plärrte ein Radio. Ich wollte mich aufrecht hinsetzen, aber dann erinnerte ich mich, daß ich das noch nicht durfte, und legte meinen Kopf wieder auf das Kissen. Draußen war es hell, aber die Sonne konnte ich nicht sehen. Während ich mich noch über den Lärm wunderte, kam schon Mrs. Carpenter mit finsterer Miene den Gang entlang. Sie sagte den Leuten, daß sie mit dem Geschrei aufhören sollten, dies sei ein Krankenhaus und nicht der Madison Square Garden. Ich sah hinüber zu Billy. Er saß aufrecht in seinem Bett, und ich konnte erkennen, daß er auszumachen versuchte, was um ihn herum vorging. Er sah verwirrt und ein bißchen ängstlich aus. Ich drehte mich nach Mr. Savo um, aber er lag nicht in seinem Bett. Der Lärm legte sich ein wenig, aber das Radio plärrte noch immer. Ich konnte es nicht richtig verstehen, weil immer wieder jemand schrie oder in Jubelrufe ausbrach. Der Sprecher redete über Orte wie Caen und Carentan. Er sagte etwas über eine britische Luftlandedivision, die Brückenköpfe einnahm, und über zwei amerikanische Luftlandedivisionen, die feindliche Truppen davon abhielten, auf der Halbinsel Cotentin einzufallen. Keiner der Namen sagte mir etwas, und ich fragte mich, weshalb alle so aufgeregt waren. Es gab ja ständig Nachrichten über den Krieg, aber niemand war je so aufgeregt gewesen, es sei denn, etwas ganz Besonderes hatte sich ereignet. Ich dachte, ich hätte Mr. Savo auf einem der Betten sitzen sehen. Mrs. Carpenter ging zu ihm, und an der Art, wie sie ging, merkte ich, daß sie ärgerlich war. Ich sah Mr. Savo aufstehen und den Gang heraufkommen. Der Sprecher sagte etwas über die Isle of Wight und die Küste der Normandie, und daß Bomber der Royal Air Force die feindlichen Küstenbatterien angriffen und Bomber der United States Air Force die Küstenabwehr attackierten. Plötzlich war mir klar, was geschehen war, und ich bekam Herzklopfen. Ich sah Mr. Savo auf mein Bett zukommen. Er war wütend, und mit seinem langen, dünnen Gesicht mit der schwarzen Augenklappe sah er aus wie ein Pirat. »Gehen Sie in Ihr Bett, Mr. Savo«, ahmte er Mrs. Carpenter nach. »Gehen Sie augenblicklich ins Bett. Man könnte meinen, ich läge im Sterben. Jetzt ist nicht die Zeit, im Bett zu liegen.« 56 »Ist das die Invasion in Europa, Mr. Savo?« fragte Ich ihn begierig. Ich war aufgeregt und ein wenig beunruhigt, und ich wünschte, daß die jubelnden Leute endlich leise wären. Er sah zu mir herab, »Heute ist D-day, Bobby. Denen geben wirs. Und Mr. Savo muß ins Bett.« Dann entdeckte er das tragbare Radio, das mein Vater mir vergangenen Abend gebracht hatte. »Hey, Bobby, ist das dein Radio?« »Ja, richtig«, sagte ich aufgeregt. »Das habe ich völlig vergessen.« »Haben wir ein Glück.« Er lächelte breit und sah überhaupt nicht mehr aus wie ein Pirat. »Wir stellen es auf den Tisch zwischen unsere Betten und hören uns das an, ja?« ' »Ich glaube, Billy will auch zuhören, Mr. Savo.« Ich blickte hinüber zu Billy. Billy hatte sich umgedreht und starrte in die Richtung, aus der meine Stimme kam. »Hast du da ein Radio, Bobby?« Er schien sehr aufgeregt. »Es ist hier, Billy. Zwischen unseren Betten.« »Mein Onkel ist Pilot. Er fliegt große Flugzeuge, die Bomben abwerfen. Kannst du es einschalten?« »Natürlich, Kleiner.« Mr. Savo schaltete das Radio ein, fand die Station mit demselben Sptecher, der auch aus dem anderen Radio zu hören war, ging in sein Bett und legte sich zurück ins Kissen. Wir drei lagen in unseren Betten und hörten die Nachrichten über die Invasion. Mrs. Carpenter kam den Gang hoch. Sie war noch immer ein bißchen böse über den Lärm im Zimmer, aber dennoch konnte ich sehen, daß auch sie aufgeregt war. Sie fragte, wie ich mich fühlte. »Es geht mir gut, Schwester.« »Das ist sehr gut. Ist das dein Radio?« »Ja, Schwester. Mein Vater hat es mir gebracht.« »Wie schön. Du darfst dich ein bißchen aufsetzen, wenn du möchtest,« »Danke.« Ich war froh, das zu hören. »Darf ich mit meinen Tfilhn beten?« »Mit den Gebetsriemen?« »Ja, Schwester.« »Ich habe nichts dagegen. Aber sei vorsichtig wegen deiner Beule am Kopf.« »Ja, Schwester. Danke.« Sie warf Mr. Savo einen finsteren Blick zu. »Ich sehe, Sie benehmen sich jetzt, Mr. Savo.« Mr. Savo sah sie mit seinem linken Auge an und grunzte. 57 »Man könnte glauben, ich läge im Sterben.« »Sie sollen unbedingt im Bett bleiben, Mr. Savo.« Wieder grunzte Mr. Savo. Sie ging den Gang hinauf. »Hart wie ein Pfosten im Ring«, grinste Mr. Savo. »Mach es etwas lauter, Bobby. Kann kaum etwas hören.« Ich lehnte mich hinüber und drehte das Radio lauter. Es tat gut, sich wieder bewegen zu können. Ich nahm Geberbuch und Tfillin aus der Nachttischschublade und begann, sie mir umzulegen. Der Kopfriemen drückte gegen die Beule, und ich zuckte zusammen. Sie tat immer noch weh. Ich hatte mir den Handriemen umgebunden und schlug das Gebetbuch auf. Ich sah, daß Mr. Savo mir zuschaute. Dann fiel mir ein, daß ich nicht lesen durfte, und so machte ich das Buch wieder zu. Ich betete alles, was ich auswendig konnte, und versuchte, nicht auf den Radiosprecher zu achten. Ich betete für die Sicherheit aller Soldaten, die an den Stränden kämpften. Als ich mit Beten fertig war, nahm ich die Riemen ab und legte sie zusammen mit dem Gebetbuch zurück in die Schublade. »Du bist ja ein wirklich religiöses Kerlchen, Bobby«, sagte Mr. Savo zu mir. Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte, und so sah ich ihn nur an und nickte. »Wirst du mal Priester oder sowas?« »Vielleicht«, sagte ich. »Mein Vater möchte allerdings, daß ich Mathematiker werde.« »Bist gut in Mathe, was?« »Ja. Bisher hatte Ich immer Einser.« »Aber du möchtest lieber Priester werden, hm? Ein... Rabbi, so nennt ihr das doch.« »Manchmal denke ich, ich möchte Rabbi werden. Ich bin mir nicht sicher.« »Das ist eine gute Sache, Bobby. Diese verrückte Welt braucht solche Leute. Ich hätte Priester werden können. Hatte einmal die Chance. Habe die falsche Wahl getroffen. Statt dessen verkloppe ich jetzt Leute. Schlechte Wahl. Heh, hör dir das an!« Der Kriegsberichterstatter meldete aufgeregt, deutsche Torpedoboote hätten einen norwegischen Zerstörer angegriffen, und es sehe aus, als würde dieser sinken. Matrosen würden über Bord springen und Rettungsboote hinuntergelassen. »Die haben was abbekommen«, sagte Mr. Savo grimmig. »Die armen Sch... armen Kerle.« Der Berichterstatter klang äußerst aufgeregt, während er beschrieb, wie der norwegische Zerstörer sank. Den Rest des Vormittags tat ich nichts anderes, als Radio zu hören und mit Mr. Savo und Billy über den Krieg zu reden. So gut ich konnte, erklärte ich Billy einige Dinge, die im Moment passierten, und er erzählte mir immer wieder, daß sein Onkel Pilot eines großen Flugzeugs sei, welches Bomben abwerfe. Er fragte mich, ob ich glaubte, daß er sie jetzt abwerfe, um bei der Invasion zu helfen. Ich meinte, daß er das jetzt sicher tue. Kurz nach dem Mittagessen kam ein Junge, der mit einem Ball spielte, aus einem anderen Krankenzimmer herein. Er war ungefähr sechs Jahre alt, hatte ein dünnes, bleiches Gesicht und ungekämmtes, dunkles Haar, das er sich ständig mit der linken Hand aus den Augen strich, während er im Gehen den Ball mit seiner Rechten vor sich her prellte. Er trug einen hellbraunen Schlafanzug und einen dunkelbraunen Bademantel. »Armer, kleiner Kerl«, sagte Mr. Savo. »Hat den größten Teil seines Lebens im Krankenzimmer auf der anderen Seite der Eingangshalle verbracht. Sein Magen hat keine Säfte oder sowas.« Er sah dem Jungen zu, wie er den Gang hochkam. »Verkehrte Welt. Verrückt.« Der Junge stand am Fußende von Mr. Savos Bett und sah sehr schmal und blaß aus. »Heh, Mr. Tony. Möchtest du mit Mickey Ball spielen?« Mr. Savo erklärte ihm, daß dies kein Tag für Ballspiele sei und daß eine Invasion vor sich gehe. Mickey wußte nicht, was eine Invasion war und fing an zu weinen. »Du hast es versprochen, Mr. Tony. Du hast gesagt, daß du mit dem kleinen Mickey Ball spielst.« Mr. Savo sah verlegen aus. »Okay, Kleiner. Fang nicht wieder an zu heulen. Aber nur zwei Bälle. Okay?« »Klar, Mr. Tony«, sagte Mickey, und sein Gesicht glühte. Er warf Mr. Savo den Ball zu, der seine rechte Hand hoch über seinen Kopf strecken mußte, um ihn zu fangen. Er warf ihn leicht zu dem Jungen zurück, der ihn fallen ließ und deshalb unter das Bett krabbelte. Mrs. Carpenter raste den Gang hoch, sie sah sehr wütend aus. »Mr. Savo, Sie sind einfach unmöglich.« Sie schrie beinahe. Mr. Savo saß in seinem Bett, atmete heftig und sagte kein Wort. »Sie werden sich selbst noch ernstlich krank machen, wenn Sie jetzt nicht diesen Unsinn lassen und ruhig liegenbleiben!« 58 59 »Ja, Schwester«, sagte Mr. Savo. Sein Gesicht war blaß. Er legte sich ins Kissen zurück und schloß sein linkes Auge. Mrs. Carpenter wandte sich dem Jungen zu, der seinen Ball gefunden hatte und Mr. Savo erwartungsvoll ansah. »Mickey, es gibt kein Ballspiel mehr mit Mr. Savo.« »Ah, Mrs. Carpenter...« »Mickey!« »Ja, Schwester«, sagte Mickey plötzlich folgsam. »Danke fürs Fangen, Mr. Tony.« Mr, Savo lag in seinem Kissen und sagte nichts. Mickey ging den Gang hinauf und prellte seinen Ball vor sich her. Mrs. Carpenter beugte sich hinunter zu Mr. Savo. »Geht es Ihnen gut?« Sie klang besorgt. »Ich bin ein bißchen erschöpft«, sagte Mr. Savo, ohne sein Auge zu öffnen. »Sie hätten doch vorher wissen müssen, daß so etwas nicht gut ist.« »Tut mir leid, Schwester.« Mrs. Carpenter ging. »Hart wie ein Pfosten im Ring«, sagte Mr. Savo. »Aber ein großes Herz.« Mit geschlossenem Auge lag er ruhig da, und nach einer Weile sah ich, daß er eingeschlafen war. Der Radiosprecher berichtete gerade etwas über Nachschubprobleme, die mit einer Großinvasion zusammenhingen, als ich Mr. Galanter den Gang heraufkommen sah. Ich stellte das Radio ein wenig leiser. Mr. Galanter kam an mein Bett. Er hatte eine Ausgabe der New York Times unter dem Arm, und sein Gesicht war vor Aufregung gerötet. »Komme kurz mal vorbei, um dir Guten Tag zu sagen, Soldat. Habe gerade Pause, deshalb habe ich nur ein paar Minuten. Hätte dich heute sonst nicht sehen können. Wie geht's uns denn so?« »Es geht mir viel besser, Mr. Galanter.« Ich war glücklich und stolz, daß er gekommen war, um mich zu besuchen. »Mein Kopf tut gar nicht mehr weh, und dem Handgelenk geht es auch schon viel besser.« »Das sind gute Nachrichten, Soldat. Großartige Nachrichten. Ist das nicht ein Tag heute? Einer der größten Tage in der Geschichte. Phantastisches Unternehmen.« »Ja, Sir. Ich habe es die ganze Zeit im Radio verfolgt.« »Wir können uns gar nicht vorstellen, was da vor sich geht, Soldat. Das ist das Unglaubliche daran. Wahrscheinlich werden dort heute oder 60 morgen mehr als hundertfünfzigtausend Mann landen müssen, und Tausende und Abertausende von Panzern, Artilleriegeschützen, Geländewagen, Räumfahrzeugen und so weiter, und alles an diesen Stränden. Es ist unvorstellbar.« »Ich habe dem kleinen Billy hier erzählt, daß sie die schweren Bomber ziemlich häufig einsetzen werden. Sein Onkel ist Bomberpilot. Wahrscheinlich sitzt er jetzt gerade im Flugzeug.« Mr. Galanter sah Billy an, der" uns den Kopf zugewandt hatte, und ich sah, daß Mr. Galanter sofort bemerkte, daß er blind war. »Wie geht's dir, junger Freund?« fragte Mr. Galanter. Seine Stimme klang plötzlich sehr viel weniger aufgeregt. »Mein Onkel fliegt ein großes Flugzeug, das Bomben abwirft«, sagte Billy. »Sind Sie Flieger?« Ich sah, wie sich Mr. Galanters Gesicht verkrampfte. »Mr. Galanter ist mein Sportlehrer auf dem Gymnasium«, erklärte ich Billy. »Mein Onkel ist schon seit langer Zeit Pilot. Mein Vater sagt, sie müssen sehr viel fliegen, bis sie heimkommen können. Sind Sie verwundet worden oder so was, daß Sie jetzt zu Hause sind, Mr. Galanter?« Ich sah Mr. Galanter den Jungen anstarren. Sein Mund stand offen, und er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er schien sich nicht sehr wohl zu fühlen. »Konnte nicht Soldat werden«, sagte er, während er Billy anschaute. »Ich habe einen schlechten...« er brach ab. »Ich habe es versucht, aber es gingTiicht.« »Es tut mir leid, das zu hören, Sir.« »Ja...« sagte Mr. Galanter. Es war mir peinlich. Mr. Galanters ganze Aufgekratztheit war verflogen. Jetzt stand er da, starrte Billy an und sah aus wie am Boden zerstört. Er tat mir leid, und ich bereute, daß ich Billys Onkel überhaupt erwähnt hatte. »Ich wünsche deinem Onkel alles Glück der Welt«, sagte Mr. Galanter leise zu Billy, »Danke, Sir«, sagte Billy. Mr. Galanter wandte sich mir zu. »Da haben sie ja gute Arbeit geleistet, daß sie den Glassplitter aus deinem Auge herausgeholt haben, Soldat.« Er versuchte, fröhlich zu klingen, aber es gelang ihm nicht besonders gut. »Wann wirst du wieder draußen sein?« »Mein Vater sagte, in ein paar Tagen.« 61 »Das ist ja großartig. Du hast Glück gehabt, Junge. Es hätte viel schlimmer kommen können.« »Ja, Sir.« Ich fragte mich, ob er von dem Narbengewebe wußte und nicht mit mir darüber sprechen wollte. Ich beschloß, es nicht zu erwähnen. Er sah ein bißchen traurig und unwohl aus, und ich wollte nicht, daß er sich noch unbehaglicher fühlte, als er es schon tat. »Also, ich muß jetzt zum Unterricht, Soldat. Paß auf dich auf und komm bald wieder raus.« »Ja, Sir. Danke für alles. Und danke für Ihren Besuch.« »Ich tu doch alles für meine Soldaten.« Ich beobachtete, wie er langsam den Gang hinaufging. »Zu schade, daß er nicht Soldat werden konnte«, sagte Billy. »Mein Vater ist auch kein Soldat, aber das kommt davon, daß meine Mutter bei dem Unfall ums Leben gekommen ist und sonst niemand da ist, der sich um mich und meine kleine Schwester kümmern kann.« Ich sah ihn an und schwieg. »Ich glaube, ich werde jetzt ein bißchen schlafen«, sagte Billy. »Würdest du bitte das Radio ausschalten.« »Natürlich, Billy.« Ich sah, wie er die Handflächen unter seinen Kopf auf dem Kissen schob, einfach so dalag und mit leerem Blick an die Decke starrte. Ich legte mich zurück, und nachdem ich ein paar Minuten über Mr. Galanter nachgedacht hatte, schlief ich ein. Ich träumte von meinem linken Auge und hatte große Angst. Ich dachte, ich könnte das Sonnenlicht durch das geschlossene Lid meines rechten Auges sehen, und ich träumte davon, wie ich gestern nachmittag im Krankenhaus aufgewacht war, und wie die Schwester den Vorhang weggezogen hatte. Aber jetzt verdeckte irgend etwas das Sonnenlicht. Dann war es wieder da, und ich konnte im Schlaf das Licht durch das Lid meines rechten Auges sehen. Dann war es wieder weg, und ich wurde böse auf den, der da mit dem Sonnenlicht spielte. Ich öffnete mein Auge und sah jemanden neben meinem Bett stehen. Wer auch immer das war, er bildete eine Silhouette gegen das Sonnenlicht, und einen Moment lang konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Dann setzte ich mich schnell auf. »Hallo«, sagte Danny Saunders zaghaft. »Es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe. Die Krankenschwester meinte, ich dürfe hier warten.« Ich sah ihn erstaunt an. Er war der letzte Mensch auf der Welt, den ich hier im Krankenhaus erwartet hätte. 62 »Bevor du mir sagst, wie sehr du mich haßt«, sagte er leise, »laß mich dir sagen, daß mir sehr leid tut, was passiert ist.« Ich starrte ihn an und wußte nicht, was ich sagen sollte. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd, dessen Kragen offen stand, und ein schwarzes Käppchen. Ich konnte seine Schläfenlocken zu beiden Seiten seines feingeschnittenen Gesichts herunterhängen sehen und auch die Schaufäden, die unter seiner Jacke über der Hose hervorschauten, »Ich hasse dich nicht«, gelang es mir zu sagen, auch weil ich dachte, es wäre jetzt an der Zeit, irgend etwas zu sagen, selbst wenn es gelogen war. Er lächelte traurig. »Kann ich mich setzen? Ich habe hier ungefähr fünfzehn Minuten gestanden und gewartet, daß du aufwachst.« Ich machte eine Art nickende Bewegung oder tat irgend etwas, was er als ein Zeichen der Zustimmung wertete, und er setzte sich auf die Bettkante zu meiner Rechten. Durch die Fenster hinter ihm strömte das Sonnenlicht herein, und über sein Gesicht legten sich Schatten, die die Linien seiner Wangen und seines Kinns betonten. Ich fand, er sah ein bißchen wie Abraham Lincoln aus, bevor er sich einen Bart hatte wachsen lassen — abgesehen von den kleinen sandfarbenen Haarbüscheln auf Kinn und Wange, dem kurzgeschnittenen Haar und den Schläfenlocken. Er schien sich nicht recht wohl zu fühlen und blinzelte nervös mit den Augen. »Was sagen sie über das Narbengewebe?« fragte er. Wieder war ich über alle Maßen erstaunt. »Woher weißt du davon?« »Ich habe deinen Vater gestern abend angerufen. Er hat es mir erzählt.« »Bis jetzt wissen sie noch gar nichts darüber. Ich könnte auf diesem Auge blind werden.« Er nickte langsam und schwieg. »Wie fühlt man sich, wenn man weiß, daß man jemanden auf einem Auge blind gemacht hat?« fragte ich ihn. Ich hatte mich von meiner Überraschung erholt und fühlte, wie die Wut wieder in mir aufstieg. Er sah mich an. Sein feingeschnittenes Gesicht war ausdruckslos. »Was möchtest du hören?« Seine Stimme klang nicht wütend, sie war traurig. »Willst du, daß ich sage, ich fühle mich miserabel? Okay, ich fühle mich miserabel.« »Ist das alles? Nur miserabel? Wie kannst du nachts noch schlafen?« Er betrachtete seine Hände. »Ich bin nicht hergekommen, um mit 63 dir zu streiten«, sagte er leise. »Wenn du nur Streit suchst, gehe ich nach Hause.« »Von mir aus kannst du zur Hölle fahren«, sagte ich. »Und nimm deine ganze Bande hochnäsiger Chassidim gleich mit!« Er sah mich schweigend an und rührte sich nicht. Er schien nicht böse zu sein, nur traurig. Sein Schweigen machte mich um so wütender, und schließlich sagte ich: »Weshalb, zum Teufel, sitzt du immer noch da? Ich dachte, du wolltest nach Hause gehen!« »Ich kam, um mit dir zu sprechen«, entgegnete er leise. »Ich will aber nichts hören«, erklärte ich ihm. »Warum gehst du nicht nach Hause? Geh nach Hause und bereue die Sache mit meinem Auge!« Er stand langsam auf. Wegen des Sonnenlichts hinter ihm konnte ich sein Gesicht kaum erkennen. Seine Schultern schienen gebeugt zu sein. »Es tut mir leid«, sagte er leise. »Ja, ja, darauf wette ich«, erwiderte ich. Er wollte noch etwas sagen, dann brach er ab, drehte sich um und ging langsam den Gang hinauf. Ich lehnte mich ins Kissen zurück, zitterte ein wenig und war erschrocken über die Wut und den Haß in mir. »Ein Freund von dir?« hörte ich Mr. Savo fragen. Ich drehte mich ihm zu. Er lag mit dem Kopf auf dem Kissen. »Nein«, sagte ich. »Hat er dich geärgert, oder was? Du hörst dich nicht so gut an, Bobby.« »Er ist der, der mir den Ball ins Auge geschossen hat.« Mr. Savos Gesicht hellte sich auf. »Mach keine Witze. Der Klopper persönlich? So, so...!« »Ich glaube, ich schlafe noch ein bißchen«, sagte ich. Ich fühlte mich bedrückt. »Ist der einer von diesen total frommen Juden?« fragte Mr. Savo. »Ja.« »So einer ist mir schon mal über den Weg gelaufen. Mein Manager hatte so einen Onkel. Ganz frommer Typ. Richtig fanatisch. Hatte aber nie viel mit meinem Manager zu tun. Hat er auch nichts verpaßt. Lausiger Manager.« Ich war nicht gerade aufgelegt, jetzt eine Unterhaltung zu führen, deshalb blieb ich still. Ich bereute schon ein wenig, daß ich so böse zu Danny Saunders gewesen war. 64 Ich sah, daß Mr. Savo sich aufsetzte und sein Kartenspiel vom Nachttisch nahm. Er begann, seine Kartenreihen auf die Bettdecke zu legen. Billy schlief. Ich legte mich hin und schloß die Augen, aber schlafen konnte ich nicht. Ein paar Minuten nach dem Abendessen kam mein Vater. Er sah blaß und abgespannt aus. Als ich ihm von meinem Gespräch mit Danny Saunders erzählte, wurden seine Augen hinter der Brille zornig. »Du hast etwas Törichtes getan, Reuven«, sagte er streng, »Denke daran, was der Talmud sagt. Wenn ein Mensch zu dir kommt, um sich zu entschuldigen, weil er dich auf irgendeine Weise verle tzt hat, dann solltest du ihn anhören und ihm vergeben.« »Ich konnte nicht anders, Abba.« »Haßt du ihn so sehr, daß du solche Dinge zu ihm sagen mußtest?« »Es tut mir leid«, sagte ich und fühlte mich ganz elend. Er sah mich an, und ich merkte, daß seine Augen plötzlich traurig wurden. »Ich hatte nicht die Absicht, dich auszuschimpfen«, sagte er. »Du hast mich nicht ausgeschimpft«, verteidigte ich ihn. »Was ich dir sagen wollte, Reuven, ist, daß, wenn ein Mensch zu dir kommt, um mit dir zu sprechen, du geduldig sein und ihm zuhören solltest. Besonders, wenn dich dieser Mensch irgendwie verletzt hat. So, und jetzt wollen wir heute abend nicht mehr über Rebbe Saunders' Sohn sprechen. Heute ist ein wichtiger Tag in der Weltgeschichte. Es ist der Anfang vom Ende Hitlers und seiner wahnsinnigen Anhängerschaft. Hast du den Radioreporter auf dem Boot gehört, der die Invasion schilderte?« Wir sprachen eine Zeitlang über die Invasion. Schließlich ging mein Vater wieder. Ich war niedergeschlagen und böse auf mich selbst, wegen der Dinge, die ich zu Danny Saunders gesagt hatte. Billys Vater war gekommen, um ihn zu besuchen, und sie redeten leise miteinander. Er warf mir einen kurzen Blick zu und lächelte freundlich. Er war ein gutaussehender Mann, und ich bemerkte, daß eine lange, weiße Narbe auf seiner Stirn parallel zu seinem Haaransatz verlief. »Billy erzählt mir gerade, daß dusehr nett zu ihm gewesen bist«, sagte er zu mir. Ich brachte eine Art Nicken auf dem Kissen zustande und versuchte zurückzulächeln. »Darüber bin ich froh und dankbar«, sagte er. »Billy meint, ob du uns wohl mal anrufst, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen ist.« 65