URSULA WÖLFEL Endlich hatten sie eine neue Wohnung ge- Drei Straßen weiter funden, eine richtige Wohnung mit vier Zimmern. Endlich konnten sie aus der Baracke ziehen, und die drei ältesten Kinder brauchten nicht mehr in der Küche zu schlafen. »Eine Wohnung in einem richtigen Haus! Mit Badezimmer und Balkon!« sagte die Frau. »Ihr habt's ja wohl!« sagten die Nachbarn aus den Baracken. Und das klang ein bißchen neidisch. Aber sie halfen ihnen, als sie die Möbel auf den Lastwagen packten, sie wollten auch die Kinder bis zum Abend versorgen. Drei Straßen weiter hielt der Lastwagen wieder. Jetzt merkten sie erst, wie schäbig ihre Schränke und Betten aussahen, hier auf dem Bürgersteig in der hellen Sonne. »Wir hätten doch einen neuen Küchenschrank kaufen sollen«, sagte die Frau. »Man schämt sich ja richtig!« »Wie stellst du dir das vor?« sagte der Mann. »Jetzt müssen wir sparen.« Oben im Treppenhaus sagte die Hausverwalterin zur Frau aus dem ersten Stock: »Diese Leute sind da. Jetzt können wir uns auf allerhand gefaßt machen. Vier Kinder, alle unter sechs. Und richtiges Barackenpack!« Sie machte das Flurfenster auf und rief hinunter: »Sie! Passen Sie auf, daß Sie im Treppenhaus nicht an die Wände stoßen! Und von eins bis drei ist Ruhe hier im Haus! Und nachher muß die Treppe geputzt werden, aber ordentlich!« »Das fängt ja gut an«, sagte der Mann unten auf der Straße. Am Abend holten sie die Kinder ab. Die alten Nachbarn fragten: »Wann ladet ihr uns in eure neue Wohnung ein?« »Später mal«, sagte der Mann. »Wir dürfen da im Haus nicht auffallen«, sagte die Frau. »Wir sind doch noch neu dort.« »Feine Leute seid ihr jetzt!« sagten die alten Nachbarn. »Nächstens kennt ihr uns nicht mehr!« Am Tag darauf kam die Hausverwalterin. »Der Kinderwagen darf nicht unten im Hausflur stehen«, sagte sie. »Und der Roller auch nicht. Holen Sie den Krempel nach oben.« Die Frau stellte den Kinderwagen und den Roller in den Wohnungsflur. Eine Woche später sagte der Mann aus dem ersten Stock zu ihr: »Die Kinder machen einen Lärm im Hof, das ist nicht auszuhalten! Und das ewige Getrappel da oben! Haben Sie denn keinen Teppich?« »Doch, doch«, sagte die Frau schnell. »Wir wollten uns gerade einen kaufen!« Und sie kauften einen Teppich fürs Wohnzimmer und einen für den Flur. Das Geld dafür mußten sie sich leihen. Sie verboten den Kindern, im Hof zu spielen, und es gab keinen Spielplatz in der Nähe. Darum fuhr der Junge jetzt manchmal mit dem Roller durch die Wohnung, und das Mädchen schob seinen Puppenwagen im Flur hin und her. Wieder kam die Hausverwalterin. Sie sagte: »Was ist das für eine Rollerei bei Ihnen? Der Herr aus dem ersten Stock hat sich beschwert. Da, wo Sie herkommen, in den Baracken, da kann man sich vielleicht so benehmen, aber nicht hier!« Die Frau brachte den Roller und den Puppenwagen auf den Dachboden. Die Frau aus dem Erdgeschoß traf den Mann im Treppenhaus. Sie sagte: »Ich möchte nur wissen, weshalb Ihre Frau jede Nacht erst um ein Uhr nach Hause kommt. In anständigen Häusern gibt es so etwas nicht.« »Meine Frau hilft abends in einer Hotelküche«, sagte der Mann. »Wir sind eine große Familie, sie muß eben mitverdienen.« »Warum sind Sie nicht in den Baracken geblieben?« Die Frau aus dem Erdgeschoß schlug ihre Wohnungstür zu. Kurz danach kamen die alten Nachbarn aus den Baracken zu Besuch. »Wir kommen nur eben mal vorbei«, sagten sie. »Ihr ladet uns ja doch nicht ein!« Sie hatten einen Korb voll Flaschen mitgebracht. Es war Sommer, und sie wollten auf dem Balkon sitzen. »Aber redet bitte nicht so laut, lacht nicht soviel!« sagte die Frau. Da wurde der Mann wütend. »Meine Freunde dürfen reden und lachen wie sie wollen!« sagte er. Die alten Nachbarn wurden immer lustiger und lauter. Die Hausverwalterin schellte. Sie wollte sich über den Lärm beschweren. Alle liefen zur Tür. »Prost!« riefen die fröhlichen Leute. »Es ist doch erst neun Uhr!« Dann kam der Mann aus dem ersten Stock. Er wollte sich auch beschweren. »Immer herein! Mitfeiern!« riefen die fröhlichen Leute. »Unverschämtheit!« sagte der Mann aus dem ersten Stock. Als er weg war, sagten die alten Nachbarn: »Das sind also eure neuen Hausleute.« Und das klang ein bißchen mitleidig. Ein paar Tage später sagte die Frau zu ihrem Mann: »Die Leute im Haus grüßen mich nicht mehr.« »Laß sie doch!« sagte der Mann. 140 141 Nach einem halben Jahr zogen sie wieder aus. »Da seid ihr ja wieder!« sagten die alten Nachbarn in den Baracken. Und das klang ein bißchen schadenfroh. PETER KILIAN Wer wirft den ersten Stein? Amande war mit ihren fünfundzwanzig Jahren so dick und unförmig wie ein Faß. Die Ärzte waren sich natürlich einig. Was gibt es da schon zu rätseln? Die innere Sekretion befand sich nicht in Ordnung, doch mit derlei Deutungen war Amande nicht geholfen, ebensowenig ihren Eltern, die unter dem Ungemach der Tochter zu leiden hatten. Sie war ja die einzige, sorgfältig auferzogen und geschult; an nichts hatte es ihr gefehlt. Sie massierte, schwamm, hungerte und weinte lange Nächte hindurch: doch alles blieb vergebliche Mühe und überflüssige Selbstkasteiung. Ihr Umfang wuchs und die Waage log nicht, die Zweifel an ihr vermochten nichts zu ändern. Nicht alle Menschen besitzen Taktgefühl, nicht alle haben genügend Phantasie, die Qualen und Hemmnisse eines jungen Mädchens zu verstehen, das der Anmut und Schlankheit beraubt ist. Worte vermögen das Leid und die Qualen nicht annähernd zu schildern, denen Amande ausgesetzt war. Und am meisten hatte sie unter der Jugend zu leiden, den Kindern, die so wunderbar gut und zugleich grausam sein können. Es mögen drei oder vier Jahre her sein, als Amande mit ihren Eltern die Sommerferien in einem kleinen Kurort der Innerschweiz verbrachte. In einer gut gehaltenen, etwas abseits gelegenen Pension nisteten sie sich für einige Wochen ein. Sie hatten Glück mit dem Wetter. Ein Tag war so strahlend wie der andere. Amandes Mutter lernte Mütter kennen, die ebensowenig einem Schwatz abgeneigt waren wie sie, und der Vater wurde schnell mit andern Väter bekannt, die wie er einen guten, alten Wein zu schätzen wußten und dem Kartenspiel mit Leidenschaft frönten. Nur Amande blieb allein. Sie fand keine Freundinnen und suchte auch keine. Das hatte sie längst aufgegeben. Sie liebte die Einsamkeit und das Alleinsein. Tag für Tag suchte sie einen verborgenen Platz in einer nahen, kleinen Bucht auf, die sie schon bald nach ihrer Ankunft aufgespürt hatte. Dort kam nur selten ein Mensch hin, und wenn es doch geschah, so verweilte er nicht lange. Die Fahrstraße befand sich hinter einem Wall von Erlen und war außerdem noch durch eine morastige Wiese vom Ufer abgeschnitten. Sie fühlte sich wunderbar geborgen in der versteckten Bucht; sehr feiner Sand war an dieser Stelle angeschwemmt worden, der zwar keine große Fläche bedeckte, aber für sie allein reichlich genügte. Der Zugang zur Bucht befand sich auf der westlichen Seite; es war ein sehr schmales, fast nur angedeutetes Weglein, das um den Felsvorsprung herumführte und sich draußen auf der morastigen Wiese irgendwie verlief. Hier verbrachte Amande die langen Stunden des Tages ungestört, schwimmend und lesend. Manchmal nahm sie sich am Morgen eine Kleinigkeit zum Essen mit. Sie erschien dann erst zum Nachtessen wieder in der Pension. Amande liebte Bücher. In ihnen fand sie Trost und das Vergessen. Unbekannte, ungewohnte und weite Straßen öffneten sich darin, die zu fremden Städten führten und in unbekannte, tief ersehnte Länder. In den Büchern erlebte sie Schicksale anderer Zonen, fand sie Vertrauen und Liebe von Menschen, die nichts von ihrer Häßlichkeit wußten. Sie liebte Schiffe und empfand zehrende Sehnsucht nach Meeren und unbekannten Strömen, nach Städten unter fremden Himmeln und sengenden Weiten tropischer Ferne. Da war sie Mensch wie alle andern. Immer wieder marterte sie ihren Körper. Sie schwamm weit hinaus und legte sich dann unter das brennende, flimmernde Licht des Mittags. Die Mahnungen des Arztes berührten sie nicht. Seine Worte, die lehrerhaft verweisenden, schlug sie in den Wind. »Das Herz, verstehen Sie, Fräulein Amande, das Herz! Mit dem Herzen läßt sich nicht spaßen. Es ist nicht so widerstandsfähig, wie Sie vielleicht glauben. Sie haben es zu viel gequält. Mäßig müssen Sie sein, mäßig ...« Läppisch waren diese Phrasen, lächerliche Gewohnheitsworte. Was wußte er von ihr? O, wie blind doch diese Menschen waren! Das Weinen würgte ihren Hals; eine gräßliche Leere, so, als stürzte sie im Traum in endlose Tiefen, klaffte auf einmal in ihrem Innern auf, und in ihrem Herzen spürte sie ein wehes Zucken, so schmerzhaft, daß es ihr fast den Atem nahm. Es war in der dritten Woche, als Amande an einem Nachmittag wieder weit in den See hinausschwamm. Lange lag sie auf dem Rücken im kühl sich anschmiegenden Wasser und blickte in die unendliche, flimmernde Bläue. Nur Himmel sah sie noch, Höhe oder Tiefe, es war wohl beides. Dann schwamm sie langsam und schon etwas ermüdet zurück. Sie fühlte nun selbst, daß sie wieder zu lange draußen geblieben war. Als sie aus dem Wasser steigen und sich an ihren Lagerplatz begeben wollte, hörte sie plötzlich ein Lärmen, und gleich darauf erschienen auf dem schmalen Pfad, von dem sie glaubte, daß er nur ihre Entdeckung sei, einige Kinder. Amande stutzte und blieb bis zu den Hüften im Wasser stehen. Die Kinder hatten sie sofort erspäht, sie blieben stehen, blickten verdutzt, steckten dann die Köpfe zusammen, tuschelten, kicherten, und ein sprenzliger, wie Unkraut aufgeschossener Knabe begann laut und ungeniert zu lachen. Amande spürte, wie eine flammende Röte in ihren Kopf wallte; das Lachen und Kichern der Kinder, die neugierig haftenden Blicke schreckten sie zurück. Sie begann 142 143 gedankenlos und bestürzt wieder hinauszuschwimmen. Es war eine geradezu panische Flucht vor der Neugier der Kinder. Erst als sie schon ein gutes Stück vor der Bucht lag, wurden ihre Gedanken ruhiger. Sie wollte noch ein Weilchen warten, bis die Kinder von ihrer Neugier lassen und sich verlaufen würden, dann konnte sie ungefährdet zu ihren Kleidern gelangen. Sie spürte das Zucken im Herzen wieder sehr stark. Die Pein hatte ihr hart zugesetzt. Die Kinder aber blieben; da ihnen im Augenblick kein anderer Zeitvertreib einfiel, wollten sie warten, bis die Dicke wieder ans Ufer kommen würde. Sie verfolgten mit den Augen neugierig die einsame, ziellose Schwimmerin, die vor ihnen geflohen war, dies wußten sie genau, aber ihre Neugier wurde dadurch nur noch mehr aufgestachelt und entzündet. Wohl mehr als eine halbe Stunde schwamm Amande, von den neugierigen Augen der Kinder überwacht, vor der Bucht hin und her. Dann fühlte sie mit einemmal eine bleierne Müdigkeit. Zuerst wollten die Beine nicht mehr; sie sanken in die Tiefe wie Gewichte. Dann begann es in den Armen. Ein Krampf lähmte die Gelenke, und als dieser Anfall vorüber war, zuckte es schmerzhaft in ihrer Herzgegend. Es war ein unbestimmter Schmerz, der zwar von ihrem Herzen ausging, aber gleichzeitig in ihrem ganzen Körper zu fühlen war. Sie mußte auf die Zähne beißen und war dem Weinen nahe. Dann gewann sie Boden unter den Füßen und stand so eine Weile im Wasser, das ihr fast bis zum Hals reichte. Es war ihr elend zumute, und ihre Hilflosigkeit fand kaum mehr einen Halt. Warum gingen die Kinder nicht fort? Diese Frage kreiste unablässig in ihrem Kopf, wie eine Grammophonnadel in der gleichen Rille. Warum gehe ich nicht hinaus? tauchte zwischenhinein eine andere Frage auf. Der Gedanke, vor den aufdringlich starrenden Augen der Kinder aus dem Wasser zu steigen, wurde zur Marter. Das Gekicher, die flüsternden Worte, die sie zwar nicht verstand, aber deren Bedeutung sie ahnte, wuchsen zu einem Albdruck an. Warum gingen sie nicht? Warum ließen sie von ihrem grausamen Spiel nicht ab? Amande flehte in ihrem Innern die Kinder um Erbarmen an, doch laut wagte sie nicht zu rufen; denn dann wäre ihre Lage wohl nur noch peinvoller geworden. Da riß aber die Geduld des großen Knaben, und er rief weithin hörbar: »Fräulein, wird das Wasser nicht zu kalt?« Und die ganze Bande lachte schallend heraus. »So lange können ja nicht einmal wir schwimmen!« setzte er hinzu, angefeuert durch den Erfolg seiner Keckheit. Amandes Zähne schlugen heftig aufeinander. Sie fror entsetzlich, obschon die Sonne noch am Himmel stand und über der weiten Wasserfläche funkelte und glitzerte. Sie spürte, wie ihre Beine steif und gefühllos wurden. Tief einatmend versuchte sie nochmals zu schwimmen, aber es ging nicht mehr. Die Kraft hatte sie verlassen. Und die Kinder hockten nun alle in einer Reihe im Sand, flüsterten, kicherten und lachten laut. Sie ließen die Dicke nicht aus den Augen. Ein Dampfschiff, das draußen vorüberfuhr, hörnte, und die Kinder begannen johlend zu winken. Man erwiderte das ausgelassene Geheul vom Schiff mit flatternden Tüchern und schwenkenden Armen. Es war ein friedliches, sommerliches Bild, eingebettet in die reizvolle und abwechslungsreiche Seelandschaft, mit ihren grünen Hängen, Bäumen und dem zauberischen Bann der Berge. Noch während die Kinder schrien und winkten, fühlte Amande, daß die Qualen unerträglich wurden, daß sich das Uferbild vor ihr verzerrte und zu schwanken begann; daß sie die Kinder nur noch als seltsame Schemen und Schattenbilder gewahrte und die Erlen über dem Erdwall sich verdunkelten. Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung arbeitete sie sich durch das Wasser, dann taumelte sie wie eine Betrunkene über das Ufer und fiel mit einemmal dumpf wie ein Sack in den Sand. Die Kinder hatten im Nu das Schiff vergessen, als sie sahen, daß das dicke Fräulein endlich aus dem Wasser stieg. Sie lachten, als die Gemarterte über das Ufer schwankte, und sie lachten noch, als sie zusammenfiel und sich nicht mehr rührte. Erst nach einer kleinen Weile gefror ihr Lachen und Gekicher mit einem Schlag, sie blickten sich ratlos an und verloren plötzlich ihre kecke Selbstsicherheit. Amande aber regte sich nicht mehr. Das kleine Mädchen, angstvoll aufspringend, eilte zu ihr hin, berührte die Liegende sanft mit den Fingerspitzen und sagte gutherzig: »Ist Ihnen nicht gut, Fräulein?« Aber das Fräulein antwortete nicht. Reglos, unförmig lag es im Sand, das Gesicht der Erde zugekehrt. Da erst fuhr die Furcht in die Kinder. Zwei der Buben riefen geängstigt und mit schlechtem Gewissen davon, über den Erlenwall hinauf, wo sie die Straße am schnellsten erreichen konnten. Zwei andere eilten atemlos ins Dorf, um Hilfe zu holen. Das Mädchen blieb zurück. Es hatte die letzten, guten Worte an Amande gerichtet und viel gut gemacht, aber Amande hatte sie ja nicht mehr vernommen. Furcht war in den Augen des kleinen Mädchens, aber auch Fassungslosigkeit und Staunen. Ratlos stand es einige Schritte von dem schweren und massigen Körper entfernt und wagte ihn nicht mehr anzuschauen. Am liebsten wäre es geflohen; ein unheimliches Gefühl stieg in ihm auf, vielleicht auch eine dumpfe Ahnung von Schuld. Dann kamen der Arzt, ein Polizist und noch ein Mann in Zivil. Sie wurden von den beiden Knaben, die sehr unruhig und hastig waren, durch die morastige, federnde Wiese geleitet, und dann stiegen sie alle durch das Erlengehölz zur Bucht hinab. Was gibt es noch weiter zu erzählen? Der Doktor konnte nur noch den Tod feststellen. Ein Herzkrampf, meinte er unsicher. Der Polizist nickte nur, und der Mann in Zivil zündete einen Stumpen an. Kniend blickte der Doktor auf die Buben, die mit großen, fassungslosen Augen schauten, und hinter ihnen befand sich das Mädchen mit seltsam starren Blicken. Der Polizist folgte der Augenrichtung des Doktors. 144 145 »Geht nun nach Hause!« sagte er barsch, milderte aber gleich seine Stimme, indem er hinzufügte: »Es ist brav von euch, daß ihr uns gleich geholt habt . . .« Dann wandte er sich wieder der Toten zu. Er mußte die Kinder nicht ein zweites Mal nötigen. Schnellfüßig eilten sie auf dem schmalen Pfad um den Felsen herum. Und die Schuld? Um des Himmels willen, wer spricht da von Schuld? Und wer würfe den ersten Stein nach ihnen? Es war doch nur ein argloses Spiel, und es waren doch nur Kinder . . . MAX VON DER GRÜN Kinder sind immer Erben Bislang glaubte ich, Mörder müsse man an ihren Händen erkennen, Massenmörder dagegen an ihren Augen. Ich weiß nicht, warum ich das glaubte, wahrscheinlich hatte sich aus den Kindertagen diese Annahme in mir festgesetzt. Mein Nachbar hatte die schönsten Augen, die ich je sah, und meine Frau, die gern in Bildern spricht, nannte seine Augen weinende Aquamarine; seine Hände waren so schmal und wohlgepflegt, daß sie Frauenhänden glichen. Dann wurde mein Nachbar verhaftet. Meine Frau und ich sahen an einem Sonntagvormittag zwei grüne Autos vorfahren. Uniformierte und Zivilisten führten meinen Nachbarn aus dem Haus in einen der grünen Wagen. Das ganze Stadtviertel wußte am Abend davon. Am Montag darauf lasen wir in der Zeitung, der Verhaftete werde beschuldigt, an der Ermordung von 200 Geiseln in einem mährischen Dorf im Jahre einundvierzig beteiligt gewesen zu sein. »Nein«, sagte meine Frau. »Nein, nie! Nicht dieser Mann!« Ich wollte es auch nicht glauben. Ich war sprachlos geworden und beschimpfte stumm die Zeitungsleute als Schmutzfinken. Dieser Mann? Er und seine Frau spielten jede Woche einmal bei uns Doppelkopf, wir zechten und waren fröhlich und fuhren manchmal übers Wochenende vor die Stadt in den Wald. Manchmal sprachen wir auch über Politik, und er konnte sich über alles maßlos erregen, was auch nur den geringsten Anruch von Gewalt hatte. Waren wir bei ihnen eingeladen, konnten wir uns aufmerksamere Gastgeber nicht wünschen. Vor drei Jahren hatte er sich ein Auto gekauft, seitdem nahm er mich in die Stadt zur Arbeit mit, morgens und abends fuhr er einen Umweg von einem Kilometer durch eine der belebtesten Straßen der Stadt, nur damit ich nicht der Unannehmlichkeit ausgesetzt war, mit der Straßenbahn zu fahren. Ich hätte morgens eine halbe Stunde früher aufstehen müssen, abends wäre ich eine Stunde später nach Hause gekommen. Und dieser Mann mit den Augen wie weinende Aquamarine sollte nun ein Massenmörder sein? »Aber«, sagte meine Frau hilflos, »er lebte doch nicht unter falschem Namen. Er lebte wie wir, er hat gearbeitet, schwer geschuftet für seine Familie. Er war doch ein herzensguter Mann. Und hast du mal gehört, wie er mit seinen Kindern sprach? Spricht so ein Mann, der so sein soll, wie es jetzt in der Zeitung steht? Nein, nein. So könntest du mit unseren Kindern nie sprechen. Er vergötterte seine Kinder.« Eine Antwort konnte ich ihr nicht geben, ich dachte all die Tage hindurch nur an unser wöchentliches Doppelkopfspiel und an die Geiseln in dem kleinen mährischen Dorf. Frauen sollen dabei gewesen sein und Kinder, und sie wurden von Maschinengewehren so kunstgerecht umgemäht, daß sie sofort in die lange, von ihnen selbst ausgehobene Grube fielen. Das soll die Erfindung meines Nachbarn gewesen sein; er habe damals, so hieß es, sogar einen Orden dafür bekommen. »Mein Gott«, sagte meine Frau immer wieder, »mein Gott! Die Frau und die Kinder. Mein Gott, die Kinder, die Kinder!« »Dort in Mähren sollen auch Kinder dabei gewesen sein«, sagte ich heftiger, als ich wollte. »Vielleicht lügen die Zeitungen«, sagte sie später, »und alles ist nur Erfindung oder eine Namensverwechslung. Er hat doch frei unter uns gelebt, er hätte doch untertauchen können, ja, wie so viele verschwinden, daß ihn keiner findet.« Ich sah an den Samstagen, wenn ich zu Hause war, unsere Nachbarin ihre Kinder zur Schule bringen, zum Schutz, denn die anderen Kinder in unserer Straße riefen die ihren Mörderkinder. »Wir sollten sie besuchen«, sagte an einem Abend meine Frau. »Wir waren nicht mehr bei ihr, seit ihr Mann verhaftet ist.« »Bist du verrückt? Das können wir nicht. Denk an meine Stellung! Wenn uns jemand sieht, dann heißt es womöglich noch, wir hätten davon gewußt, und wir werden auch vor Gericht gezerrt.« »Aber«, rief meine Frau, und die Tränen schössen ihr in die Augen, »die Frau kann doch nichts dafür. Und dann: die Kinder, die Kinder.« »Vielleicht hat die Frau alles gewußt«, rief ich ungehalten. »Na und? Soll sie hingehen und ihren eigenen Mann anzeigen? Würdest du mich anzeigen? Würde ich dich anzeigen? Sag schon, so sag schon! Du stellst dir alles so leicht vor.« »Mord bleibt Mord«, sagte ich. Am nächsten Morgen ging ich an den Kindern des Verhafteten vorbei, als hätte ich sie nie gesehen. Sie riefen hinter mir her: »Onkel Karl, Onkel Karl.« 146 147 Dann kam der Prozeß, und das Ausmaß des Verbrechens war noch schrecklicher, als wir geglaubt hatten. Es stellte sich heraus, daß die Frau, zumindest in groben Zügen, von der Vergangenheit ihres Mannes wußte. Sie konnte ihre Aussage verweigern, aber sie sagte aus. Am Ende ihrer Aussage fragte sie der Richter, warum sie all die Jahre geschwiegen habe. Sie weinte, als sie sagte: »Was sollte ich denn tun? Was nur? Was? Er ist doch . . .« Aus den Zeitungen erfuhren wir das alles, obwohl das Gerichtsgebäude nur tausend Meter von unserer Wohnung entfernt lag. »So, da hast du nun die ganze Wahrheit«, sagte ich zu meiner Frau nach dem Urteil, »fünfzehn Jahre Zuchthaus.« »Die ganze Wahrheit?« fragte sie leise. »Die ganze Wahrheit«, schrie ich ihr ins Gesicht. »Und die Kinder?« fragte sie, und dann nach einer Weile: »Wenn du nun aber dieser Mann wärst?« »Ich bin aber nicht dieser Mann, verstehst du? Ich bin nicht dieser Mann. Ich bin es nicht.« »Nein, du nicht. Du hast damals Glück gehabt, damals in den Jahren.« »Du bist verrückt! Glück. Wenn ich das schon höre! Man brauchte so etwas nicht zu tun, man konnte sich weigern, verstehst du? Man konnte sich weigern.« »Weißt du das so genau?« fragte sie. »Ja, das weiß ich genau.« »Und du hast dich geweigert?« bohrte sie weiter. Ich war erstaunt. »Ich? Mich geweigert? Nein, wieso? Ich bin doch nie in die Lage gekommen. Nein, das blieb mir erspart. Ja, wie soll ich das sagen?« »Ich sagte doch, du hast Glück gehabt, du bist nie in die Lage gekommen. Und du hättest dich natürlich geweigert.« »Natürlich hätte ich!« rief ich aufgebracht. Sie sah mich lange an, dann sagte sie: »Manchmal hast du auch Augen wie er, aber nur manchmal.« »Sei vernünftig! Es geht hier um die Wahrheit und um die Gerechtigkeit. Wo kämen wir hin, wenn . . .« »Oder um Rache? Nicht wahr? Wird ein anderer abgeurteilt, beruhigt das euer Gewissen. Geht es nicht auch um die Kinder? Ja, mein Lieber, auch um die Kinder.« Dann trug sie das Abendessen auf. Die Kinder des Verurteilten riefen nun nicht mehr Onkel Karl hinter mir her, sie versteckten sich, wenn sie mich kommen sahen, und das war schlimmer, als wenn sie gerufen hätten. Am dritten Samstag nach dem Urteil kam meine Frau in das Wohnzimmer, meine drei Kinder ebenfalls, und sie hatten Päckchen in den Händen, meine 148 r Frau Blumen. Ich wollte mich zu einem Mittagsschlaf hinlegen und ärgerte mich über die Störung. »Geht ihr aus?« fragte ich. »Wo wollt ihr so früh schon hin?« »Hinüber«, sagte sie. »Zu ihr und den Kindern.« »Was?« Ich war bestürzt und zornig. »Wenn du schon hinüber willst, dann warte, bis es Nacht ist.« »Nein«, sagte sie, »dann sieht mich doch keiner.« GERTRUD SCHNELLER Peters Hand zittert leicht, als er sie auf die Das Wiedersehen Türklinke legt. Rascher als nötig geht er auf den hintersten, in der rechten Ecke des Cafes stehenden Tisch zu. Dann bleibt er stehen und sagt: »Ich wußte, daß ich dich hier finden werde.« Der Angeredete blickt überrascht hinter dem großen Zeitungsblatt hervor. Als er Peter sieht, läßt er das Blatt fallen und ruft: »Du! Bist du schon wieder . . .« Das letzte Wort läßt er unausgesprochen. Aus Pietätsgründen, wie der andere vermutet. »Drei Jahre sind lange genug«, meint Peter leise. Jean nickt, rückt den Stuhl zurecht und heißt ihn Platz nehmen. »Trinkst du einen Schwarzen?« »Gerne.« Der Kellner kommt. Sein Blick richtet sich suchend auf den Gast. Dann plötzlich scheint ein Erinnern auf sein Gesicht zu kommen. »Der wußte es auch, nicht wahr?« sagt Peter. »Ach«, erwidert Jean, »Kellner wissen alles. Mach dir nichts daraus.« Sie schweigen. Dann sagt Peter leise: »Bist du noch immer auf der Bank?« »Ja.« »Ich wußte es. So sicher, wie ich wußte, dich zu dieser Tageszeit hier beim Lesen der Zeitung antreffen zu können.« »Hast du schon Arbeit?« fragte der andere. »Ja, ja. Dafür hat man gesorgt. Morgen kann ich bereits anfangen. Und du . . . du bist Prokurist geworden, nicht wahr?« Jean nickte. »Ich würde es nie mehr tun«, sagte Peter leise. »Nie mehr.« 149 Jean nickt wieder. »Wirst du wieder bei Frau Ruegg wohnen?« »Nein! Ich wollte. Aber sie hatte alle möglichen Ausreden, als ich heute morgen bei ihr vorbeiging. Die wirkliche Strafe, weißt du, die kommt erst jetzt.« »Nein, nein. Das ist es sicher nicht«, sagt Jean rasch. »Bedenke, es herrscht ein großer Zimmermangel.« Sie schweigen wieder. Jean zündet eine Zigarette an und spielt mit dem Blatt der Zeitung, während Peter nachdenklich in seinem Schwarzen rührt. Plötzlich blickt Jean auf die Uhr, ruft den Kellner und zahlt. »Ich muß jetzt gehen. Verzeih bitte. Mein Zug fährt in einer halben Stunde. Ich fahre für drei Wochen aufs Land. Meine langweilige Bronchitis, du weißt ja.« Peter wird blaß. Auch der, denkt er bitter, auch der hat Ausreden. Mein einziger Freund, Er gibt Jean die Hand und wünscht ihm gute Erholung. Obwohl er nicht an diese Reise und nicht an seine Erholung glaubt. Peter sitzt nun allein am Tisch. Seine Rechte spielt zitternd auf dem Blatt der Tageszeitung. Sein Blick ist gesenkt. Er sieht deshalb nicht, wie Jean sich bei der Tür entschlossen umwendet und auf den hintersten, in der rechten Ecke stehenden Tisch zusteuert. Erst als er dicht vor ihm steht, blickt er überrascht auf. »Hast du etwas vergessen?« fragt Peter. »Ja! Ich habe vergessen, dir den Schlüssel zu geben.« »Den Schlüssel. Welchen Schlüssel?« »Den Schlüssel zu meiner Wohnung. Du kannst, solange ich weg bin, bei mir wohnen.« HERMANN HEER I. Bob Whiston Bob steht mit dem Köfferchen in der Hand