Dir Blaumacherin Welcher Tag ist heute? Es war ein Sonntag im Dezember, die Sonne schien und ich hängte gerade die Wäsche auf. Ich weiß, Sonntag ist dafür nicht der richtige Tag. Man sollte Besseres zu tun haben, vor allem, wenn die Sonne scheint. Aber so sind die Sachen schnell trocken. Und wenn ich sowieso am Schreibtisch sitze, dann kann ich auch gleich waschen. Als der Lärm der Waschmaschine aufgehört hatte, war ich froh, einen Grund zu haben, die Arbeit zu unterbrechen und auf die kleine Dachterrasse zu gehen. Plötzlich das Licht der weißen Wintersonne, viel wärmer, als man drinnen gedacht hatte. Und endlich diese Ruhe über den Dächern. Denn unter der Woche ist das Haus eine laute Baustelle, seit Monaten wird hier renoviert. Herrlich, dachte ich, nachher werde ich draußen essen. Durch das Eisengeländer bemerkte ich meine alte Nachbarin. Frau Zach saß, barfuß in schäbigen Pantoffeln, in der Sonne und hatte ihr Nähzeug auf dem Schoß. Ich sah sie nicht oft. Wenn ich ihr auf der Terrasse oder im Treppenhaus begegnete, blickte sie mich immer wie überrascht an und grüßte nur kurz zurück. Ich habe sie immer nur mit ihrer Katze reden hören, mit ihrer Katze und mit ihrem Mann. Fast jeden Morgen weckte mich ihre Hexenstimme durch das offene Fenster, immer mit den gleichen Worten: „Na, meine Süße, hast du eine Maus gefres-sen: Sie sprach von Mäusen, die ich hier oben nie gesehen habe und bemühte sich dabei vergeblich, ihrer heiseren Stimme etwas Zärtliches zu geben. Mit ihrem Mann war es anders gewesen. Nichts mehr von ihrem Katzenflüstern. Als Nachbar hatte man den Eindruck, 62 14 Die Blaumacherin Welcher Tag ist heute? dass sie sich nur anschrien. Abends hörte ich oft sein cholerisches Brüllen, dann ihr lautes Keifen: „Was willst du, Walter?" Ab und zu schallte seine Stimme auch durch das Treppenhaus, wenn er unten betrunken in der Tür stand und von ihr abgeholt werden musste. Er rief sie ungeduldig über fünf Stockwerke: „Julia, Julia!". Nach ein paar Sekunden öffnete sich dann die Tür nebenan: „Ich komme ja!" und schon klapperte sie die Stufen hinunter. Auch Herrn Zach hatte ich ab und zu im Treppenhaus getroffen, wenn er eine Pause machte, schwer atmend, beide Hände am Geländer. Er grüßte zuerst freundlich und begann dann zu fluchen, auf seine Beine und auf die Ärzte und vor allem auf den neuen Aufzug, der immer noch nicht funktionierte. Vor vier Monaten musste Herr Zach dann ins Krankenhaus, auch sie war plötzlich weg. Irgendwann sah ich sie dann wieder auf der Terrasse, alleine. Er sei gestorben, erzählten die Nachbarn. Ein paar Tage später, ich erinnere mich noch genau, fuhr der Aufzug zum ersten Mal. Wahrscheinlich war sie froh, dass er nicht mehr da war, dachte ich mir, während ich sie nun so friedlich in der Sonne sitzen sah. Sie musste gelitten haben. „Guten Tag", sagte sie, als sie mich bemerkte, „schönes Wetter heute, nicht wahr?" „Ja", antwortete ich, überrascht von diesem milden Satz, offenbar wollte sie sich ein bisschen unterhalten. „Da wird die Wäsche schneller trocken", fügte ich hinzu, weil mir nichts anderes einfiel. Sie schaute kurz herüber und blickte auf das erste Hemd, das nass an der Leine hing. „In zwei Stunden wird alles trocken sein", sagte sie und beugte sich wieder über ihre Arbeit. Etwas hatte sich verändert, fiel mir auf. Ihre Stimme war nicht 64 mehr unangenehm, ein Ton, den ich noch nie von ihr gehört hatte. Das war weder die Katzenstimme noch die Walter-Stimme. Wieder sah sie von ihrem Nähzeug auf. „Sagen Sie mal, welcher Tag ist heute? Samstag oder Sonntag?" „Sonntag", antwortete ich. „Sonntag?" fragte sie zurück, „ganz sicher Sonntag und nicht Samstag?" Die Gute, dachte ich, sie will tatsächlich ein bisschen plaudern. „Sonntag", wiederholte ich, „deshalb ist es doch so still im Haus. Die Arbeiter sind nicht gekommen. Und vorhin haben die Kirchenglocken geläutet. Haben Sie die nicht gehört?" „Ja, ja", lächelte sie und schüttelte dabei den Kopf, „und ich war ganz sicher, es sei Samstag. So was." Warum habe ich nie mit ihr gesprochen? fragte ich mich. Immer nur ein kurzer Blick und „Guten Tag" und dann war ich froh, dass sie gleich wieder wegschaute oder weiterging. Sie freut sich doch, ein bisschen zu plaudern, jetzt, wo sie allein ist. Und sie hätte sich auch früher gefreut, als sie alleine war mit diesem Mann. „Eigentlich sollte man an so einem Tag nicht arbeiten, sondern raus und spazieren gehen, nicht wahr?" sagte ich. Keine Antwort. Vielleicht hatte sie mich nicht richtig verstanden oder gar nicht gehört, dachte ich und griff wieder in den Wäschekorb. Dann, nach einer Weile, sagte sie plötzlich leise: „Ja, ja, Sie haben schon Recht, spazieren gehen, aber es gibt Arbeit, immer gibt es Arbeit." Sie deutete auf den Kleiderhaufen neben sich, blickte dann wieder kurz zu mir: „Wissen Sie, ich habe mein Leben lang viel gearbeitet." Also doch, dachte ich, man konnte sich mit ihr unterhalten. 65 Die Blaumacherin Die Nachricht Man musste nur Geduld haben und zuhören. „Was haben Sie denn früher gemacht, wenn ich fragen darf?" erkundigte ich mich, ließ ein Wäschestück wieder in den Korb fallen und trat einen Schritt näher an das Geländer heran. „Ich war Friseurin" antwortete sie, ohne aufzublicken, „unten in der Straße, vorne am Eck, viele Jahre lang." Ich versuchte mir das vorzustellen. Die Straße hier in der Altstadt, der jetzt leer stehende Laden vorne am Platz. Was musste sie hier alles erlebt haben. Sie hatte bestimmt viel zu erzählen. Und sie freute sich wahrscheinlich, wenn man sich ein bisschen dafür interessierte. Ich hatte sie nie etwas gefragt, ich hatte nie mit ihr geredet. Ich hatte ihr nicht einmal zum Tod ihres Mannes kondoliert. Ich könnte sie einmal auf einen Kaffee einladen, überlegte ich, oder vielleicht wäre ihr lieber, wenn ich rüberkäme und mich einfach zu ihr setzte. „Sagen Sie mal", begann sie wieder. „Ja, bitte", sagte ich schnell und trat noch näher an das Geländer. Sie legte Nadel und Faden beiseite und musterte das geflickte Kleidungsstück. „Sagen Sie mal, welcher Tag ist denn heute?" Ich zögerte einen Moment. „Sonntag", sagte ich dann, „es ist Sonntag." Sie sah mich ungläubig an. „Sonntag, sagen Sie? Wirklich?" „Ja", sagte ich noch einmal, „ganz bestimmt." „So, so", murmelte sie und hielt den grauen Stoff einen Augenblick ins Sonnenlicht. Jetzt sah ich, dass es die alte Jacke ihres Mannes war. „Und ich habe gedacht, heute sei Dienstag", sagte sie leise und legte die Jacke auf den Haufen. Die Nachricht Er sah auf die Uhr. Halb sechs. Er würde spät kommen. Sie würde zu Hause auf ihn warten und ihn fragend ansehen. Wo bist du gewesen? Sie hatte ihn nicht anrufen können, er hatte sein Handy nicht mitgenommen. Sie würde auch fragen, warum er sein Handy nicht mitgenommen hatte. Er musste etwas tun, anrufen, jetzt sofort und sagen, dass er sich verspätet hätte. Das würde sie beruhigen. Er sah eine Telefonzelle, ging hinein und wählte. Während es klingelte, überlegte er, was er sagen sollte. Einkaufen? Aber was sollte er eingekauft haben? Sport? Dann würde er jetzt anders aussehen, vor allem hätte er eine Tasche unterm Arm, wenn er nachher nach Hause käme. Sie nahm nicht ab. Er wartete gespannt. Mit jedem Klingeln wurde es unwahrscheinlicher, dass sie plötzlich dran wäre. Vielleicht war sie noch einmal kurz zum Supermarkt oder drüben bei Sarah. Endlich ging der Anrufbeantworter los. Erleichtert atmete er auf. Ihre freundliche Stimme mit diesem freundlichen Text: Wir sind nicht zu Hause, Sie können aber gerne eine Nachricht hinterlassen ... Na also, dachte er. Er spürte die Lust, dieser Stimme einfach zu glauben. Sie sei so guter Laune und würde sich über seinen Anruf wirklich freuen. „Ich bin es, Liebling", hörte er sich sagen, „ich bin noch unterwegs, ich ... ich habe bei Ivo vorbeigeschaut und bin wieder mal hängen geblieben. Du weißt ja, er fährt morgen für ein paar Wochen weg und da haben wir uns ein bisschen verquatscht. Ich bringe ihn jetzt noch zum Theater und dann komme ich. Bis gleich." 66 67 Die Bi.aumacherin Die Nachricht Er drückte auf die Gabel, behielt den Hörer noch einen Moment in der Hand. Diese verdammten Nachrichten. Man sieht niemanden, hört niemanden, aber plötzlich soll man sprechen und jedes Wort wird registriert und aufgenommen. Gnadenlos. Er lehnte sich an die Glaswand, klopfte mit dem Hörer gegen die Hand. Ivo. Ivo. Vielleicht war das gar nicht so schlecht. Ein guter Freund von beiden, aber keiner von denen, die sie sofort anrufen würde, um nachzufragen, ob er tatsächlich da gewesen war. Außerdem stimmte es wirklich, dass Ivo morgen auf Tournee ging. Für ein paar Wochen kaum erreichbar. Genau das, was er jetzt brauchte. Er legte den Hörer auf und ging weiter. Die Geschichte war sogar sehr gut. Er musste keine Alibi-Einkäufe mehr machen, er brauchte sich keinen Kinofilm auszudenken. Nichts. Er hatte sogar noch eine gute halbe Stunde Zeit. Schließlich musste er Ivo zum Theater bringen. Noch ein Bier, dachte er, am besten in irgendeiner verqualmten Bar, um sich den Duft des Nachmittags wegzuräuchern, um ganz nach Männernachmittag zu riechen. Als er eine knappe Stunde später nach Hause kam, war er den Ablauf des Nachmittags noch ein paar Mal durchgegangen. Er hatte sogar probiert, bei Ivo anzurufen. Keine Antwort. Gut so. Alles war dunkel, sie war noch nicht zu Hause. Er überlegte einen Moment, die Nachricht zu löschen, vielleicht war sie gar nicht nötig. Aber er ließ es. Wenn sie drüben bei Sarah saß, wusste sie genau, dass er erst jetzt zurückgekommen war. Er ging in die Küche, schenkte sich ein Glas Wein ein, setzte sich in einen Sessel im Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster. Dämmerung Leuchtendes Abendrot. In diesem Augenblick hörte er den Schlüssel in der Haustür. Gut, dachte er, dass er zuerst da war, ein psychologischer Vorteil. Aber wahrscheinlich hatte sie wirklich bei Sarah auf ihn gewartet oder - einen Moment lang erwog er auch das - vielleicht war sie ihm schon länger gefolgt. Unsinn, dachte er und drehte sich langsam um. Er sah, wie sie im Korridor ihre Jacke auszog und sich vor dem Spiegel mit beiden Händen durch die Haare strich. „Hallo", sagte er. Sie fuhr herum. „Mein Gott, hast du mich erschreckt! Ich dachte, dass niemand zu Hause wäre. Warum hast du denn kein Licht gemacht?" „Ich bin auch erst gerade nach Hause gekommen", sagte er. Er wollte versuchen, so lange wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben, „und da habe ich mich erstmal hingesetzt." Sie kam ins Wohnzimmer, beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Schön, dass du da bist." Sie sah aus dem Fenster. „Was für ein herrliches Abendrot!" Sie streifte ihre Schuhe ab und ließ sich aufs Sofa fallen. „Ein Glas Wein, Liebling?", fragte er. Sie sah sein Glas auf dem Tisch. „Ja, gerne", antwortete sie. Er stand auf und ging in die Küche. „Hast du schon Hunger?" rief sie ihm nach. „Nein, eigentlich noch nicht", antwortete er, während er ein Glas einschenkte. „Gut", sagte sie, „ich auch nicht. Ich kann ja später eine Pasta machen." Er brachte das Glas herein, reichte es ihr. „Wie du willst. Wir können uns aber ruhig Zeit lassen. Und die 68 69 DlK BlAUMACHKRIN Die Nachricht Pasta kann auch ich machen." „Lass nur", sagte sie, „das mache ich gerne. Aber noch nicht gleich." „Absolut einverstanden." Sie stießen an, sahen sich kurz in die Augen. Kein Argwohn, kein Vorwurf. Er lehnte sich beruhigt zurück. Warum malte er immer den Teufel an die Wand? Diese Visionen. Sie mit verschränkten Armen in der Tür. Wo bist du gewesen? Ich weiß alles. Ihre Gelassenheit, verwandelt in Bitterkeit. „Wie war dein Tag, Schatz?", hörte er sich fragen. Er biss sich auf die Lippen. Warum fing er damit an, heilfroh, dass sie noch nichts gesagt hatte? Aber irgendwie, es musste raus. Warum künstlich vom Tag ablenken? Sie sollte erzählen und zwischendurch würde er etwas von sich erwähnen, Ivo, das Theater und die Sache war erledigt. „Ich war unterwegs, in der Altstadt", antwortete sie. Er drehte sich herum, blickte in den schon dunklen Korridor. „Aber du hast gar nichts gekauft.", sagte er. „Nein", lächelte sie, „ich hab mich mal zurückgehalten. Einfach gebummelt." „Und das bei der Kälte?" „Ja", sagte sie, „ich war dann Kaffee trinken." „Kaffee trinken? Ganz allein?" „Nein, nicht allein." Sie tat geheimnisvoll. „Mit Sarah, schätze ich mal." Sie schüttelte den Kopf. „Die ist gar nicht da. Sie sind aufs Land gefahren. Wir hätten übrigens mitkommen können. Sie haben uns eingeladen." „Aber du hast abgelehnt." „Allerdings, ist dir doch recht, oder?" „Natürlich, ich hätte keine Lust gehabt. Und keine Zeit." „Das dachte ich mir." Einen Augenblick sagten sie beide nichts. „Mit wem warst du nun Kaffee trinken?" nahm er das Gespräch wieder auf. „Mit Ivo", sagte sie. „Mit Ivo?" „Ja", sagte sie, „ich habe ihn unterwegs angerufen. Ich dachte, dass du vielleicht dort wärst." Die Nachricht! durchfuhr es ihn. Die verdammte Nachricht! „Außerdem wollte ich ihm alles Gute für die Tournee wünschen. Er hatte noch ein bisschen Zeit, also haben wir uns zu einem Kaffee verabredet. Wir wollten dich noch anrufen, aber im Cafe haben wir es ganz vergessen. Tut mir Leid, wirklich." Die Nachricht, die verdammte Nachricht. „Er fährt morgen und heute Abend ist er im Theater." „Ja", sagte er, „ich weiß." Er beugte sich vor, fuhr sich mit den Händen über die Wangen. Sie wollte trinken, setzte das Glas aber wieder ab. „Ist was los mit dir? Ich meine, ich kann doch wohl mit Ivo Kaffee trinken gehen. Du wirst doch nicht eifersüchtig sein?" „Nein", sagte er leise, „natürlich nicht." „Das würde ich auch meinen", sagte sie bestimmt und nahm einen Schluck. Dann stand sie auf und machte Licht. „Nein", flüsterte er, „bitte nicht." „Wie du willst", sagte sie verwundert und löschte das Licht wieder. Er wollte aufstehen, ihr irgendwie zuvorkommen, aber sie stand schon neben dem Telefon. „Hast du die Nachrichten schon abgehört?", fragte sie. Er sah zum Fenster hinaus. Nur noch ein roter Streifen am Horizont, sonst Dunkelheit. „Nein", sagte er, „doch ich meine es ist nichts,..." Sie beugte sich über den Anrufbeantworter. 70 I 71 Die Blaumacherin „Da sehe ich aber eine „Zwei" leuchten." „Das ist nichts", sagte er schnell, „wirklich nichts." „Na, ich höre es noch einmal ab." Sie drückte den Knopf, er faltete die Hände vor dem Gesicht. „Sie haben zwei Nachrichten", sagte die sterile Frauenstimme, „Nachricht Nummer 1, erhalten heute um 17 Uhr 34." Piep. „Ich bin es, Liebling. Ich bin noch unterwegs,..." Er wartete auf irgendetwas, aber es blieb ganz still. Er wartete auf ihre Schritte, auf einen Schrei, darauf, dass ihr Glas auf dem Boden zerbrach. Aber er hörte nichts, nicht einmal, dass sie das verdammte Ding wenigstens abschaltete. Sie stand hinter ihm, irgendwo in der Dunkelheit und es war, als ob beide den Atem anhielten. Er wagte nicht sich umzudrehen. Stur starrte er nach draußen, auf den letzten Streifen Rot. Piep, piep, piep, kam es vom Band und dann in die Stille hinein: „Nachricht Nummer 2, erhalten heute um 18 Uhr 10." Piep. „Hallo, ihr zwei Hübschen! Hier spricht Ivo. Es ist schon Samstagnachmittag, kurz nach sechs. Ich habe es leider nicht mehr geschafft, euch früher anzurufen. Ich wollte mich aber wenigstens noch verabschieden. Ich fahre morgen früh. Ich melde mich wieder, wenn ich zurück bin, so in sechs Wochen. Oder mal zwischendurch. Bis dann!" T Frau Falkner Frau Falkner Ich war wieder einmal zu Hause, in der kleinen Stadt, wo ich aufgewachsen bin. Zu Besuch bei meiner Familie, wie jeden Sommer, Ich freue mich immer auf diese Reise. Ein herzliches Wiedersehen, das gute alte Haus, der stille Garten. Dabei hat sich jedes Mal etwas verändert. Das Haus an der Ecke steht nicht mehr, jemand ist weggezogen, der alte Nachbar ist gestorben. Kein Wunder, schon wieder ein Jahr vorbei, die Zeit vergeht. Auch wenn ich durch die Stadt gehe, merke ich das. Viele Plätze von früher gibt es nicht mehr, das altmodische Kino ist jetzt eine Whiskybar, das gemütliche Antiquariat eine schicke Buchhandlung, In meinem Lieblingscafe sitze ich unter jungen Menschen, die mich anblicken wie einen Fremden: Irgendwie haben sie ja Recht, der Ort gehört jetzt ihnen. Bekannte treffe ich auf der Straße immer seltener, ab und zu mal einen ehemaligen Schulkameraden. Man erkennt sich und grüßt verlegen, weil man den Namen vergessen hat. Manchmal reicht es für einen Kaffee, für ein paar Nachrichten über Mitschüler und dann tauscht man die Adressen aus, auch wenn man sich nie anrufen wird. Ein paar alte Freunde gibt es auch noch. Man trifft sich, plaudert und trinkt eine Menge, aber nicht mehr die ganze Nacht durch, so wie früher. Schließlich warten am nächsten Morgen schon der Job, die Familie, das Baby. Ich genieße diese Tage, unbeschwert, sorglos, planlos. So viel Zeit und keine stressigen Termine. Ich schlafe aus, lese im Garten und unterhalte mich mit den Eltern. Manchmal fahre ich mit dem Fahrrad ins Nachbardorf, um dort mit dem Sohn von Bekannten Tennis zu spielen. 72 73 Die Bl.aumacherin Frau Falkner Ich glaube, es war auf dem Rückweg von so einem Tennismatch. Die Gegend war mir vertraut, hier war meine Schule gewesen und auch das Schwimmbad. An einer Ampel musste ich warten. Ich schaute mich um und erkannte einiges wieder: die Bank, die Bäckerei, die Bushaltestelle. Und plötzlich war mir, als ob ich sie sehen würde: Frau Falkner, die Mutter meines besten Schulfreundes. Stand sie nicht dort an der Haltestelle, wie damals? Ich war zu weit weg, um sie eindeutig zu erkennen. Ich blieb stehen, obwohl die Ampel schon wieder auf Grün schaltete. Es war nicht die Entfernung, die mich so unsicher machte. Die Sache war ... sie konnte es gar nicht sein, weil ich doch genau wusste, dass sie schon gestorben war. Die Todesanzeige in der Zeitung: Frau Waltraud Falkner. Witwe. In Trauer: Jürgen Falkner, Sohn, darunter ein paar andere Namen. Das war im Sommer vor drei oder vier Jahren gewesen. Ich erinnere mich daran, dass ich ihn anrufen wollte, um zu kondolieren. Ich wählte die alte Nummer und legte dann feige wieder auf. Es war schon zu lange her, dachte ich, unsere Jugendfreundschaft. Gleich nach dem Abitur hatten wir uns aus den Augen verloren. Ich hörte noch etwas von einer langen Reise, von einem abgebrochenen Studium und dann nichts mehr. Auch die Schulkameraden wussten nie etwas. Sie konnte es nicht sein. Ein Auto hupte hinter mir, ich stieg wieder aufs Rad und fuhr langsam auf die Haltestelle zu. Die Frau schaute in meine Richtung, die eine Hand über den Augen. Genauso wie Frau Falkner damals, montags nach der Schule. Sie wartete immer auf uns und dann hopp, hopp, Hände waschen und zu Tisch. Es sah so aus, als ob sie wieder da stehen würde. Aber nein, dachte ich, das ist einfach unmöglich. Die Frau wartete nur auf den Bus, den ich schon hinter mir hörte. Sie war damals Mitte vierzig, überlegte ich weiter, dann wäre sie jetzt Mitte sechzig vergiss es, es hat keinen Zweck, sagte ich mir, pass lieber auf den Verkehr auf. Plötzlich hörte ich jemanden rufen: Hallo, bleib doch stehen! Ich sah hinüber, sie winkte mir zu, aber in dem Moment kam der Bus, ich musste die Spur wechseln. Der Bus schob sich zwischen uns, hinter mir hupte wieder ein Auto. Ich blieb einfach stehen, ich wollte jetzt Gewissheit, auch wenn es noch so absurd war. Ich wartete, bis der Bus wieder losfuhr. Die Haltestelle wird leer sein, dachte ich, alle eingestiegen, weg Da stand sie und lächelte. „Natürlich bist du es", sagte sie, „ich habe mich nicht getäuscht!" Sie gab mir die Hand. „Oder muss ich jetzt Sie sagen?" „Nein", stotterte ich, „natürlich nicht." „Na, du hättest mich nicht mehr erkannt." „Nein", sagte ich, „doch, ich war nicht..." „Macht auch nichts", lächelte sie, „ich bin alt geworden, aber du...", sie betrachtete mich von oben bis unten, „... du bist auch kein kleiner Bub mehr!" Natürlich war sie älter geworden, aber immer noch hatte sie dieses fröhliche Gesicht mit den lebhaften Augen, Frau Falkner eben. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Wir haben oft von dir gesprochen", sagte sie, „erzähl doch mal, was hast du all die Jahre gemacht?" 75 Die Blaumachkrin Frau Falkner Ich erzählte, von meinem Studium, von meinem Job im Ausland, zuerst Frankreich und jetzt Spanien. „Schön", sagte sie, „das gefällt mir, das ist doch immer dein Traum gewesen. Ich erinnere mich noch, du wolltest immer am Meer leben..." Mein Gott, was für ein Gedächtnis sie hatte. „Aber jetzt erzählen Sie mal, wie geht es Ihnen denn?", fragte ich nun zurück. „Danke", sagte sie, „gut. Es hat sich nicht viel geändert. Ich bin immer noch in der Wohnung oben, zweimal in der Woche arbeite ich drüben in der Bäckerei. Alles in bester Ordung." „Und Jürgen?", fragte ich gespannt. „Ach", sagte sie, „dem geht es ganz gut. Der ist erst eine Zeit lang herumvagabundiert, da habe ich mir schon Sorgen gemacht. Aber dann hat er wieder zu seiner Musik gefunden, nicht mehr als Gitarrist, sondern als Tontechniker. In München drüben, da wohnt er jetzt auch. Das macht er gut. Manchmal holen sie ihn sogar für große Produktionen, Filme und so." „Toll!" sagte ich, „Und? Lässt er sich manchmal blicken?" „Klar", lachte sie, „meistens am Montag. Da kicken seine alten Fußballfreunde immer noch und er muss natürlich mitmachen. Und dann kommt er zu mir, dreckig wie vor zwanzig Jahren." „Das klingt gut", sagte ich, „grüßen Sie ihn bitte von mir." „Mach ich gerne." Sie zögerte. „Aber warum rufst du ihn nicht selber an? Er würde sich bestimmt freuen!" Sie sah mich an. „Und warum kommt ihr nicht nächsten Montag beide zum Mittagessen?" „Gerne! Ich bin noch bis Donnerstag hier." „Gut, dann frage ich Jürgen, ob er auch Zeit hat. Am besten, du rufst mich am Sonntag nochmal an. Die Nummer ist noch die alte." „Und es gibt Hähnchen mit Pommes frites, wie immer?", fragte ich grinsend. „Wenn es recht ist." „Sonst komme ich nicht!" Sie schüttelte den Kopf. „Immer noch so frech. Mach, dass du wegkommst!" Für einen Augenblick nahm sie meinen Kopf zwischen ihre Hände. „Mensch, du glaubst gar nicht, wie ich mich freue!" „Ich mich auch", flüsterte ich und umarmte sie einen Augenblick. „Also, dann bis Sonntag", rief ich und schwang mich aufs Rad. Musste ich an meinem Verstand zweifeln? Sollte ich mich wundern? Oder durfte ich mich einfach freuen? Sie war für mich tot gewesen. Ich hatte die Todesanzeige gelesen. Wie konnte ich mich so getäuscht haben? Waltraud Falkner. Sohn Jürgen. Hieß sie nicht Waltraud? Ich war nicht mehr ganz sicher. Für mich war sie immer nur Frau Falkner gewesen. Aber den Namen gibt es hier oft. Zu Hause fragte ich vorsichtig meine Mutter, sie sah mich nur verwundert an. Sie wusste nichts von einer Todesanzeige. Seltsam, dachte ich und setzte mich in den Garten. Da war etwas so weit weg, schien längst verloren und plötzlich sollte es wieder da sein: die gute Stube, der Geruch nach Hähnchen, die karierte Tischdecke, die alten Bilder an der ' Wand. Montags hatten wir nachmittags Unterricht und nur eine Stunde Mittagspause, für mich zu wenig, um nach Hause zu fahren. Da hatte Frau Falkner meine Mutter angerufen, ich könnte doch montags immer bei ihnen essen, sie wohnten nur 76 77 Die Blaumacherin fünf Minuten von der Schule entfernt. Ein Fest für uns Jungs. Ungeduldig erwarteten wir den Gong, rannten dann übermütig zusammen zu Jürgen nach Hause. Immer war die Zeit knapp. Wir wollten nicht nur essen, wir brauchten auch noch eine Viertelstunde für ein Spielchen im Hof. Elfmeterschießen an die Hauswand. Die wichtigste Sache der Welt! Plötzlich sollte das alles wieder da sein, die Zeit stehen geblieben, das verlorene Reich wieder da. Wie war ich gespannt, richtig aufgeregt, das ganze Wochenende lang. Am Sonntagvormittag rief ich an, ließ das Telefon lange klingeln, aber niemand meldete sich, auch kein Anrufbeantworter. Am Nachmittag probierte ich es noch einmal, nichts. Ich versuchte es noch oft, am Abend und am Montagvormittag, ein paarmal täglich bis zu meiner Abfahrt, aber nichts. Es läutete und läutete und in jedem Läuten spürte ich - unaufhaltsam -die Zeit vergehen. Die Blaumacherin Die Blaumacherin Die Glocke läutete zum zweiten Mal über den Schulhof, lange Gesichter, die Pause war vorbei. Hanna trank ihren Kaffee aus. Sie sah die Karawanen von Schülern, die wieder auf das Schulhaus zuströmten. Sie dachte an die Doppelstunde Mathe jetzt, zögerte, blickte sich um und plötzlich war die Entscheidung gefallen. „Ohne mich", beschloss sie, „macht, was ihr wollt, aber ohne mich." Sie begann zu laufen, gegen den Strom, rüber auf den Parkplatz. Es konnte nichts passieren. Wenn jetzt ein Lehrer kam und etwas sagte, dann hatte Hanna eben Kopfweh und musste dringend nach Hause. Sie konnte Kopfweh haben, wann sie wollte. Mit achtzehn war das kein Problem mehr. Morgen würde sie ins Sekretariat gehen, ein Formular ausfüllen und die Sache wäre erledigt. Hanna stieg auf ihr Fahrrad. Sie überlegte kurz, ob sie Tina Bescheid sagen sollte. Aber Tina würde nicht mitkommen. Sie war zu brav für solche Sachen. Tina machte nie blau. Sie hätte da ein schlechtes Gewissen, sagte Tina immer und außerdem wollte sie den Unterricht nicht verpassen. Schließlich begannen in ein paar Wochen die Abiturprüfungen. So weit wollte Hanna gar nicht denken. Da war noch genug Zeit. Trotzdem war Tina ihre beste Freundin. Ohne sie hätte Hanna sicher noch mehr Probleme in der Schule gehabt. Mit Mathe hatte Hanna die größten Schwierigkeiten. Kurvendiskussion, Wahrscheinlichkeitsrechnung, was sollte der ganze Quatsch? Französisch, Kunst, Geschichte, das machte alles einigermaßen Spaß, aber Mathe konnte sie einfach nicht leiden. Und dann auch noch bei Frau Lutz. Jede Stunde holte die Lutz jemanden an die Tafel, ließ kompli- 78 79 Die Blaumacherin T Die Blaumacherin zierte Aufgaben rechnen und gab dann knallharte Noten. Hanna war zweimal dran gewesen, jedesmal eine Katastrophe. Heute konnte sie wieder an der Reihe sein. Nein, dachte Hanna, während sie losfuhr, das muss wirklich nicht sein. Aber wohin jetzt? Nach Hause konnte sie natürlich nicht. Ihre Mutter kannte ihren Stundenplan. Hanna wollte auch gar nicht nach Hause. Das war doch total langweilig. Nein, lieber in die Stadt, in ein Café, ganz gemütlich. Also, nichts wie weg hier. Kurze Zeit später betrat Hanna das Café „Sauer". Das „Sauer" war ein Geheimtipp für Blaumacher. Es lag genau richtig: nicht weit von der Schule, aber gut versteckt in einer kleinen Altstadtgasse. Hanna war schon zwei- oder dreimal dort gewesen, aber nachmittags, ohne die Schule zu schwänzen. Das „Sauer" war eines dieser Cafes, in die man auch gut alleine gehen konnte. Man saß auf bequemen altmodischen Sofas, es gab Zeitungen und man konnte wunderbar Leute beobachten. Und wenn alle Tische besetzt waren, setzte man sich einfach irgendwo dazu. Das Publikum war gemischt, eher jung, viele Schüler und Studenten, aber Hanna hatte auch schon feine Damen beim Kaffeekränzchen gesehen oder Rentner, die Schach spielten. Der ältere Herr, der bediente, war Herr Sauer selbst. Was für eine Persönlichkeit! In seinem Kellnerfrack wirkte er wie eine Figur aus einer anderen Zeit. Immer lächelnd, immer freundlich, alte Schule. Seine Frau stand hinter der Theke, machte den Kaffee, schnitt den Kuchen und verkaufte Süßigkeiten. Aus den alten Boxen kam meistens Opernmusik, nicht gerade Hannas Geschmack, aber irgendwie passend zu diesem Ort. Heute war das Café nur halbvoll. Hanna kannte einige Leute vom Sehen, Schüler von anderen Gymnasien, aber sie wollte sich jetzt nicht unterhalten. Sie bestellte bei Herrn Sauer eine Kanne Tee, schnappte sich eine Zeitung von der Theke und setzte sich an einen freien Tisch. Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand: fünf vor elf. Sie musste grinsen. Die anderen saßen schon wieder fast eine halbe Stunde bei Frau Lutz in der Klasse. Wahrscheinlichkeitsrechungen. „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ...?" „Keine Ahnung, Frau Lutz, ist mir auch völlig egal!" Hanna lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Ja, Blaumachen war schon eine feine Sache. Nicht nur, dass man zwei Stunden Mathe weniger hatte. Es war vor allem spannend. Man tat ja etwas Verbotenes und das machte einfach Spaß. Dazu kam natürlich auch ein bisschen Schadenfreude, wenn man sich die lieben Mitschüler vorstellte, die jetzt in der Klasse saßen. Sollen sie doch für ihr Abi pauken, sagte sich Hanna, ich sitze lieber hier und trinke in aller Ruhe einen Tee. Tina würde natürlich wissen, was los war und ärgerte sich jetzt vielleicht, dass Hanna ihr nicht Bescheid gesagt hatte. Vielleicht wäre sie ja doch mitgekommen. Na ja, zu spät. Auch Frau Lutz würde bestimmt merken, dass Hanna heute fehlte. Ausgerechnet heute! „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich Sie heute ausfragen werde?" „Verdammt groß, aber leider bin ich gar nicht da!" Diese Lutz! Sie war neu an der Schule, sie war erst zu Beginn dieses Schuljahres gekommen. Noch in Ausbildung, eine Referendarin. Eigentlich noch ganz jung, vielleicht Ende zwanzig. Nicht einmal unsympathisch. Aber irgendwie schon so streng, überhaupt nicht entspannt. Mathe, Mathe und nochmal Mathe. Nichts anderes. Ständig redete sie nur vom Abitur und 80 L 81