ERSTES BUCH Denn als ich noch Kind in meines Vaters Hause war... Da lehrte er mich und sprach: »Laßdein Herz meine Worte aufnehmen...« Sprüche Salomos Kapitel 1 Die ersten fünfzehn Jahre unseres Lebens wohnten Danny und ich fünf Häuserblocks voneinander entfernt, und keiner wußte von der Existenz des anderen. In Dannys Block lebten überwiegend Anhänger seines Vaters, aus Rußland eingewanderte chassidische Juden in dunkler Kleidung, deren Bräuche und Vorstellungen tief in der Erde des Landes wurzelten, das sie verlassen hatten. Sie brühten ihren Tee im Samowar und schlürften ihn langsam durch Zuckerwürfel, die sie zwischen den Zähnen hielten. Sie aßen die Speisen ihrer Heimat, sprachen laut, manchmal russisch, meistens ein russisch gefärbtes Jiddisch, und waren leidenschaftliche Anhänger von Dannys Vater. Einen Häuserblock weiter lebte eine andere chassidische Sekte, Juden aus dem Süden Polens, die in ihren langen, schwarzen Mänteln, mit schwarzen Hüten, mit schwarzen Barten und Schläfenlocken wie Gespenster durch Brooklyns Straßen wandelten. Diese Juden hatten ihren eigenen Rabbi, ihr dynastisches Oberhaupt, das die Stellung seiner Familie innerhalb der rabbinischen Führerschaft bis in die Zeit Baal-schem Tows zurückverfolgen konnte, der im achtzehnten Jahrhundert den Chassidismus begründet hatte und den sie als von Gott selbst eingesetzte Persönlichkeit verehrten. In dem Bezirk, in dem Danny und ich aufwuchsen, lebten drei oder vier solcher chassidischen Sekten. Jede hatte ihren eigenen Rabbi, ihre eigene kleine Synagoge, ihre besonderen Bräuche und denselben leidenschaftlichen Zusammenhalt untereinander. Am Schabbes oder am Morgen eines Festtages sah man die Mitglieder der Sekten zu ihren Synagogen gehen. Sie trugen ihre besondere Kleidung und waren begierig darauf, mit ihrem Rabbi zu beten, um die Aufregungen der Woche und den Hunger nach Geld zu vergessen — nach dem Geld, das 7 sie so dringend brauchten, um ihre großen Familien durch die endlos erscheinende Wirtschaftskrise zu bringen. Die Bürgersteige von Williamsburg bestanden aus brüchigen Zementplatten. Der Straßenbelag war aus Asphalt, der in den erstickend heißen Sommern aufweichte und in dem während der strengen Winter die Schlaglöcher aufbrachen. Viele Häuser waren aus Sandstein und standen dicht nebeneinander, keines war höher als zwei oder drei Stockwerke. Dort lebten Juden, Iren, Deutsche und einige Flüchtlingsfamilien, die vor Beginn des Zweiten Weltkriegs vor dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Franco-Regime geflohen waren. Die meisten Geschäfte wurden von NichtJuden geführt, manche gehörten aber auch orthodoxen Juden, Mitgliedern chassidischer Sekten dieses Bezirks. Man konnte sie mit ihren schwarzen Käppchen, den Vollbärten und langen Schläfenlocken hinter ihren Ladentischen stehen sehen. Sie verdienten sich ihren kargen Lebensunterhalt und träumten vom Schabbes und von den Festtagen, an denen sie ihre Geschäfte schließen und ihre Aufmerksamkeit ihren Gebeten, ihrem Rabbi und ihrem Gott zuwenden konnten. Alle orthodoxen Juden schickten ihre männlichen Nachkommen in die Jeschiwa, eine jüdische Konfessionsschule, wo von acht oder neun Uhr morgens bis vier oder fünf Uhr nachmittags unterrichtet wurde. Freitags entließ man die Schüler für gewöhnlich schon um ein Uhr, damit sie sich auf den Schabbes vorbereiten konnten. Eine jüdische Erziehung war Pflicht für alle Orthodoxen, aber da man in Amerika war und nicht in Europa, schrieb der Lehrplan auch englische Unterrichtsfächer vor, so daß jeder Schüler eine doppelte Last zu tragen hatte: morgens den hebräischen, nachmittags den englischen Unterricht. Zum entscheidenden Prüfstein für ihre intellektuellen Fähigkeiten jedoch war der Tradition und stillschweigender Übereinkunft nach ein einziges Unterrichtsfach geworden: der Talmud. Exzellente Kenntnis des Talmud war das Ziel, das jeder Jeschiwa-Schüler am meisten anstrebte, denn nur diese garantierte den Ruf hervorragender Intelligenz. Danny besuchte die kleine Jeschiwa, die sein Vater gegründet hatte. Ich ging außerhalb von Williamsburg auf die Jeschiwa von Crown Heights, an der mein Vater unterrichtete. Auf diese Jeschiwa sahen die Schüler der anderen jüdischen Konfessionsschulen Brooklyns ein wenig herab. Sie bot mehr englische Fächer an als das im Lehrplan vorgesehene Minimum, und die jüdischen Fächer wurden hebräisch und nicht jiddisch unterrichtet. Die meisten Schüler waren Kinder von der Art jüdischer Einwanderer, die sich von der Getto-Mentalität emanzipiert glaubten, die für die jüdischen Konfessionsschulen Brooklyns typisch war. Danny und ich wären uns wahrscheinlich niemals begegnet - und wenn, dann unter völlig anderen Umständen —, wäre da nicht der Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg gewesen, der bei einigen englisch unterrichtenden Lehrern der jüdischen Konfessionsschulen den Ehrgeiz weckte, der nichtjüdischen Welt zu beweisen, daß Jeschiwa-Schüler trotz ihres langen Unterrichts körperlich genauso fit waren wie alle anderen amerikanischen Schüler. Sie machten sich daran, diesen Beweis zu erbringen, indem sie für alle Jeschiwas unseres Bezirks und der weiteren Umgebung Sportligen organisierten. Alle zwei Wochen traten die Schulen in den unterschiedlichsten Sportarten gegeneinander an. Ich wurde Mitglied der Baseballmannschaft unserer Schule. An einem Sonntagnachmittag Anfang Juni trafen sich die fünfzehn Mitglieder unserer Mannschaft mit unserem Sportlehrer auf dem Schulsportplatz. Es war ein warmer Tag, und die Sonne brannte auf den Asphaltbelag des Platzes. Unser Sportlehrer war ein kleiner, untersetzter Mann Anfang Dreißig, der morgens an einer staatlichen High-School lehrte und sein Einkommen aufbesserte, indem er nachmittags an unserer Jeschiwa unterrichtete. Er trug ein weißes Polohemd, weiße Hosen und einen weißen Pullover, und an der unbeholfenen Art, mit der er-die kleine schwarze Kappe auf seinem kahlen, runden Kopf trug, war zu erkennen, daß er sie nicht gerade gewohnheitsmäßig aufsetzte. Wenn er sprach, schlug er immer wieder die rechte Faust in die linke Handfläche, um damit seinen Standpunkt zu unterstreichen. Wie ein im Ring tänzelnder Boxer lief er auf seinen Fußballen. Dem professionellen Baseball war er fanatisch verfallen. Seit zwei Jahren trainierte er unser Baseball-Team. Während dieser Zeit hatte er es geschafft, aus fünfzehn ungelenken Tolpatschen die Spitzenmannschaft der Liga zu formen, mit einer Mischung aus Geduld, Glück und geschickter Taktik in schwierigen Spielen und mit seinen lautstarken Anfeuerungsrufen, bei denen er die Fäuste schwang und es darauf anlegte, unseren Patriotismus zu wecken und uns die Bedeutung von Athletik und körperlicher Fitness für die Anforderungen des Krieges vor Augen zu führen. Sein Name war Mr, Galanter, und wir alle wunderten uns, warum er nicht irgendwo an der Front kämpfte. I 9 Während meiner zwei Jahre in der Mannschaft war ich recht gut auf der Position des zweiten Laufmals geworden. Außerdem hatte ich einen schnellen, trickreichen Wurf entwickelt, der den Schlagmann zu einem Schwung provozierte, aber dem Ball einen solchen Drall gab, daß er im letzten Moment unter dem Schläger abtauchte und so einen Fehlschlag erzwang. Mr. Galanter setzte mich am Anfang des Spiels immer am zweiten Laufmal ein. Nur wenn es sehr eng wurde, kam ich als Werfer zum Einsatz; denn seine Baseballphilosophie beruhte, wie er es einmal auf den Punkt brachte, vor allem auf dem defensiven Zusammenhalt des Innenfeldes. An jenem Nachmittag stand ein Spiel gegen die Siegermannschaft einer Liga aus der Nachbarschaft auf dem Plan, ein Team, das für aggressives, offensives Schlagspiel, aber auch für seine schwachen Rück-würfe bekannt war. Mr. Galanter hämmerte uns ein, unser Innenfeld müsse eine geschlossene Verteidigungslinie bilden. Während der Aufwärmphase, in der unsere Mannschaft allein auf dem Platz war, hieb er immerzu seine rechte Faust in die linke Handfläche und schrie, wir sollten eine geschlossene Verteidigungslinie aufbauen. »Keine Lücken«, schrie er uns von der Nähe des Schlagmals aus zu. »Keine Lücken, hört ihr? Goldberg, soll das etwa eine geschlossene Verteidigungslinie sein? Dichter zusammen. Da paßt ja noch ein Schlachtschiff zwischen dich und Malter. Ja, so ist's richtig. Schwartz, was machst du da? Hältst du nach Fallschirmjägern Ausschau? Das hier ist ein Ballspiel. Der Feind kämpft auf dem Boden. Zu weit, Goldberg. Du mußt zielen wie ein Scharfschütze. Gib ihm den Ball nochmal zurück. Wirf ihn. Gut so. Wie ein Scharfschütze. Sehr gut. Haltet das Innenfeld zusammen. In diesem Krieg gibt's keine Schützengräben.« Wir schlugen und warfen uns ein. Es war sonnig und warm, und neben dem angenehmen Gefühl, daß der Sommer bald kommen würde, verspürten wir die Anspannung vor dem Spiel. Wir wollten unbedingt gewinnen - für uns selbst, aber mehr noch für Mr. Galanter, denn wir hatten die Ernsthaftigkeit schätzen gelernt, die sich in seiner Gewohnheit ausdrückte, ständig die rechte Faust in die linke Handfläche zu schlagen. Für die Rabbiner, die an den Konfessionsschulen unterrichteten, war Baseball eine schlimme Zeitvergeudung, eine Ausgeburt der Assimilierung, die von. den wachsenden englischen Unterrichtsanteilen an der Jeschiwa ausging. Trotzdem rangierte ein Sieg in unserer Baseball-Liga für die meisten Konfessionsschüler inzwischen kaum noch hinter einer 10 Bestnote im Talmud, denn damit konnte man unwiderlegbar unter Beweis stellen, daß man Amerikaner war, und als loyale Amerikaner angesehen zu werden, war für uns in diesen letzten Kriegsjahren immer wichtiger geworden. Mr. Galanter also stand in der Nähe des Schlagmals, feuerte uns laut an und brüllte seine Anweisungen, und wir schlugen und warfen den Ball über den Platz. Ich verließ kurz das Spielfeld, um meine Brille für das Spiel fertigzumachen. Ich trug eine Brille mit Perlmuttfassung, und vor jedem Spiel bog ich die Ohrbügel nach innen, damit die Brille fest saß und mir nicht von der Nase rutschte, wenn ich zu schwitzen anfing. Ich wartete immer bis unmittelbar vor dem Spiel damit, die Bügel zurechtzubiegen, denn nach innen gebogen drückten sie sich scharf in die Ohrmuscheln ein, und diesen Schmerz wollte ich nicht einen Moment länger als nötig ertragen. Noch Tage nach dem Spiel taten mir stets die Ohren weh, aber ich dachte, das sei immer noch besser, als ständig die Brille über den Nasenrücken hochschieben zu müssen oder Gefahr zu laufen, sie plötzlich während eines wichtigen Spiels zu verlieren. Davey Cantor, der als Ersatzmann nur einspringen mußte, wenn der First stringer vom Platz gestellt wurde, stand bei dem Schutzzaun hinter der Home base. Davey war klein, hatte ein rundes Gesicht, dunkles Haar und trug eine eulenhafte Brille auf seiner sehr semitisch gebogenen Nase, Er beobachtete, wie ich meine Brille herrichtete. »Du machst dich gut da draußen, Reuven«, sagte er. »Danke«, sagte ich. »Das ganze Team macht sich gut.« »Wird bestimmt ein gutes Spiel.« Er starrte mich durch seine Brille an. »Glaubst du?« fragte er, »Klar, warum nicht?« »Hast du sie schon mal spielen sehen, Reuven?« »Nein.« »Das sind Mörder.« »Na klar«, sagte ich. »Nein, wirklich. Die sind gefährlich.« »Hast du sie schon spielen sehen?« »Zweimal. Das sind Mörder.« »Jeder spielt, um zu gewinnen, Davey.« »Die spielen nicht nur, um zu gewinnen. Die spielen, als ob es ums erste der Zehn Gebote ginge.« 11 Ich lachte. »Diese Jeschiwa? Jetzt hör aber auf, Davey.« »Das ist die Wahrheit.« »Bestimmt«, sagte ich, »Rebbe Saunders hat ihnen eingebleut, niemals zu verlieren, weil das eine Schande für ihre Jeschiwa wäre, oder so was. Ich weiß auch nicht genau. Du wirst es erleben.« »He, Malter!« rief Mr. Galanter. »Was ist mit dir, willst du dieses Spiel aussetzen?« »Denk an meine Worte«, sagte Davey Cantor. »Klar.« Ich grinste ihn an. »Ein heiliger Krieg.« Er sah mich an. »Spielst du heute?« fragte ich ihn. »Mr. Galanter meinte, ich soll vielleicht auf das zweite Laufmal, falls du werfen mußt.« »Na dann, viel Glück.« »He, Malter!« brüllte Mr. Galanter. »Wir haben Krieg.« »Ja, Sir«, sagte ich und rannte zurück an meine Position am zweiten Laufmal. Wir warfen und schlugen uns noch ein paar Minuten lang ein, dann ging ich zur Home base, um noch ein paar Schläge zu üben. Ich schlug einen langen Ball ins linke Feld und dann einen schnellen zum Shortstop, der ihn geschickt annahm und rasch an den ersten Schlagmann abgab. Ich hatte gerade zum nächsten Schlag ausgeholt, als jemand sagte: »Da sind sie.« Ich nahm den Schläger auf die Schulter und beobachtete, wie die gegnerische Mannschaft hinter unserem Block auftauchte und auf den Platz zukam. Ich bemerkte, wie Davey Cantor nervös gegen den Drahtzaun hinter der Home base trat und dann die Hände in den Taschen seiner Trainingshose vergrub. Seine aufgerissenen Augen blickten düster durch die eulenhaften Brillengläser. Ich sah sie auf den Platz kommen. Es waren fünfzehn Mann, alle trugen die gleichen weißen Hemden, dunklen Hosen, weißen Pullover und schwarzen Käppchen. Wie es die Tradition der Ultra-Orthodoxen gebot, war ihr Haar kurz geschoren, bis auf die Stelle nahe den Ohren, an der das unberührte Haar wuchs, das in langen Schläfenlocken herunterbaumelte. Bei einigen begann der Bart schon zu wachsen und stand in spärlichen Büscheln von Kinn, Wangenknochen oder Oberlippe ab. Alle trugen sie traditionelle Unterkleider unter ihren Hemden, und die Tzitzit, die langen Schaufäden an den vier Enden ihres Gewandes, hingen oberhalb des Gürtels heraus und schlugen beim Gehen gegen die Hosen. Das waren also Ultra-Orthodoxe, die das biblische Gebot »Und Ihr sollt sie anschauen«, das sich auf die Schaufäden bezieht, wörtlich nahmen. Im Gegensatz zu unseren Gegnern harte unsere Mannschaft keine einheitliche Spielkleidung, jeder trug, was er wollte: Trainingshose, kurze Hose, lange Hose, Polohemd, Pulli und sogar Unterhemd. Manche von uns trugen Schaufäden, andere nicht. Aber keiner von uns trug die Schaufäden über der Hose: Das einzig Uniforme, das wir alle gemeinsam hatten, war unser schwarzes Käppchen. Unsere Gegner stellten sich an der Seite des ersten Laufmals auf, hinter dem Schutzzaun der Home base, eine schwarzweiße, stumme Menge mit Schlägern, Bällen und Fanghandschuhen in den Händen. Ich schaute sie mir an. Sie machten nicht den Eindruck, besonders wild und gefährlich zu sein. Davey Cantor trat wieder gegen den Schutzzaun, dann wandte er sich ab, ging zum dritten Laufmal und rieb dabei seine Hände nervös an der Trainingshose. Mr. Galanter ging ihnen freundlich lächelnd entgegen; er lief auf seinen Fußballen, und das Käppchen auf seinem kahlen Schädel kam gefährlich ins Rutschen. Ein Mann löste sich aus der schwarzweißen Menge und ging einen Schritt auf ihn zu. Er war etwa Ende Zwanzig und trug einen schwarzen Anzug, schwarze Schuhe und einen schwarzen Hut. Er hatte einen schwarzen Bart und hielt ein Buch unter dem Arm. Offensichtlich war er ein Rabbi, und ich wunderte mich, daß die Jeschiwa einen Rabbi und keinen-Sportlehrer als Trainer einsetzte. Mr. Galanter ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Wir sind bereit«, sagte der Rabbi auf jiddisch und schüttelte mit unverhohlenem Desinteresse Mr. Galanten Hand. »Schön«, antwortete Mr. Galanter lächelnd auf englisch. Der Rabbi warf einen Blick über das Spielfeld. »Haben Sie schon gespielt?« fragte er. »Was meinen Sie?« fragte Mr. Galanter. »Haben Sie sich eingespielt?« »Ja, natürlich...« »Wir wollen uns auch einspielen.« »Warum denn das?« fragte Mr. Galanter und wirkte erstaunt. »Sie haben sich eingespielt, jetzt spielen wir uns ein.« »Haben Sie sich denn nicht auf Ihrem eigenen Platz eingespielt?« »Das haben wir.« 12 13 »Nun, dann...« »Aber wir haben noch nie auf Ihrem Platz gespielt. Wir brauchen nur ein paar Minuten.« »Gut, aber viel Zeit haben wir nicht mehr«, sagte Mr. Galanter. »Den Regeln nach spielt sich jede Mannschaft: auf ihrem eigenen Platz ein.« »Wir brauchen nur fünf Minuten«, beharrte der Rabbi. »Gut«, sagte Mr. Galanter. Er lächelte nicht mehr. Er begann am liebsten immer sofort mit dem Spiel, wenn wir auf unserem eigenen Platz antraten. Damit wolle er verhindern, daß wir wieder kalt würden, sagte er. »Fünf Minuten«, sagte der Rabbi. »Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen den Platz verlassen.« »Weshalb das?« fragte Mr. Galanter. »Wir können uns nicht einspielen, wenn Ihre Leute auf dem Feld stehen. Sagen Sie ihnen, sie sollen den Platz verlassen.« »Also gut«, sagte Mr. Galanter, dann hielt er inne. Er dachte eine Weile nach. Die schwarzweiße Menge hinter dem Rabbi stand bewegungslos da und wartete. Ich sah Davey Cantor auf den Asphaltboden des Platzes stampfen. »Also in Ordnung. Fünf Minuten. Von jetzt an fünf Minuten.« »Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen den Platz verlassen«, wiederholte der Rabbi. Mr. Galanter starrte mit düsterem Blick über den Platz, er wirkte entnervt. »Alle Mann vom Platz«, rief er ohne besonderen Nachdruck. »Sie wollen fünf Minuten zum Aufwärmen. Los, los. Haltet die Arme in Bewegung. Seht zu, daß ihr warm bleibt. Werft euch hinter der Home base ein. Los!« Unser Team trollte sich vom Feld. Die schwarzweiße Masse in der Nähe des Schutzzauns rührte sich nicht. Der junge Rabbi drehte sich zu seiner Mannschaft um. Et sprach jiddisch. »Wir haben den Platz fünf Minuten lang«, sagte er. »Ihr wißt, warum wir spielen und für wen.« Dann trat er beiseite, und die schwarzweiße Menge löste sich in fünfzehn Einzelspieler auf, die aufs Spielfeld rannten. Einer von ihnen, ein großer Bursche mit sandfarbenem Haar, dessen lange Arme und Beine nur aus spitzen Knochen zu bestehen schienen, stand bei der Home base und begann, den anderen Spielern die Bälle zuzuschlagen. Er schlug ein paar einfache Grundbälle und Pop ups, während die Feldspieler sich gegenseitig auf jiddisch anfeuerten. Sie waren schlecht 14 in Form, ließen die einfachsten Grundbälle fallen, warfen sie dann ungezielt zurück und grapschten tolpatschig nach den Flugbällen. Ich sah zu dem jungen Rabbi hinüber. Er hatte sich auf der Bank in der Nähe des Schutzzaunes niedergelassen und las in seinem Buch. Auf dem weiten Gelände hinter dem Schutzzaun hielt uns Mr. Galanter beim Einwerfen in Bewegung. »Die Bälle in der Luft halten!« rief er und hieb seine Faust in die Handfläche. »Vor diesem Feuergefecht darf sich keiner drücken! Nie den Feind unterschätzen!« Aber in seinem Gesicht stand ein breites Lächeln. Nachdem er die andere Mannschaft beim Einspielen gesehen hatte, schien er sich keine Sorgen mehr über den Ausgang des Spiels zu machen. In dem kurzen Moment zwischen zwei Würfen sagte ich mir, daß ich Mr. Galanter mochte. Ich fragte mich, warum er ständig Kriegsausdrücke gebrauchte und weshalb er eigentlich nicht bei der Armee war. Davey Cantor rannte an mir vorbei, um einen Ball aufzunehmen, der ihm durch die Beine gegangen war. »Das sind sie also, deine Mörder«, sagte ich grinsend. »Du wirst schon sehen«, sagte er, während er sich nach dem Ball bückte. »Klar«, sagte ich. »Besonders der, der jetzt schlägt. Du wirst schon sehen.« Der Ball flog auf mich zu, ich fing ihn geschickt auf und warf ihn zurück. »Wepist der, der jetzt schlägt?« fragte ich. »Danny Saunders.« »Entschuldige meine Unwissenheit, aber wer ist Danny Saunders?« »Der Sohn von Rebbe Saunders«, sagte Davey Cantor und zwinkerte mit den Augen. »Ich bin beeindruckt.« »Du wirst schon sehen«, sagte Davey Cantor und rannte mit seinem Ball davon. Mein Vater, der für chassidische Gemeinden und ihre rabbinischen Oberhirten nichts übrig hatte, hatte mir von Rabbi Isaac Saunders und der Glaubensstrenge erzählt, mit der er über seine Gemeinde herrschte und jüdische Rechtsfragen entschied. Mr. Galanter warfeinen Blick auf seine Armbanduhr, dann faßte er die Mannschaft auf dem Spielfeld ins Auge. Die fünf Minuten waren offensichtlich um, aber die Spieler machten keine Anstalten, den Platz 15 zu verlassen. Danny Saunders stand jetzt am ersten Laufmal, und ich bemerkte, wie er seine langen Arme und Beine zu seinem Vorteil einzusetzen wußte; durch Strecken und Springen gelang es ihm, die meisten der schlecht gezielten Bälle, die auf ihn zukamen, zu fangen. Mr. Galanter ging zu dem jungen Rabbi hinüber, der noch immer auf der Bank saß und las. »Das waren fünf Minuten«, sagte er, Der Rabbi schaute von seinem Buch auf. »Bitte?« fragte er. »Die fünf Minuten sind um«, antwortete Mr. Galanter. Der Rabbi blickte auf den Platz. »Genug«, rief er auf jiddisch. »Zeit für das Spiel!« Dann blickte er wieder in sein Buch und las weiter. Die Spieler warfen sich den Ball noch ein oder zwei Minuten lang zu und gingen dann gemächlich vom Platz. Danny Saunders, der immer noch den Handschuh des ersten Schlagmanns trug, ging an mir vorüber. Er war ein gutes Stück größer als ich, und im Gegensatz zu meinen ziemlich normalen, aber gur proportionierten Gesichtszügen und meinem dunklen Haar wirkte sein Gesicht wie aus Stein gemeißelt. Sein Kinn, seine Kiefer- und Wangenknochen bildeten eine hervorspringende harte Linie, seine Nase war spitz und gerade, seine Lippen waren voll und bogen sich unter der Nasenmitte in einem steilen Winkel ab, dann neigten sie sich nach unten und formten einen viel zu breiten Mund. Seine Augen waren tiefblau, und die spärlichen Haarbüschel an Kinn, Wangen und über der Oberlippe, sein kurzgeschnittenes Haar und die seitlich herunterbaumelnden Schläfenlocken waren sandfarben. Seine Arme und Beine bewegte er schlenkernd und ungelenk, redete jiddisch auf einen seiner Mannschaftskameraden ein und sah durch mich hindurch, als er an mir vorüberging. Ich konnte seinen chassidischen Überlegenheitsdünkel nicht ausstehen und sagte mir, es werde mir eine große Genugtuung sein, ihn und seine Mannschaft heute nachmittag zu schlagen. Der Schiedsrichter, ein Sportlehrer aus einer Konfessionsschule zwei Häuserblocks weiter, rief die beiden Mannschaften zusammen, um zu entscheiden, wer als erster schlagen sollte. Er warf einen Schläger in die Luft. Ein Spieler der anderen Mannschaft fing ihn auf, ließ ihn aber beinahe wieder fallen. Während der Hand-über-Kreuz-Wahl kam Davey Cantor herüber und stellte sich neben mich. »Was meinst du?« fragte er. »Das ist ein hochnäsiger Haufen«, sagte ich zu ihm. »Was hältst du von ihrem Spiel?« »Die sind lausig.« »Das sind Mörder.« »Jetzt komm schon, Davey«. »Du wirst schon sehen«, sagte Davey Cantor und schaute mich mit düsterem Blick an. »Ich habe es gerade gesehen.« »Du hast gar nichts gesehen.« . »Doch, bestimmt«, sagte ich, »und wenn es hart auf hart kommt, kommt der Prophet Elias und steht ihnen bei.« »Ich sage das nicht zum Spaß«, sagte er und sah beleidigt aus. »Mörder«, sagte ich lachend. Die Mannschaften begannen sich zu verteilen. Wir hatten die Wahl verloren, und die anderen harten entschieden, als erste zu schlagen. Wir liefen auf das Feld. Ich nahm meine Position am zweiten Laufmal ein. Ich sah den jungen Rabbi in der Nähe des Zaunes sitzen und lesen. Eine Minute lang warfen wir uns noch ein. Mr. Galanter stand ganz in der Nähe des dritten Laufmals und feuerte uns an. Es war warm, ich schwitzte leicht, und ich fühlte mich fit. Endlich verlangte der Schiedsrichter, der seine Position hinter dem Werfer eingenommen hatte, den Ball, und jemand warf ihn ihm zu. Er übergab ihn dem Werfer und rief: »Los! Spielt den Ball!« Wir nahmen unsere Plätze ein. Mr. Galanter rief: »Goldberg, nach innen!« Und Sidney Goldberg, unser Shortstop, machte zwei Schritte vorwärts etwas näher ans dritte Laufmal heran. »Okay, gut«, sagte Mr. Galanter. »Haltet das Innenfeld zusammen!« Ein magerer kleiner Kerl ging zum Schlagmal, nahm mir zusammengepreßten Füßen Aufstellung und hielt seinen Schläger unbeholfen über dem Kopf. Er trug eine Nickelbrille, die seinem Gesicht den Ausdruck eines verbitterten alten Mannes verlieh. Beim ersten Wurf holte er so unkontrolliert aus, daß er sich durch die Schwungkraft einmal um die eigene Achse drehte. Dabei flogen die Schläfenlocken an beiden Seiten seines Kopfes hoch und beschrieben, seiner Drehung folgend, fast einen horizontalen Kreis in der Luft. Dann fing er sich und nahm seine Position am Schlagmal wieder ein, ein magerer kleiner Kerl mit zusammengepreßten Füßen, der unbeholfen seinen Baseballschläger über dem Kopf hielt. Der Schiedsrichter zählte den Fehlschlag mit lauter, deutlicher Stimme, und ich sah Sidney Goldberg breit zu mir herübergrinsen. 16 17 »Wenn er auf dieselbe Art den Talmud studiert, ist er erledigt«, sagte Sidney Goldberg. Ich grinste zurück. »Haltet das Innenfeld beisammen«, rief Mr. Galanter vom dritten Laufmal aus. »Malter, ein bißchen weiter nach links! Gut!« Der nächste Ball kam zu hoch, der kleine Schlagmann versuchte ihn zu treffen, verlor dabei seinen Schläger und stürzte nach vorn auf die Hände. Wieder schauten Sidney Goldberg und ich uns an. Sidney war einer meiner Klassenkameraden. Unser Körperbau ähnelte sich, wir waren beide schlank und gelenkig, und unsere Arme und Beine waren etwas zu knochig. Er war kein besonders guter Schüler, aber ein ausgezeichneter Shortstop. Wir wohnten im selben Häuserblock und waren gute, wenn auch keine engen Freunde. Er trug ein Unterhemd und eine Trainingshose, darüber die Kleidung ohne Schaufäden. Ich hatte ein hellblaues Hemd und dunkelblaue Arbeitshosen an und trug das Gewand mit den vier Zipfeln unter dem Hemd. Der magere kleine Kerl stand weiter mit zusammengepreßten Füßen am Schlagmal und hielt den Schläger mit demselben unbeholfenen Griff über dem Kopf. Er verpaßte den nächsten Ball, und der Schiedsrichter zählte ihn als Fehler. Ich sah den jungen Rabbi kurz von seinem Buch aufschauen, dann las er weiter. »Noch zwei«, rief ich unserm Werfer aufmunternd zu, »noch zwei solche, Schwartzie!« und dachte, so sehen also »Mörder« aus. Ich beobachtete, wie Danny Saunders auf den kleinen Schlagmann zuging und auf ihn einredete. Der richtete seinen Blick auf den Boden, in dem er wohl vor Scham versinken wollte. Er ließ den Kopf hängen und verzog sich hinter den Schutzzaun. Ein zweiter magerer, kleiner Schlagmann nahm seinen Platz ein. Ich sah mich nach Davey Cantor um, konnte ihn aber nicht entdecken. Der Neue schlug unkontrolliert nach den ersten beiden Bällen und verpaßte sie. Er schlug nach dem dritten Ball. Ich hörte das laute Klack, mit dem der Schläger den Ball traf, sah den Ball blitzschnell in gerader Linie auf Sidney Goldberg zufliegen, der ihn auffing, kurz nachfaßte und ihn schließlich im Handschuh hielt. Er gab den Ball an mich ab, und wir warfen ihn einmal um die Runde. Ich beobachtete, wie Sidney seinen Handschuh auszog und seine linke Hand ausschüttelte. »Das hat weh getan«, sagte er und grinste mich an. »Gut gefangen«, sagte ich zu ihm. 18 »Hat aber auch weh getan«, meinte er und stülpte sich den Handschuh wieder über. Der breitschultrige Bursche, der sich jetzt am Schlagmal aufstellte, war gebaut wie ein Bär. Er schlug nach dem ersten Ball, verpaßte ihn, schlug nach dem zweiten Ball und schickte ihn in gerader Linie über den Kopf des dritten Baseman ins linke Feld. Ich rannte zum zweiten Laufmal, nahm Aufstellung und rief nach dem Ball. Unser linker Feldspieler fing ihn erst auf, nachdem er zweimal aufgeprallt war, und spielte ihn zu mir ab. Der Ball kam ein bißchen hoch, so daß ich meinen Handschuh nach ihm ausstrecken mußte. Mehr mit dem Körper als mit den Augen nahm ich wahr, wie der Schlagmann zum zweiten Laufmal hinüberwechselte, und im selben Moment, in dem ich den Ball mit dem Handschuh auffangen wollte, prallte der Bursche mit der Wucht eines Lastwagens mit mir zusammen. Der Ball flog über meinen Kopf hinweg, und ich schlug vornüber hart auf dem Asphaltboden auf. Der Schlagmann rannte an mir vorbei zum dritten Laufmal, die Schaufäden wehten hinter ihm her, während er mit der rechten Hand sein Käppchen festhielt. Abe Goodstein, unser Mann am ersten Laufmal, brachte den Ball nach Hause. Der Schlagmann stand mit einem breiten Grinsen am dritten Laufmal. Die Jeschiwa-Spieler brachen in wildes Hurrageschrei aus und brüllten ihm auf jiddisch ihre Glückwünsche zu. Sidney Goldberg half mir wieder auf die Beine. »So ein brutaler Kerl«, sagte er. »Du warst ihm gar nicht im Weg!« »Meine Güte«, sagte ich und atmete ein paarmal tief durch. Ich hatte mir die fechte Handfläche aufgeschürft. »Ein brutaler Kerl«, wiederholte Sidney Goldberg. Ich sah, daß Mr. Galanter auf den Platz stürmte und beim Schiedsrichter protestierte. »Was war das für ein Spiel?« fragte er ihn aufgebracht. »Wie werden Sie das ahnden?« »Sicher auf dem Dritten«, sagte der Schiedsrichter. »Ihr Mann stand im Weg.« Mr. Galanters Kiefer klappte nach unten. »Sagen Sie das nochmal!« »Sicher auf dem Dritten«, wiederholte der Schiedsrichter. Mr. Galanter sah zuerst aus, als wolle er ernsthaft Streit anfangen, aber er überlegte es sich und blickte zu mir herüber. »Alles in Ordnung mit dir, Malter?« »Es geht schon«, sagte ich und atmete noch einmal tief durch. Mr. Galanter ging wütend vom Platz. 19 »Spielt den Ball!« rief der Schiedsrichter. Die Jeschiwa-Mannschafr beruhigte sich langsam wieder. Ich beobachtete, wie der junge Rabbi von seinem Buch aufschaute und still vor sich hin lächelte. Jetzt ging ein großer, schmal gebauter Spieler zum Schlagmal, brachte seine Füße korrekt in Stellung, schwang den Schläger ein paarmal und kauerte sich dann in Wartestellung nieder - Danny Saunders. Ich spreizte und schloß meine rechte Hand, die vom Sturz immer noch weh tat. »Ein Stück zurück! Ein Stück zurück!« rief Mr. Galanter, der in der Nähe des dritten Mals stand, und ich trat zwei Schritte zurück. Ich wartete in geduckter Stellung. Der erste Ball ging daneben, und die Mannschaft der Jeschiwa brach in lautes Gelächter aus. Der junge Rabbi saß auf der Bank und beobachtete gespannt Danny Saunders. »Ganz ruhig, Schwartzie«, rief ich unserem Werfer zu, um ihm Mut zu machen. Der nächste Ball flog ungefähr einen Fuß über Danny Saunders' Kopf hinweg, und die Jeschiwa-Mannschaft brüllte vor Lachen. Sidney Goldberg und ich sahen uns an. Mr. Galanter stand regungslos beim dritten Laufmal und starrte auf unseren Werfer. Der Rabbi beobachtete noch immer Danny Saunders. Schwartzie warf als nächstes einen flachen, langen Ball, und noch bevor er den halben Weg zum Schlagmal erreicht hatte, wußte ich, daß Danny Saunders darauf aus war, ihn zu treffen. Ich erkannte es an der Art, wie sein linker Fuß nach vorne kam, der Schläger nach hinten kippte und sein langer, dürrer Körper zu einer schnellen Drehung ansetzte. Ich wartete angespannt auf das Geräusch, das entsteht, wenn der Schläger den Ball trifft, und als es dann kam, klang es wie ein Gewehrschuß. Für den Bruchteil einer Sekunde verlor ich den Ball aus den Augen. Im nächsten Augenblick sah ich, wie Schwartzie zu Boden hechtete und der Ball genau an der Stelle die Luft durchschnitt, an der eben noch sein Kopf gewesen war. Ich versuchte, den Ball abzufangen, aber er war zu schnell, und kaum hatte ich meinen Handschuh oben, da war er schon im Centerfield. Einer von uns fing ihn nach dem ersten Aufsetzen und warf ihn Sidney Goldberg zu, aber im selben Moment stand Danny Saunders schon sicher auf meinem Laufmal, und die Jeschiwa-Mannschaft brüllte vor Begeisterung. 20 Mr. Galanter verlangte eine Auszeit und ging auf Schwartzie zu, um mit ihm zu reden. Sidney Goldberg nickte mir zu, und wir liefen ebenfalls zu ihnen hinüber. »Dieser Ball hätte mich umbringen können«, sagte Schwartzie. Er war mittelgroß, hatte ein langes Gesicht, das von einer schlimmen Akne gezeichnet war. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Herr im Himmel, habt ihr diesen Ball gesehen?« »Ich habe ihn gesehen«, sagte Mr. Galanter grimmig. »Der war zu schnell. Den konnte er nicht abfangen, Mr. Galanter«, kam ich Schwartzie zu Hilfe. »Ich habe schon von Danny Saunders gehört«, sagte Sidney Goldberg. »Der zielt angeblich immer auf den Werfer,« »Das hättest du mir sagen sollen«, beschwerte sich Schwartzie, »dann wäre ich darauf vorbereitet gewesen.« »Ich habe das bis jetzt nur gehört«, sagte Sidney Goldberg. »Glaubst du vielleicht immer alles, was du hörst?« »Herr im Himmel, dieser Ball hätte mich umbringen können«, wiederholte Schwartzie. »Willst du weiterspielen als Werfer?« fragte Mr. Galanter. Ein paar Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und er sah düster aus. »Klar, Mr. Galanter. Es geht schon wieder«, sagte Schwartzie. »Bist du sicher?« »Ja, ganz sicher.« »Ich will keine Helden in diesem Krieg«, sagte Mr. Galanter. »Ich habe'lieber lebende Soldaten als tote Helden.« »Ich bin kein Held«, murmelte Schwartzie lahm. »Aber ich werde durchhalren, Mr. Galanter. Mein Gott, das war ja erst der erste Durchgang.« »In Ordnung, Soldat.« Mr. Galanters Stimme klang nicht mehr sehr enthusiastisch. »In diesem Krieg brauchst du nur die Stellung zu halten.« »Ich werde mein Bestes tun, Mr. Galanter«, sagte Schwartzie. Mr. Galanter nickte, noch immer grimmig, und verließ das Spielfeld. Ich sah, wie er sich mit seinem Taschentuch die Stirn abwischte. »Herr im Himmel«, sagte Schwartzie, als Mr. Galanter gegangen war, »dieser Bastard hat genau auf meinen Kopf gezielt!« »Also komm, Schwartzie«, meinte ich. »Wer ist das denn schon? Doch nicht Babe Ruth.« »Du hast selbst gehört, was Sidney gesagt hat.« 21 »Wenn du ihnen den Ball nicht auf dem Silbertablett servierst, dann werden sie auch nicht derart zurückschlagen.« »Wer serviert ihnen den Ball auf dem Silbertablett«, beklagte sich Schwartzie. »Das war ein großartiger Wurf.« »Ganz bestimmt«, sagte ich. Der Schiedsrichter kam auf uns zu. »Wollt ihr hier vielleicht den ganzen Nachmittag verplaudern?« fragte er, ein stämmiger Mann Ende Vierzig, der ungeduldig aussah. »Nein, Sir«, antwortete ich höflich, und Sidney und ich rannten zurück auf unsere Positionen. Danny Saunders stand auf meinem Laufmal. Er schwitzte, sein weißes Hemd klebte ihm an Armen und Rücken fest. »Das war ja ein feiner Schlag«, warf ich ihm zu. Er sah mich merkwürdig an und blieb stumm. »Schlägst du immer direkt auf den Werfer?« fragte ich. Er lächelte schwach. »Du bist also Reuven Malter«, sagte er in perfektem Englisch. Er hatte eine tiefe, näselnde Stimme. »Stimmt«, sagte ich und fragte mich, wo er meinen Namen herhatte. »Dein Vater ist doch der David Malter, der Artikel über den Talmud schreibt?« »Ja.« »Ich habe meiner Mannschaft versprochen, daß wir euch Apikorsim heute nachmittag fertigmachen werden.« Das sagte er gleichmütig, ohne seiner Stimme irgendeinen Ausdruck zu verleihen. Ich starrte ihn an und hoffte, daß meinem Gesicht die plötzliche eisige Kälte, die ich spürte, nicht anzusehen war. »Klar«, meinte ich. »Reib deine Tzitzit, das bringt Glück.« Ich wandte mich von ihm ab und ging am Laufmal in Stellung. Drüben am Schutzzaun sah ich Davey Cantor stehen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, starrte er hinaus aufs Feld. Ich nahm die geduckte Warteposition ein, denn Schwartzie setzte schon zum Wurf an. Der Schlagmann hieb kräftig nach den ersten beiden Bällen, verpaßte sie aber. Der nächste Ball kam flach, und auch diesen ließ er passieren; dann schlug er einen Bodenball zu unserem ersten Baseman, der ihn fallen ließ, hektisch nachlangte und ihn gerade noch rechtzeitig zu fassen bekam, um zu sehen, wie Danny Saunders das Laufmal passierte. Einen Moment lang war unser Baseman konsterniert, dann warf er den Ball zu Schwartzie zurück. Ich sah Mr. Galanter in der Nähe des dritten 22 Laufmals stehen und seine Stirn abwischen, Die Jeschiwa-Mannschaft tobte schon wieder, und alle versuchten, Danny Saunders zu erwischen und ihm die Hand zu schütteln. Der Rabbi grinste, dann schaute er wieder in sein Buch und las weiter. Sidney Goldberg kam zu mir herüber. »Was hat Saunders gesagt?« fragte er. »Daß sie uns Apikorsim heute nachmittag fertigmachen wollen.« Er starrte mich an. »Feine Kerle, diese Jeschiwa-Burschen«, sagte er und ging langsam zu seiner Position zurück. Der nächste Schlagmann drosch einen langen Hochball ins rechte Feld. Wir konnten ihn aber abfangen, während er lief. »Hurra«, rief Sidney Goldberg grimmig, als wir vom Feld rannten. »Wenn das noch eine Weile so weitergegangen wäre, hätten sie uns bestimmt gebeten, mit ihnen den Mincha-Gottesdienst zu feiern.« »Das glaube ich kaum«, widersprach ich ihm. »Dafür sind wir ihnen nicht fromm genug.« »Wo haben die bloß gelernt, so zu schlagen?« »Weiß ich auch nicht«, sagte ich. Wir standen in der Nähe des Schutzzaunes und bildeten einen engen Kreis um Mr. Galanter. »Wir haben erst zwei Punkte gemacht«, sagte Mr. Galanter und hieb seine rechte Faust in die linke Handfläche. »Die haben uns mit allem geschlagen, was sie hatten. Jetzt fahren wir unsere schwere Artillerie auf. Wir werden sie unter Dauerfeuer nehmen!« Ich-sah, daß ihn das erleichtert hatte, abet er schwitzte noch immer. Sein Käppchen klebte vor Schweiß an seinem Kopf fest. »Okay«, rief er. »Feuer frei!« Der Kreis löste sich auf, und Sidney Goldberg marschierte mit dem Schläger in der Hand auf das Schlagmal zu. Der Rabbi saß immer noch auf der Bank und las. Ich wollte eben einen Bogen hinter ihm herummachen, um zu sehen, was für ein Buch das war, als, die Händein den Taschen und mit immer noch düsterem Blick, Davey Cantor auf mich zutrat. »Also?« fragte er, »Was, also?« antwortete ich. »Ich habe dir gleich gesagt, daß die schlagen können.« »Du hast es gesagt. Und weiter?« Ich hatte keine Lust auf seine düsteren Prophezeiungen und ließ es ihn an meiner Stimme merken. Er spürte meinen Unmut. »Ich wollte damit nicht angeben oder sowas«, sagte er beleidigt. »Ich will nur wissen, was du von ihnen hältst.« 23 »Die können schlagen«, sagte ich. »Das sind Mörder«, sagte er. Ich sah, daß Sidney Goldberg einen Ball verpaßte, sagte aber nichts. »Was macht deine Hand?« fragte Davey Cantor. »Ich habe sie mir aufgeschürft.« »Der ist wirklich brutal in dich reingerannt.« »Wie heißt der Bursche?« »DovShlomowitz«, sagte Davey Cantor undfügte auf hebräisch hinzu: »Wie sein Name, so der Mensch.« »Dow« ist das hebräische Wort für Bär. »Habe ich ihn behindert?« Davey Cantor zuckte die Achseln. »Ja und nein. Der Schiedsrichter konnte so oder anders entscheiden.« »Als ob dich ein Lastwagen rammt, hat sich das angefühlt«, sagte ich, während Sidney Goldberg einem Ball, der knapp an ihm vorbeiflog, auswich. »Du solltest erst mal seinen Vater sehen. Das ist einer von Rebbe Saunders Schamaschim. So eine Art Leibwächter.« »Rebbe Saunders hat Leibwächter?« »Natürlich hat er Leibwächter«, meinte Davey Cantor. »Die beschützen ihn vor seiner eigenen Popularität. Hast du all die Jahre auf dem Mond gelebt?« »Ich habe mit diesen Leuten nichts zu tun.« »Da verpaßt du auch nichts, Reuven.« »Woher weißt du so viel über Rebbe Saunders?« »Mein Vater spendet für ihn.« »Tja, schon für deinen Vater«, sagte ich. »Er betet nicht mit ihnen oder so was. Er gibt ihnen nur Spenden.« »Du bist in der falschen Mannschaft.« »Nein, bin ich nicht, Reuven. Sag nicht sowas.« Er war ernstlich verletzt. »Mein Vater ist kein Chassid oder so was. Er gibt ihnen lediglich ein paarmal im Jahr etwas Geld.« »Wat nur ein Spaß, Davey.« Ich grinste ihn an. »Nimm dir nicht immer alles so zu Herzen.« Im selben Moment, als ich bemerkte, wie ein fröhliches Lächeln sein Gesicht erhellte, schlug Sidney Goldberg einen schnellen Grundball und raste zum ersten Laufmal. Der Ball flog genau durch die Beine des Shortstop und schlug im Centerfield auf. »Halt beim Ersten«, rief ihm Mr. Galanter zu, und Sidney bremste beim ersten Laufmal ab und stellte sich darauf. Der Ball wurde schnell zum zweiten Laufmal geworfen. Der zweite Baseman sah hinüber zum ersten, dann warf er den Ball zum Werfer. Der Rabbi schaute kurz von seinem Buch auf und las dann weiter. »Malter, sag ihm, was er beim ersten Laufmal zu tun hat«, rief Mr. Galanter, und ich rannte hoch zur Seitenauslinie. »Die sind gut beim Schlagen, aber als Feldspieler taugen sie nichts«, sagte Sidney Goldberg grinsend, als ich beim Laufmal ankam. »Davey Cantor meint, das wären Mörder.« »Diese alte Unke Davey«, sagte Sidney Goldberg grinsend. Danny Saunders stand ein Stück weit vom Laufmal entfernt und tat, als würde er uns ignorieren. Der nächste Schlagmann schlug einen hohen Ball zum zweiten Baseman, der ihn fing, wieder fallen ließ, wieder in die Hand bekam und dann brutal versuchte, Sidney Goldberg abzufangen, als dieser an ihm vorbei zum zweiten Schlagmal rannte. »Sicher über die ganze Runde«, rief der Schiedsrichter, und unsere Mannschaft brach in lautes Freudengeschrei aus. Mr. Galanter lächelte. Der Rabbi las weiter in seinem Buch, und ich sah, daß er jetzt seinen Oberkörper langsam vor- und zurückwiegte. »Halt die Augen offen, Sidney«, rief ich von meinem Platz neben dem ersten Laufmal aus. Ich sah, daß Danny Saunders mich beobachtete und sich dann abwandte. Das sollen Mörder sein? dachte ich. Das sind eher lahme Enten. »Sobald der Ball den Boden berührt, rennst du los wie der Teufel«, sagte ich zum Schlagmann, der gerade beim ersten Laufmal angekommen war. Er nickte mir zu. Es war unser dritter Baseman, und er hatte ungefähr meine Größe. »Wenn sie weiter so ein Feldspiel liefern, sind wir morgen noch hier«, meinte er. Ich grinste ihn zustimmend an. Ich sah, daß Mr. Galanter sich mit unserem nächsten Schlagmann besprach, der lebhaft mit dem Kopf nickte. Dann ging er in Position, schlug einen harten Bodenball zum Werfer, der kurz nachfassen mußte und ihn dann zum ersten Laufmal warf. Danny Saunders reckte sich nach dem Ball und konnte ihn stoppen. »Aus!« rief der Schiedsrichter. »Sicher am Zweiten und Dritten!« Als ich hinüber zum Schlagmal rannte, hätte ich am liebsten laut gelacht über die Dummheit des Weifers. Anstatt zum dritten Laufmal, wo jetzt Sidney Goldbergstand, oder zum zweiten, wo wir jetzt ebenfalls einen Mann stehen hatten, mußte er den Ball ausgerechnet zum ersten 24 25