Die Bl.aumacherin dass sie noch viel mehr lernen müssten. Als ob es im Leben nichts anderes gäbe. Man konnte sich gar nicht vorstellen, dass die Frau mal von etwas anderem sprach und in ihrer Freizeit mal etwas anderes machte. Der Tee kam, Hanna trank einen Schluck und nahm die Zeitung in die Hand. Sie fühlte sich richtig wohl. Sie las ein paar Artikel aus der Tagespolitik, dann das Feuilleton, schließlich das Theaterprogramm. Ja, das war eine gute Idee, am Wochenende könnte sie mal wieder ins Theater gehen. Irgendwann sah sie auf die Uhr. Schon fast halb eins! Wie schnell die Zeit vergangen war! Sie hätte noch ewig bleiben können, obwohl es jetzt nicht mehr ganz so spannend war. Seit zwölf Uhr hatten alle frei, jetzt war es kein Blaumachen mehr. Vor allem aber wartete zu Hause ihre Mutter mit dem Essen und wenn sie viel zu spät käme, würde es unangenehme Fragen geben. Also ab nach Hause! Es passierte, als Hanna gerade zahlen wollte. Sie gab Herrn Sauer, der neben der Tür stand, ein Zeichen. Er sah zu ihr herüber und nickte. Gleich würde er kommen und kassieren. In diesem Moment ging die Tür auf und Frau Lutz stand im Cafe. Sie blickte sich suchend um. Hanna wollte wegsehen, sie wollte unter den Tisch rutschen, sie wollte im Boden versinken. Aber sie starrte nur auf ihre Lehrerin und in diesem Moment trafen sich ihre Bücke. Tausend Dinge schössen Hanna gleichzeitig durch den Kopf. Weglaufen, aber wie? Etwas sagen, aber was? Sie tat nichts, überhaupt nichts, sie sah nur hin, in das Gesicht von Frau Lutz. „Hanna, wie wahrscheinlich ist es, dass ich Sie an einem Donnerstagmittag um halb eins in einem Cafe in der Altstadt Dik Blaumacherin beim Blaumachen ertappe?" „Unwahrscheinlich, Frau Lutz, total unwahrscheinlich, null, null Komma null." Die Miene der Lehrerin schien sich für einen Moment zu verfinstern, sie kniff die Augen zusammen. Genauso sah sie manchmal in der Klasse aus, wenn jemand vor der Tafel stand und nicht weiter wusste. Aber jetzt waren sie nicht im Klassenzimmer, sondern im Cafe „Sauer". Und Hanna stand vor einer Aufgabe, die nicht nur schwierig, sondern unlösbar war. Frau Lutz drehte sich um und ging an dem Mann, der hinter ihr ins Cafe getreten war, wortlos vorbei nach draußen. Der Mann sah ihr erstaunt nach und folgte ihr zögernd. Langsam schloss sich die Tür hinter ihnen. Hanna ließ den Kopf sinken. Jetzt war alles aus. Aber wie war das überhaupt möglich? Sie sah noch einmal auf die Uhr. Kurz vor halb eins, na klar, genug Zeit, um hierher zu kommen. Wie dumm von ihr, sie hätte einfach früher gehen müssen. Das würde Ärger geben, furchtbaren Ärger. Sicher würde die Lutz sofort zum Direktor gehen und der würde Hanna dann zur Rede stellen. Und das war nicht das erste Mal. Wenn sie Pech hatte, konnte sie sogar von der Schule fliegen. Zwei Monate vor dem Abitur! Und das nur, weil sie ein bisschen zu lange hier geblieben war. Hanna verbrachte zu Hause einen schrecklichen Nachmittag. Ihrer Mutter konnte sie nichts erzählen, die hätte sich nur aufgeregt. Sie wollte mit Tina sprechen, aber die war nicht da. Donnerstag, natürlich, da hatte Tina nachmittags Klavierstunde und abends Volleyballtraining. Hanna versuchte zu lesen, irgendein Buch, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie musste etwas unternehmen. Irgend 82 83 Die Blaumacherin T Die Blaumacherin etwas. Sie überlegte sogar, ob sie nicht bei Frau Lutz anrufen sollte. Sich entschuldigen und sie darum bitten, nicht zum Direktor zu gehen. Sie würde ab jetzt nie mehr fehlen und immer fleißig mitarbeiten. Hanna hatte schon die Nummer aus dem Telefonbuch herausgesucht und das Handy in der Hand, aber dann erinnerte sie sich an diesen Blick im Cafe und traute sich nicht mehr. Sie setzte sich an den Schreibtisch und nahm ihre Mathebücher, vielleicht gab ihr die Lehrerin ja noch eine Chance. Aber nach ein paar Minuten begannen die Zahlen zu tanzen, Hanna verstand überhaupt nichts. Sie klappte die Bücher wieder zu. Es hatte keinen Zweck. Zum Abendessen holte sie sich ein Brot aus der Küche und ging wieder in ihr Zimmer, ihre Eltern sahen sie staunend an, sagten aber nichts. Hanna legte sich früh ins Bett, ohne einschlafen zu können. Morgen hatten sie Mathe gleich in der ersten Stunde. Sie stellte sich immer wieder die Szene vor, wie Frau Lutz sie vor der ganzen Klasse fertig machen und sie dann zum Direktor schicken würde. Vielleicht wäre es sogar besser, gleich von selbst zum Direktor zu gehen. Sie dachte auch daran, eine Geschichte zu erfinden. Dass sie wirklich krank gewesen sei und in dem Cafe eine Aspirin genommen habe. Aber warum dort in der Altstadt? Nun, weil sie vorher beim Arzt gewesen war. Bei welchem Arzt? Hanna gab auf. Lügen hatte keinen Sinn. Und wenn, überlegte sie in ihrer Verzweiflung, Frau Lutz sie gar nicht erkannt hatte? Wenn sie Hanna gar nicht bemerkt hatte und aus einem anderen Grund wieder gegangen war? Weil ihr das Cafe nicht gefallen hatte, oder weil es keinen freien Tisch gab? Völlig absurd! Frau Lutz hatte ihr tief in die Augen gesehen und war dann rausgegangen, weil sie keine Szene machen wollte. Und natürlich konnte sie auch nicht in einem Cafe bleiben, in dem eine Blaumacherin saß. So einfach war das. Am nächsten Morgen fühlte sich Hanna völlig zerschlagen. Kein Wunder, sie hatte die ganze Nacht kaum geschlafen und sich immer wieder die schlimmsten Szenarien ausgemalt. Einen Moment dachte sie daran, nicht in die Schule zu fahren. Im Bett liegen bleiben, die Decke über den Kopf ziehen und einfach nicht da sein. Ihre Mutter würde glauben, dass sie krank war. Aber sie wusste, dass das keine Lösung war. Sie musste die Sache hinter sich bringen, jetzt sofort, egal wie. Flucht nach vorne. Sie stand auf und zog sich an, holte ihr Fahrrad aus der Garage und fuhr los. Wie eine Verbrecherin fühlte sie sich, eine Verbrecherin auf dem Weg zur Verurteilung. Sie stellte ihr Fahrrad auf den Parkplatz. Wie jeden Morgen strömten die Schülermassen auf das Schultor zu. Hanna ließ sich mittreiben. In der Eingangshalle stand der Direktor mit verschränkten Armen. Vielleicht weiß er schon Bescheid, schoss es Hanna durch den Kopf, gleich ruft er mich und führt mich in sein Büro. „Sagen Sie mal, Frau Schopf,... und sehen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede Nein, dachte Hanna, ich werde nichts sagen, kein Wort und ich werde ihn auch nicht ansehen, nicht eine Sekunde ... Es passierte aber nichts, der Direktor bemerkte sie nicht einmal. Hanna ging erleichtert weiter. Sie sah sich um. Wo war Tina? Normalerweise trafen sie sich hier in der Halle und quatschten noch ein bisschen. Aber von Tina war nichts zu sehen. Hanna hätte ihr so gerne alles erzählt, damit sie wenigstens noch eine Komplizin hatte, bevor der Ärger losging. Hanna stieg die Treppe hinauf. Die Abiturklassen waren im 84 85 Dil-: Blaumacherin vierten Stock, die Stufen nahmen kein Ende. Oben schnaufte sie tief durch und ging dann langsam den Gang entlang auf das Klassenzimmer zu. Ein paar Mitschüler standen im Kreis vor der Tür, unterhielten sich und lachten laut über irgend welche Witze. Tina war nicht darunter. Hanna schlich an ihnen vorbei ins Klassenzimmer hinein. In diesem Moment schrillte die Glocke aus den Lautsprechern. Tina saß ganz hinten, zum Glück. Sie sah auf und begrüßte Hanna mit einem Lächeln. Guter Laune wie immer, dachte Hanna, kein Wunder, Mathe machte ihr Spaß und sie kapierte alles. Außerdem war sie gestern nicht der Lutz im Cafe begegnet. Sie setzte sich zu Tina, holte tief Luft, um ihr noch ganz schnell die Geschichte zu erzählen, während die anderen schon hereinkamen. Aber noch bevor Hanna ein Wort sagen konnte, betrat Frau Lutz den Raum. Sie ging ans Pult vor, stellte ihre schwere Tasche darauf und holte einige Bücher und Hefte heraus. Dann drehte sie sich zu den Schülern. Ihr Blick ging durch die Reihen, fiel auf Hanna und verfinsterte sich. Genau wie im Cafe. Hanna hielt den Atem an. Jetzt bin ich dran, dachte sie, keine Chance. Sie starrte auf den Boden und erwartete das Donnerwetter. „Ich frage heute mal niemanden aus", hörte sie Frau Lutz sagen, „ich schreibe eine Aufgabe an die Tafel und wir wiederholen zusammen. Wenn jemand Fragen hat, dann können wir das jetzt klären. Zum letzten Mal. Schreiben Sie bitte alle mit." Hanna sah erleichtert auf. Dann kam der Ärger also erst am Ende der Stunde. Und vielleicht nur unter vier Augen, wenn sie Glück hatte, „Nanu", flüsterte Tina, „die ist aber freundlich heute, was ist Die Blaumacherin denn mit der los?" „Keine Ahnung", sagte Hanna leise, „was habt ihr denn gestern gemacht?" Tina sah sie erstaunt von der Seite an. „Gestern? Wieso gestern?" „Mensch", zischte Hanna, „tu nicht so. Du wirst ja wohl gemerkt haben, dass ich in der Pause abgehauen bin." Plötzlich grinste Tina. „Ach so, du wolltest gestern blau machen?" „Was heißt 'ich wollte'?", erwiderte Hanna ärgerlich, „ich hatte einfach keine Lust und dann bin ich ..." „Du hast aber nicht blau gemacht", unterbrach sie Tina, „wir hatten nämlich gar kein Mathe. Mathe ist ausgefallen. Deshalb." „Was?", Hanna verstand gar nichts mehr. „Ausgefallen? Wieso ausgefallen?" „Weil sie krank war. Die Lutz war krank, ganz einfach." „Krank? Wieso denn krank?" Tina zuckte mit den Schultern, „Mein Gott, warum soll die Lutz nicht auch mal krank sein? Sie ist doch auch nur ein Mensch, oder?" i 86 87 Die Blaumacherin Der Gast Der Gast Nachbarn helfen sich. Das kennt man ja. Sie haben Kaffeepulver, wenn am Sonntagmorgen der Kaffee alle ist, sie haben einen Staubsauger, wenn der eigene kaputt ist und sie haben noch einen Schlüssel, wenn man seinen wieder einmal in der Wohnung vergessen hat. Und wenn man Glück hat, können sie auch noch Wasserhähne reparieren und Videorecorder programmieren. Dafür legt man ihnen die gelesene Zeitung vor die Tür, hilft beim Streichen und nimmt sie zum Supermarkt mit, wenn man mit dem Auto hinfährt. Das klingt sehr harmonisch, aber natürlich gibt es auch andere Nachbarn. Nachbarn, die nerven. Manche nerven vor allem, wenn sie da sind. Notorische Heimwerker, Schlagermusik-Liebhaber. Das ganze Wochenende dieser furchtbare Lärm. Dazu neugierige Blicke auf dem Flur und übles Gerede hinter dem Rücken. Andere Nachbarn nerven besonders, wenn sie nicht da sind. Plötzlich klingeln sie, lächeln freundlich und schon muss man vier Wochen lang die Blumen gießen und schlechtgelaunte Katzen füttern. Und vielleicht noch die Post hochtragen und den Anrufbeantworter abhören. Ich habe da großes Glück. Meine Nachbarn unten sind wunderbar. Ein reizendes Paar. Freundlich, ohne aufdringlich zu sein. Wir pflegen eine lockere, entspannte Freundschaft. Er steht manchmal abends barfuß vor der Tür, mit zwei Bierdosen in der Hand. Dann setzen wir uns gemütlich auf ein halbes Stündchen ans offene Fenster. Und manchmal rufen sie von ihrem Balkon herauf, um mitzuteilen, dass in zwanzig Minuten das Essen fertig ist. Herrlich! Meine Nachbarn sind auch nicht anstrengend, wenn sie weg sind. Sie sind nie lange unterwegs. Diesmal waren es nur fünf Wintertage in Venedig, wegen der Biennale. Zu kurz, um die Pflanzen gießen zu müssen. Sie baten mich nur, manchmal nachzuschauen, ob alles in Ordnung sei und vielleicht ab und zu abends das Licht anzumachen, damit die Wohnung bewohnt aussähe. Ich war natürlich einverstanden, sie sollten sich keine Sorgen machen, sagte ich, ich würde schon aufpassen. Deshalb hatte ich an diesem Abend ein schlechtes Gewissen. Sie waren schon vier Tage weg. Und ich hatte immer noch nichts gemacht. Nur am ersten Abend war ich kurz in der Wohnung gewesen, aber nur - um ehrlich zu sein -, weil ich den Staubsauger brauchte. Die Wohnung meiner Freunde ist riesig. Ein Altbau mit hohen Decken, den man mit Geschmack renoviert hat. Auch die Form ist sehr originell. Zuerst ein Korridor mit Küche und Bad und dann eine Reihe von Sälen hintereinander. Und die Einrichtung! Die Besitzer, die hier lange gewohnt haben, sind Künstler, sie Tänzerin, er Fotograf, zur Zeit auf Weltreise. Die Räume sind voll von Fotos und Bildern, es gibt afrikanische Skulpturen, asiatische Masken, indischen Schmuck. Eine Galerie der Kulturen, ein Traum von einer Wohnung. Als ich den Staubsauger holte, waren die Nachbarn offenbar noch nicht lange weg. Zwei Weingläser standen auf dem Küchentisch, in der Ecke lag eine leere Reisetasche. Sie waren gerade erst abgereist, und schon hatte sich die Wohnung verwandelt. Wo man sonst in helle freundliche Räume trat, vom Lächeln der Gastgeber empfangen, mit Musik 88 89 Dik Blaumacherin erfüllt, stolperte ich diesmal in stille Finsternis. Das Licht in der Küche hatte ich noch gefunden, aber der Korridor blieb dunkel. Also tastete ich mich in den ersten Salon. Im fahlen Schein der Straßenlampen warfen die Figuren auf dem Fensterbrett die seltsamsten Schatten an die Wand. Für einen Moment sah ich ein riesiges Kamel über dem Sofa, schwankend, denn es war windig draußen, die Laternen über der Straße bewegten sich. Endlich fand ich einen Schalter, die Schatten verschwanden, und so leuchtete ich mich von Raum zu Raum, bis ich den Staubsauger endlich gefunden hatte. Vielleicht war es dieser gespenstische Gang durch die unheimliche Wohnung, weshalb ich die nächsten drei Tage meine nachbarlichen Pflichten vernachlässigte. An diesem vierten Abend jedenfalls, als ich von der Arbeit nach Hause ging, fiel mir mein Versprechen wieder ein und ich beschloss, auf dem Weg in meine Wohnung bei den Nachbarn Licht zu machen und es später wieder zu löschen. Ich dachte wieder schaudernd an die dunklen Räume, aber ich beruhigte mich, ich musste ja nicht alles erleuchten, die Küche war eigentlich genug. Licht an und dann schnell wieder raus. Aber es geschah etwas ganz anderes. Ich bemerkte es schon auf der Straße, sonst wäre ich oben vielleicht noch mehr erschrocken. Licht. Licht in der dritten Etage. In einem der hinteren Zimmer. Ich zählte die Stockwerke. Nein, keine Verwechslung. Licht in der Wohnung meiner Nachbarn. Sie sind schon zurück, dachte ich. Vier Tage statt fünf Tage. Schlechtes Wetter. Aber in Italien war kein schlechtes Wetter. Und sie waren auch nicht wegen der Sonne dort. Ein Streit? Aber sie stritten nie. Oder doch? Vergiss es, dachte ich, sie hätten mich angerufen. Dkr Gast Oben immer noch Licht. Eine andere Möglichkeit: Ich hatte vor drei Tagen, bepackt mit Staubsauger und Zubehör, nicht alle Lichter gelöscht. Seitdem brannten sie. Keine schlechte Lösung. Dann hätte ich auch meine Pflichten erfüllt. Ich musste nur noch das Licht löschen und mein Auftrag wäre für diesmal erledigt. Ich sperrte die Haustür auf und stieg die Treppe hinauf. Kein Lift jetzt, ich brauchte noch Zeit, Zeit zum Nachdenken. Warum war mir das Licht nicht früher aufgefallen? Seltsam. Als ich oben ankam, war ich trotzdem fast überzeugt. Bis ich den Lichtstrahl unter der Tür sah. Der musste aus der Küche kommen. Ein Licht vergessen, irgendwo in den hinteren Räumen, das konnte sein. Aber Küchenlicht, das in den Flur fällt? Unmöglich. Das hätte ich doch bemerkt, als ich aus der Wohnung ging. Oder war ich da wirklich leicht panisch gewesen? Aus der Wohnung gerannt, ohne mich umzudrehen, verfolgt von einem riesigen schwankenden Kamel? Licht unter der Tür. Oder waren sie doch zurück? Wegen der Arbeit vielleicht. Ein neuer Auftrag oder so etwas. Komm herein, hörte ich Tim schon sagen, wir sind ein bisschen früher zurück. Die liebe Arbeit. Wir wollten noch anrufen, aber dann, das Handy hat nicht... und die Telefonzellen in Italien, du weißt ja, und schönen Dank auch für die Wohnung. Nichts zu danken, schon in Ordnung, war doch klar ... Ich holte den Schlüssel aus der Tasche und sperrte die Tür auf. Der Flur, erleuchtet durch das Licht aus der Küche. „Hallo?" fragte ich zögernd. „Seid ihr da?" Ich sprach leise, als wollte ich niemanden erschrecken. Vor 90 91 DlK Blaumacherin allem mich selbst nicht. Keine Antwort. Also doch kein Auftrag. Also doch die Lösung mit dem vergessenen Licht. Auch recht. Ich sah in die Küche, immer noch die zwei Gläser auf dem Tisch, die Reisetasche auf dem Boden. Alles in Ordnung, dachte ich. In diesem Moment hörte ich Schritte. Die Nachbarwohnung, versuchte ich mir einzureden. Aber dafür waren die Schritte zu deutlich. Gleich nebenan, im ersten Salon. „Hallo, ich wusste nicht, dass ihr schon zurück seid, ich wollte nur..." „Tim und Barbara sind noch nicht zurück", sagte eine Gestalt am anderen Ende des Flures. „Aber ich blieb in der Küchentür stehen, bewegungslos, fassungslos. Die Gestalt kam auf mich zu, immer noch dunkel, bis sie endlich ins Licht aus der Küche tauchte. Ein junger Mann, der mir freundlich lächelnd die Hand entgegenstreckte. „Hallo, ich bin Fabio. Und du musst der Nachbar sein. Tim hat dir ja sicher Bescheid gesagt." Ich nahm die Hand, automatisch, beruhigt von den Worten ,Nachbar', ,Tim', ,Bescheid'. „Nein", flüsterte ich, „ich weiß überhaupt nichts." „Was? Hat er dich heute Vormittag nicht angerufen?" „Nein", sagte ich und fügte dann hinzu: „Ich war allerdings nur bis elf Uhr zu Hause. Und meinen Anrufbeantworter oben habe ich noch nicht abgehört." „Ach so, deshalb", sagte der Typ, „dann musst du ja eben schön erschrocken sein." „Allerdings", grinste ich verlegen, als ob ich mich für etwas schämen müsste, „Tut mir echt Leid", sagte er, „ist alles meine Schuld." 92 Der Gast Er ging an mir vorbei in die Küche. „Komm, setz dich, hast du einen Augenblick Zeit?" Ich nickte, stellte meine Tasche an die Wand und ließ mich auf einen der Stühle fallen. Der Typ ging zum Kühlschrank, holte eine Flasche Weißwein heraus und entkorkte sie. Dann sah er sich kurz um, nahm schließlich die beiden Gläser vom Tisch, spülte sie unter dem Wasserhahn und schenkte ein. „Die Geschichte ist ganz einfach. Tim und ich sind alte Freunde. Noch vom Studium. Fast wie Brüder. Und heute früh bin ich am Bahnhof angekommen und habe ihn gleich angerufen. Sollte eine Überraschung sein. Ich habe mich so auf die beiden gefreut. Da hat er mir gesagt, dass sie gar nicht da seien, unterwegs. Wo eigentlich?" unterbrach er sich einen Moment. „In Venedig." „Ach ja, genau, Venedig, hat er ja gesagt. Na ja, jedenfalls hat er mir angeboten, hierher zu kommen, damit ich wenigstens kein Hotel suchen müsste. Er hat mir das mit dem Schlüssel erklärt. Wahnsinnig nett, wie immer, so ist er eben. Total schade, dass sie nicht da sind." „Klar", sagte ich. Er holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, öffnete sie mit dem Zeigefinger und hielt sie mir hin. Mein Blick fiel kurz auf das Kamel auf der Packung, ich schüttelte den Kopf, ich hatte im Moment keine Lust zu rauchen. „Na ja, und er hat natürlich von dir gesprochen" fuhr der Gast fort, „er wollte dich sofort anrufen, darauf habe ich mich ' natürlich verlassen. ,Trink mit ihm ein Glas', hat er noch gesagt. Mensch, und jetzt jage ich dir so einen Schrecken ein!" „Schon gut", sagte ich, „ich bin ja froh, dass sich das Rätsel so gelöst hat. Die Erklärungen, die mir draußen eingefallen sind, als ich plötzlich das Licht sah, waren nicht so toll." 93 Die B] aumacherin Der Gast „Kann ich mir vorstellen. Na dann, Prost!" Wir unterhielten uns eine ganze Weile. Die beiden hatten zusammen studiert, auch er war Grafiker. Er war wegen einer Ausstellung hier. Er stammte aus Hamburg, wohnte aber schon seit vielen Jahren in London. Er war wirklich nett, erkundigte sich auch nach mir, also erzählte ich, irgendwann plauderten wir wie alte Bekannte. Am Ende erklärte ich ihm noch ein paar Eigenheiten der Wohnung, vor allem das mit der Heizung und dem Wasserboiler. Dann verabschiedeten wir uns, er wollte morgen früh schon wieder weiter. Und wenn ich mal nach London käme, Tim hätte ja seine Adresse. Ich stieg die Treppe hinauf, vom Wein leicht benommen und schüttelte nur den Kopf darüber, auf welch freundliche Art und Weise diese Geschichte also zu Ende gegangen war. Aber die Geschichte war noch nicht zu Ende. Zurück in meiner Wohnung war ich gespannt, wie Tim seinen Freund auf dem Anrufbeantworter angekündigt hatte. Ich hörte die Nachrichten ab, aber von Tim keine Spur. Also hatte er es tatsächlich vergessen. Oder er wollte es einfach darauf ankommen lassen. Eine Art Scherz, wie im Fernsehen mit der versteckten Kamera. Wenn es so war, hatten wir den Test bestanden, aber trotzdem hatte ich dann noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, brannte oben Licht. Sie waren also schon zurück. Ich ging hinauf, ließ den Schlüssel diesmal in der Tasche und klopfte. Tim öffnete und lachte erfreut. „Da bist du ja! Komm rein!" „Alles in Ordnung?", fragte ich. Er sah mich einen Moment verwundert an. „Aber klar, wir sind gerade zurückgekommen." Er grinste. Und wir haben dir was Schönes mitgebracht. Weil du hier so fein aufgepasst hast." „Warum habt ihr mir nichts gesagt?", fragte ich, während er in einer Tasche herumkramte. „Was gesagt?", fragte Tim zurück. „Na was wohl? Das mit eurem Freund, mit Fabio!" Er hörte auf zu kramen. „Was für ein Fabio?" Es stellte sich heraus, dass Tim zwar einen Fabio kannte, aber der wohnte weder in London noch hatten sie zusammen studiert. Vor allem aber hatte ihn gestern niemand angerufen, er hatte sein Handy nicht einmal dabei gehabt. Ich erzählte die Geschichte. Tim und Barbara, die inzwischen aus der Dusche gekommen war, hörten zu, ungläubig die Stirnen runzelnd. Sie hielten alles ganz offensichtlich für ein Schauermärchen. Jedenfalls taten sie so, als wollte ich sie zur Begrüßung auf den Arm nehmen. Ich zeigte auf die beiden Gläser auf dem Tisch. „Hier haben wir gesessen und getrunken, mindestens eine Stunde oder zwei." Barbara winkte ab. „Aber was redest du da, die Gläser sind doch von uns! Wir haben hier vor der Abfahrt noch auf unsere Reise angestoßen und hatten dann keine Lust mehr, aufzuräumen." Ich wollte ihnen die leere Flasche zeigen, aber auch das hatte keinen Zweck, neben dem Kühlschrank standen fünf oder sechs davon. „Außerdem, wie soll der Typ überhaupt hereingekommen sein?", fragte Tim. „Ich weiß nicht", sagte ich, „er hat irgendwas davon gesagt, dass 94 Dik Blau macherin Dkr Gast du ihm am Telefon erklärt hast, wie er an den Schlüssel kommt. Im Büro oder bei anderen Freunden, habe ich gedacht." Tim schnalzte zurückweisend mit der Zunge. „Nur du hast den Schlüssel. Und die Eigentümer. Aber die sind auf Reisen." Er glaubte mir immer noch kein Wort. Barbara war immerhin bereit, nachzuschauen, ob wirklich alles in Ordnung war und nichts fehlte. Aber sie tat so, als ob sie ein Spiel mitspielen würde, als ob man ein Kind beruhigen müsste, nein, unter deinem Bett ist kein Krokodil. Achselzuckend kam sie gleich wieder zurück. „Der Laptop steht auf dem Tisch. Das wäre doch das erste gewesen, was jemand mitnehmen würde. Und mein Schmuck ist auch da." Sie hielt einen Moment inne, als ob sie überlegen würde. „Das einzige, was mir einfällt,... ich dachte, dass ich auf dem Nachttisch fünfzig Euro liegen lassen habe, die habe ich jetzt nicht mehr gesehen." „Na also", sagte ich, fast erleichtert. „Aber ich bin wirklich nicht sicher, ich kann mich auch täuschen. Ist ja auch egal", meinte sie. Es war nicht egal, fand ich, es war zum Verrücktwerden. Ich wollte etwas finden. Einen sicheren Beweis. „Da in der Ecke", sagte ich, „da war doch eine Reisetasche ..." „Da steht immer noch eine Reisetasche", gab Tim befremdet zurück, „die hatten wir in Venedig dabei.,," „Ja, schon", beharrte ich, „aber gestern lag da noch eine leere Tasche auf dem Boden und jetzt ist sie weg!" Die beiden sahen sich an. Oder stecken die alle unter einer Decke?, dachte ich einen Moment. Aber dann müsste der Spaß doch irgendwann zu Ende sein. „Schon möglich", sagte Barbara ungeduldig, „aber ich habe vor- hin schon ein bisschen aufgeräumt, wir haben ja so viele Sachen mitgebracht. Und von diesen Taschen haben wir mehrere." Die Schachtel fiel mir ein. Die Schachtel mit dem Kamel. Er hatte sie zerknüllt, als sie leer war. Und Tim und Barbara rauchten eine andere Marke. Unter der Spüle stand der Karton mit dem Altpapier. „Lass endlich gut sein", sagte Tim freundlich, aber bestimmt, als ich den Karton zu meinem Stuhl ziehen wollte, „alles ist in bester Ordnung und wir trinken jetzt ein schönes Gläschen Trebbiano. Wir haben extra ein paar Flaschen für dich mitgebracht. Und ein großes Stück Pecorino und Parmesan. Was wollen wir mehr?" Schließlich ließ ich von der Papierkiste ab. Die beiden begannen, von Venedig zu erzählen, holten dicke Kataloge heraus und zeigten mir Bilder von der Biennale. Gemälde, Skulpturen, Installationen. Dazu ihre Erlebnisse und Beobachtungen. Und Wein und Käse und italienische Musik. Von meiner Geschichte haben wir nie wieder gesprochen. Als ob ich nur einen Spaß gemacht hätte. Ich träume manchmal davon. Eine grinsende Gestalt, die sich von mir den Wasserboiler erklären lässt und sich dann eine riesige Tasche mit 50-Euro-Scheinen vollstopft. Im Grunde warte ich immer noch darauf, dass irgend etwas passiert: auf ein Schulterklopfen. Dass alles doch nur ein Scherz war. Und Fabio ein guter Freund. Oder auf einen Anruf, der alles klärt. Oder dass unten doch etwas fehlt, ein Sparbuch, eine Halskette, Unterlagen der Agentur. Aber nichts. Die beiden scheinen die Sache längst vergessen zu haben. 96 97 Der Gast Inzwischen hat Barbara auch ihre Fotos von Venedig entwickelt und die besten zu Postern vergrößern lassen. Eines davon hängt jetzt in ihrer Küche, ein Kanal in Venedig. Aus dem Wasser ragt eine Karawane von Kamelköpfen, die sich im Gegenlicht am Horizont verliert. 99 Dlh Bl aumacherin Als ich unsterblich war Jetzt, sagte der alte Mann, da es zu Ende geht, muss ich euch noch etwas anvertrauen. Ich habe lange gewartet, aber nie war der richtige Augenblick. Es konnte nicht der richtige Augenblick sein. Manchmal war ich versucht, es trotzdem zu erzählen. In einem jener helleren Momente des Lebens: Freunden am Ende eines Festes, Unbekannten auf einer Reise oder einer Frau nach einer Liebesnacht. Aber ich tat es nicht. Jetzt endlich weiß ich, dass ich sterbe. Ich bin froh darüber, ich habe lange darauf gewartet. Wie lange, das könnt ihr euch nicht vorstellen. Und jetzt kann ich euch auch meine Geschichte erzählen. Der Alte richtete sich im Bett ein wenig auf und versuchte, in dem schwachen Licht einzelne Gesichter zu erkennen. Wahrscheinlich waren alle da, seine Familie, seine Freunde. Ich wollte euch sagen, dass ich unsterblich war. Ihr werdet das nicht glauben, ihr werdet das für wirres Zeug halten, für die letzten Fantasien eines sterbenden Greises. Aber so ist es: Ich war unsterblich. Wie es dazu gekommen ist, das kann und will ich euch nicht erzählen. Das wird mein Geheimnis bleiben. Nur so viel: Es war am Ende meines ersten Lebens, ich war etwa so alt wie jetzt und spürte, wie meine Kräfte langsam schwanden. Aber ich wollte noch nicht sterben. Die Welt war immer noch so schön und es gab noch so viel zu tun. Ich dachte an die Dinge, die ich versäumt hatte, an die Menschen, die ich wiedersehen wollte. Kurz: Ich hing an der Welt, und nun sollte alles aus sein. Da lernte ich das Ritual kennen. Das Ritual, das mich unsterblich machen konnte. Zuerst war ich vorsichtig, ich wollte den 100 Als ich unsterblich war Preis wissen. Aber es gab keinen Preis, es kostete nichts. Ich hatte nichts zu verlieren. Also versuchte ich es. Es ist ganz einfach. Nicht viel mehr als eine Geste, fast wie ein Fingerschnippen. Ein Schnippen, und plötzlich darf man wieder von vorne anfangen. Kein Mensch kann sich vorstellen, wie das ist: wieder Kind sein. Das Dorf, die Eltern, die Geschwister, Kinderfreunde. Diese fernen Wesen auf den vergilbten Fotos, plötzlich sind sie wieder Menschen aus Fleisch und Blut in einer vertrauten kleinen Welt. Und doch, schneller als ich dachte, wurden aus diesen goldenen Erinnerungen graue Tage. Kein Wunder, unsere Erinnerungen sind Bilder von bestimmten Momenten, aber zwischen diesen Bildern liegt die ganze Länge der Zeit. Endlose Vormittage in der Schule, öde verregnete Nachmittage am Fenster, lange Wochen krank im Bett. Ich wurde ungeduldig. Ungeduldig vor dieser unerbittlichen Dauer der Zeit. Das war schon bei der ersten Rückkehr so, was soll ich euch also sagen, von der zweiten, von der dritten? Ich wusste um mein Glück, aber ich war nicht glücklich. Und doch konnte ich nicht klagen. Alles war besser, als plötzlich nicht mehr da zu sein. Schließlich fand ich eine Lösung. Ich lernte, das Ritual zu variieren. Ich musste nicht mehr ganz zurück, vom hohen Alter bis in die Kindheit. Ich lernte, immer nur ein Stück zurückzugehen: ein paar Jahre, Wochen, ja, sogar nur einige Augenblicke. Welch ein Fest! So konnte ich bleiben, in den jungen Jahren der großen Entscheidungen: über Beruf, Orte, Freundschaften, Liebschaften. Diese Zeit der Chancen, von der man denkt, sie dauert ewig. Doch wie schnell werden dann aus glänzenden 101