Die Blaumacherin Als ich unsterbi ich war Aussichten für immer verpasste Möglichkeiten? Ich konnte diese Jahre nun wiederholen, so oft ich wollte. Alle Leben durfte ich ausprobieren: Ich heiratete früh, ich blieb Junggeselle. Ich war braver Bürger, ich zog als Vagabund um diese Welt. Es war so einfach: Wenn ich meiner Existenz müde war, schnipp, fing ich noch einmal an, als junger Mann. Ich konnte nichts mehr falsch machen, ich konnte nichts mehr versäumen. Bis mich auch dieses Spiel zu langweilen begann. Wie soll ich sagen? Die fünfte erste Liebe, ist das nicht schon ein Widerspruch? So unterschiedlich meine Biografien schienen, so virtuos ich auch spielte, irgendwann spürte ich doch den faden Geschmack der Wiederholung. Ob Bürger oder Bettler, ich entdeckte überraschende Gemeinsamkeiten. Jedem knurrt der Magen, jeder hängt an seinen armseligen Gewohnheiten. Aber es ist nicht nur das. Als Vagabund sah ich gierig durch die Fenster der feinen Restaurants, als Geschäftsmann tafelte ich drinnen, in bester Gesellschaft, und wünschte mir nur, im gleichen Augenblick da draußen alleine durch die Dunkelheit zu gehen. Ich wollte nichts versäumen im Leben und wechselte die Rollen, bis ich langsam begriff, dass es da nicht viel zu versäumen gab. Ich spürte Wehmut. Oder sollte ich besser sagen: Neid? Ich weiß, das klingt absurd. Ich hatte alle erdenklichen Existenzen und beneidete die anderen um ihre einzige. Sie lebten wenigstens ein Leben, während ich nur viele Spiele spielte. Spiele, die ich nicht verlieren konnte. Ich sehnte mich nach diesem vergänglichen Leben. Diese bemessene Zeit, voller Freuden und Leiden, in der alles wesent- lich, alles einmalig ist und jede Entscheidung endgültig. Ein Fehler im Beruf, ein falscher Schritt, und alles kann verloren gehen. Eine Frau, ein Blick ... ein Zögern und sie wird vorübergehen und für immer verschwunden sein. Bei mir war aus diesem Reich von Möglichkeiten eine belanglose Spielerei geworden. Wo ich nicht scheitern konnte, was gab es da zu erobern? Kein Wunder also, dass ich dieser Spiele satt wurde. Ewige Maskeraden, ein endloser Karneval, ohne Erwachen. Schließlich tat ich gar nichts mehr. Es lohnte sich nicht. Ich blieb liegen, in der Sonne, ein Leben lang, und schnipp, noch eins und noch eins. Warum heute etwas tun, warum nicht morgen oder übermorgen oder in hundert Jahren? Warum heute? Es gab keinen Grund, ich hatte ja grenzenlos Zeit. Ewige Jugend vor ewiger Sonne. Vielleicht muss man sich so die Hölle vorstellen. Immerhin, mir blieb eine Lösung. Ein Weg, um noch einmal das Leben zu schmecken: Wenn es zum letzten Mal war. Noch einmal sollte der Sand rieseln, aber ich würde am Ende die Uhr nicht mehr umdrehen. Ich beschloss, am Ende auf das Ritual zu verzichten. Ein unglaublicher Preis, denkt man, und doch hatte ich nichts mehr zu verlieren. Ich muss euch von diesem Leben nicht sprechen, ihr wart selbst dabei. Ein Leben mit Höhen und Tiefen, mit Glücksmomenten und Stunden der Verzweiflung, voller Versäumnisse, aber ein richtiges, ein gelebtes Leben. Ich kann zufrieden sein. Ich gebe zu, die Versuchung war manchmal groß, noch einmal zu schnippen, vor allem in diesen Tagen, da ich den Tod so 102 103 ■ DlK BlAUMACHERIK nahe spüre. Aber was hätte dieses Leben dann bedeutet? Der Alte blickte auf. fetzt aber weiß ich, dass ich zu schwach bin, das Ritual zu vollziehen. Ich kann sicher sein, dass ich sterben werde und somit alles seinen Sinn bekommt. So konnte ich euch endlich alles erzählen. Versteht ihr jetzt, warum dies für mich ein wunderbarer Augenblick ist? Er schloss die Augen wieder, sein Kopf sank auf das Kissen zurück. Ich bin müde, das Erzählen hat mich angestrengt. Ich will ein wenig ausruhen, lasst mich allein. Leise hörte er Stühle rücken, ernste, undeutliche Stimmen entfernten sich. Jetzt ist alles gut, dachte er. Bilder aus all seinen Leben zogen an ihm vorbei. Die Bilder, von denen er vorhin gesprochen hatte. Irgendwann hörte er Schritte näher kommen, leise, ganz leise. Das muss der Tod sein, dachte er, ohne die Augen zu öffnen. Jemand beugte sich über ihn, aber kein eisiger Hauch, nur warmer Kinderatem. Er schlug die Augen auf, einen Moment lang meinte er, in sein eigenes Kindergesicht zu blicken. Er runzelte die Stirn, die Augen fielen ihm wieder zu. Dann ist es immer noch nicht aus, dachte er. Ich bin es, sagte eine kindliche Stimme. Ach so, dachte der Alte, es ist mein Enkel, der mir von allen der Liebste ist. Großvater, ist das wirklich wahr, was du uns vorhin erzählt hast? Der Alte versuchte zu nicken. Ja, es ist wahr, flüsterte er, warum sollte ich so etwas erfinden? Er wartete, aber es kam keine Antwort, nur das gleichmäßige Kinderatmen. ALS ICH UNSTKRBLICH WAR Dann, von fern schon, wieder die Stimme. Damit wir nicht so traurig sind, Großvater und weil du,... weil du immer noch Angst vor dem Tod hast. ■ 104 105 Viel besser als ein Nachwort: ein Gedicht Das Lied vom Maulwurf Ein Maulwurf kommt gekrochen aus seinem tiefen Bau, Frühlingsduft gerochen, trifft er einen Pfau. Der Pfau aber erschrickt aus einem schönen Traum, da ihn der Maulwurf weckt, glaubt der Pfau es kaum. Was bist du schwarz und düster, welch finsterer Geselle, mir schwant ein ganz ein wüster, rück ab von meiner Pelle! Da spricht der Maulwurf munter, er solle hören doch, er grab nur tief darunter ab und zu ein Loch. Der Pfau hält das für richtig, findets aber fad und macht sich gleich noch wichtig und schlägt ihm stolz ein Rad. Der sieht die Farben prächtig und denkt sich still bedächtig, dass drunten, wo er wohnt Pfausein sich nicht lohnt. 106 Die Blaumacherin _ Inhalt der Audio-CD: 1 Die Sprecher und andere Angaben 2 Verlieren 3 Entscheidung am Strand 4 Eine Serviette, zwei Gläser 5 Anekdote aus einem bayrischen Biergarten 6 Der Stromausfall 7 Wie du willst! 8 Die Nachricht 9 Das Lied vom Maulwurf 109