Verlieren Verlieren Samstagabend, 23 Uhr Ich gehe ins Bett und möchte noch lesen. Mein neues Buch. Ein Freund hat es mir geschenkt. Ich habe es schon angefangen, total spannend. Aber Wo ist es? Es liegt nicht auf dem Nachttisch. Ich stehe auf und suche. Auf dem Schreibtisch ist es auch nicht. Und auch nicht im Regal. So was! Na ja, egal, ich nehme ein anderes Buch, Erzählungen von Kafka, und gehe wieder ins Bett. Ich lese ein paar Seiten von ,Die Verwandlung', aber ich kann mich nicht konzentrieren. Ich mache das Licht aus. 23 Uhr 15 Ich kann nicht einschlafen. Wo ist das Buch? Vorgestern hatte ich es doch noch. Ich habe es hier gelesen, zu Hause, nicht in der U-Bahn, nicht im Park. Ganz sicher. Komisch. 23 Uhr 45 Ich kann immer noch nicht einschlafen. Wie heißt das Buch? Ich erinnere mich nicht mehr. Irgendwas mit,Geschichten', glaube ich, aber was für ,Geschichten'? Und der Autor? Auch seinen Namen habe ich vergessen. Ein Südamerikaner, Kurzgeschichten, und auf dem Titelbild ein grünes Krokodil, das weiß ich noch. Der Rest ist weg. Es ist wie verhext! Sonntagmorgen, 2 Uhr 28 Ich wache plötzlich auf. Da ist etwas in meinem Bett, direkt vor meiner Nase. Ein dunkles Ding. Ich taste vorsichtig mit der Hand, Fest, glatt, kantig. Ach so, nur ein Buch. Ich drehe mich um und mache die Augen wieder zu. 3 Die Blaumacherin r Verlieren 2 Uhr 31 Augenblick mal! Ein Buch? Das Buch ist wieder da! Ich setze mich auf und mache das Licht an und ... Nein, kein grünes Krokodil, nur wieder dieser Kafka. Ich nehme das Buch und knalle es auf den Nachttisch. 7 Uhr'12 Ich wache früh auf. Kurz nach sieben. Zu früh für Sonntagmorgen. Aber ich weiß plötzlich, wo das Buch ist. Gestern habe ich Tennis gespielt und für die Busfahrt habe ich noch schnell ein Buch in die Sporttasche gesteckt. Der Bus war aber sehr voll, ich musste stehen und konnte nicht lesen. Das Buch muss noch in der Tasche sein. 7 Uhr 20 Ich stehe auf, gehe zu der Tasche und leere sie aus. Ganz unten ist tatsächlich ein Buch. Ein grünes Krokodil. Na also, der Tag fängt ja gut an. Ich will das Buch aufs Bett werfen. Das Buch fliegt durchs Zimmer, es fliegt gegen die Wand, fällt auf das Kopfkissen und rutscht auf den Boden. Ich gehe kurz ins Bad und mache den Boiler an. So kann ich nachher gleich duschen. In der Küche trinke ich ein Glas Milch. Dann gehe ich ins Bett zurück. Gleich ein paar Seiten lesen? Später, beschließe ich, jetzt noch ein bisschen weiterschlafen, vielleicht träume ich noch etwas Schönes. 9 Uhr 50 Die Sonne scheint durchs Fenster. Wunderbar! Ein neuer Tag, ein Tag voll großartiger Möglichkeiten! Also, zuerst eine schöne Geschichte. Ich nehme das Buch vom Nachttisch und schlage es auf. Wie? Was? Wieso .Verwandlung'? Verdammt! Schon wieder dieser Kafka! Aber wo ist jetzt mein Mensch, wie heißt er denn nun? Und wo ist er? Ach ja! Ich beuge mich vor und suche auf dem Boden. Aber da ist er nicht mehr. Ich suche im Bett und unter dem Bett. Kein Krokodil. Und den Namen habe ich mir auch nicht gemerkt. 9 Uhr 55 Habe ich vorhin nur geträumt? Das mit der Tasche und mit dem Buch? Die Tasche liegt mitten im Zimmer, Tennisschuhe und Handtuch auch. Gut, das heißt noch nicht viel. Aber der Boiler im Bad ist an. Also bin ich vorhin wirklich aufgestanden. Das Buch muss irgendwo sein. 10 Uhr 12 Jetzt beginne ich wie ein Verrückter zu suchen. Ich krame immer wieder in der Tasche, suche dann im Bett und unter dem Bett. Zwischendurch glotze ich auf den Nachttisch und auf den Boden vor dem Bett. Schließlich krame ich wieder in der Tasche. Zum Glück sieht mich niemand. 10 Uhr 30 Ich suche immer noch. Ich suche jetzt auch im Bad und in der Küche. Vielleicht habe ich das Buch ja im Halbschlaf irgendwohin gelegt. Ich schaue auf dem Boiler nach, zwischen den Handtüchern auf dem Fensterbrett und in der Kiste auf dem Kühlschrank. Nichts. 10 Uhr 42 Immer noch glaube ich fest: Gleich finde ich es. Gleich sage ich; „Da ist es ja! Mein Gott, natürlich!" und der Spuk ist zu Ende. 4 5 Dif. Blaumacherin r Verlieren Aber ich finde es nicht. 10 Uhr 54 Ein Fensterbrett, eine Kiste auf dem Kühlschrank, das sind irgendwie akzeptable Orte für ein Buch. Ein bisschen komisch, aber das kann passieren, früh am Morgen, wenn man verschlafen durch die Wohnung tappt. Man wundert sich ein bisschen und freut sich dann, dass das Buch wieder da ist. 10 Uhr 58 Aber was, wenn das Buch auch dort nicht ist? 11 Uhr 02 Es gibt noch die anderen Orte. Dort, wo es eigentlich nicht sein kann. 11 Uhr 10 Ich weiß, das kann man eigentlich niemandem erzählen. Aber ich suche jetzt auch dort. An den unmöglichen Orten. Ich suche jetzt auch im Kleiderschrank und in meinen Jackentaschen, ich schaue in die Sockenschublade und hinter den Schreibtisch und ... ja wirklich, auch vor die Wohnungstür. 11 Uhr 11 Warum? Keine Ahnung. 11 Uhr 13 Ich beginne mich zu fragen: Was, wenn das verdammte Buch nun wirklich im Kleiderschrank ist? Oder in der Schublade? Soll ich mich dann immer noch freuen, oder muss ich schon erschrecken? Über das Buch und über mich selbst. Wo endet die Freude und wo fängt der Horror an? 11 Uhr 20 Ich glaube, es gibt keine gute Lösung mehr. 11 Uhr 32 Ach was, manchmal genügt es bei einem Problem ja, einfach drüber zu schlafen. Am nächsten Tag wacht man auf und sieht wieder völlig klar. Aber es ist jetzt Vormittag, ich bin hellwach und fast der ganze Sonntag liegt noch vor mir. Wochen später Ich habe das Buch nie mehr gefunden. Ich habe es auch nicht nochmal gekauft. Ich erinnere mich ja nicht mehr an den Titel, und an den Namen des Autors auch nicht. Ich weiß, ich kann den Freund anrufen, der es mir geschenkt hat. Ich kann ihn fragen. Aber ich will nicht mehr. Das Buch ist weg. Basta. Ich muss oft an die Sache denken, sie irritiert mich. Ich träume sogar davon. Aber ich glaube trotzdem, es ist besser so. Besser, als eines Tages zu entdecken, dass man jemand ist, der an einem Sonntagmorgen ein wiedergefundenes Buch im Kühlschrank liegen lässt. 6 7 Die Blaumacherin Entscheidung am Strand Entscheidung am Strand War es mein Fehler? Wahrscheinlich. Ich wohne schon ein paar Jahre hier, ich muss das wissen. Man denkt, es ist so einfach: junge Leute, ein freies Wochenende, ein Ausflug, na klar ... und dann ... na ja, vielleicht war es wirklich mein Fehler. Der Plan ist gut: Nüria und Quirn wollen am Samstag an die Costa Brava fahren. Und dann weiter in ihr Dorf bei Olot. Ich fahre mit. Wir essen zusammen, gehen an den Strand und abends fahre ich mit dem Zug zurück nach Barcelona. Eigentlich ganz einfach. Dann habe ich diese Idee. Können wir vielleicht meine Bekannten mitnehmen? Karin und Harald? Die sind neu hier, haben kein Auto und nicht viel Geld. Und wir haben noch Platz für zwei. Warum nicht, sagt Quirn, bring sie mit. Um zwölf Uhr, Ecke Diagonal mit Gräcia. Im Grunde haben hier die Probleme schon begonnen. Ich rufe Karin und Harald an. Sie freuen sich, sie haben Zeit, sie wollen mitkommen, zusammen picknicken, zusammen am Strand wandern. Aber sie wundern sich: Zwölf Uhr finden sie sehr spät für einen Tagesausflug. Zwölf Uhr, warum nicht neun, warum nicht zehn? Ich zucke mit den Schultern. Am Samstag wundern sie sich weiter. Wir warten oben an der Diagonal. Zwölf Uhr ist spät, aber Nüria und Quirn sind um zwanzig nach zwölf immer noch nicht da. Harald schaut ständig auf die Uhr und schüttelt den Kopf. Lohnt sich das überhaupt noch? Nüria und Quirn kommen um halb eins, man begrüßt sich freundlich. Die Sonne scheint. Alles wird gut, denke ich noch. Aber im Auto wundern sich Harald und Karin schon wieder. Quirn will bis nach Cadaques fahren. Das sind fast zweihundert Kilometer. Harald rechnet. Das sind über zwei Stunden Fahrt. Das heißt, wir sind frühestens um drei Uhr dort. Um sechs Uhr wird es schon wieder dunkel. Warum Cadaques? fragt er mich leise und auf Deutsch. Cadaques ist sehr schön, sage ich kurz. Aber es ist zu weit, flüstert Harald, wir wollen doch wandern und picknicken. Am Himmel gibt es plötzlich Wolken. Sag mal, frage ich Quirn, ist Cadaques nicht ein bisschen weit? Es wird drei Uhr, bis wir dort sind. Ja und? meint Quirn, genau richtig zum Mittagessen. Nüria kennt dort ein gutes Fischlokal. Ich sehe Harald an. Ich weiß: Harald ist Vegetarier. Von der harten Sorte. Er hasst Fisch. Immer mehr Wolken. Kurz vor Cadaques habe ich immer noch Hoffnung. Meine Vision: ein freundliches Restaurant direkt am Wasser. Mit Terrasse. Fisch für die einen, Salat und Brote für die anderen. Für alle Wein. Und vor allem Strand. Alles ist möglich: sich sonnen, Beachball spielen, spazieren gehen. Für jeden etwas. Ich sehe aus dem Fenster. Eine wunderbare Idee, nur ... der Himmel ist inzwischen bedeckt. Die Sonne ist weg. Um Viertel nach drei kommen wir an. Wir stehen am Hafen von Cadaques. Rechts die Spanier, links die Deutschen, ich in 8 9 Die Blaumacherin Entscheidung am Strand der Mitte. Leichter Regen. Tropfen auf dem Meer, der Strand wird nass. Für die Spanier ist alles ganz einfach. Es ist nach drei Uhr und es regnet. Und Nuria kennt ein gutes Lokal. Klare Sache. Núria zeigt uns das Restaurant. Es sieht elegant aus, eher teuer. Keine Terrasse, keine Brote. Ich schaue rüber zu den Deutschen. Auch für die Deutschen ist die Sache klar. Ausflug. Endlich. Los geht's. Fürs Picknick an der Tankstelle einkaufen und dann losmarschieren, Richtung Leuchtturm. Es regnet? Kein Problem! Ich übersetze, ich suche immer noch eine Lösung für alle. Ich übersetze vorsichtig und nicht ganz korrekt. Für die Spanier sage ich Supermarkt statt Tankstelle und Spaziergang statt Wanderung. Für die Deutschen mache ich aus dem Menü ein paar kleine Tapas und setze den Preis ein bisschen nach unten. Es hat keinen Sinn. Zuerst schauen mich die Spanier fragend an und dann die Deutschen. Zwei Welten. Ein Spanier fährt nicht nach Cadaqués, um dann ein Käsebrot im Regen zu essen. Eigentlich logisch. Ein Deutscher fährt nicht zwei Stunden lang ins Grüne, um dann in einem fensterlosen Restaurant zu warten, bis es dunkel wird. Auch logisch. Wo bleibt eigentlich die Globalisierung?, frage ich mich. Man sieht mich immer noch fragend an. Ich schaue aufs Meer. Ich muss jetzt diplomatisch sein. Oder besser gesagt: pädagogisch. Ich war einmal Lehrer. Meine Idee: Gruppenarbeit. Gruppen nach Interesse. Mehr Spaß und Motivation durch Autonomie. Konfliktfrei und dynamisch: Je länger die einen in Ruhe essen, desto länger können die anderen im Regen herumlaufen. 10 Ich schlage also vor: Wer wandern will, soll wandern und wer ins Lokal gehen will, soll ins Lokal gehen. In zwei Stunden treffen wir uns hier wieder und fahren noch zusammen zum Leuchtturm. Ich sehe wieder nach links und rechts. Niemand protestiert. Um halb sechs sind alle da und jeder scheint ganz zufrieden. Die Spanier hatten ein tolles Menü, die Deutschen einen abenteuerlichen Weg am Meer entlang. Jedem das Seine. Oben beim Leuchtturm hat man einen herrlichen Blick über die Küste. Der Regen hat aufgehört. Die Bar ist geöffnet, wir bestellen Kaffee. Endlich etwas, was alle mögen. Danach fahren wir wieder los, Quirn und Nüria bringen uns zum Bahnhof von Girona. Wir haben Glück, schon zehn Minuten später fährt ein Zug nach Barcelona. Also ist alles noch einmal gut gegangen. Aber irgendwie ganz schön anstrengend. Ein freier Tag, ein Ausflug, junge Leute, irgendwie denkt man, das könnte leichter sein. Und lustiger. Ach ja, wo ich eigentlich am Nachmittag gewesen bin? Na ja, ich kenne Cadaques ja schon, und außerdem hatte ich keine Regenjacke dabei. Ii Die Blaumachf.rin Eine Serviette, zwei Gläser Hugo erreicht den Bahnsteig, aber der Zug fährt schon ab. Er macht noch ein paar Schritte, der Zug wird immer schneller. Hugo bleibt stehen und sieht ihm nach. Er musste im Cafe noch zahlen, das hat lange gedauert, der Kellner ist nicht gekommen. Und jetzt ist sie weg. Er schaut, er sieht die winkenden Hände in den Fenstern, dann ist der Zug verschwunden. Er wartet noch einen Moment, aber es hat keinen Sinn. Langsam geht er zurück ins Cafe. Einen Kaffee, denkt er. Auf dem Tisch stehen noch die zwei Gläser, die leere Weinkaraffe, der volle Aschenbecher. Eine Serviette auf einem Teller. An der Serviette das leuchtende Rot des Lippenstifts. „Erst kurz vor drei, wir haben Zeit", hört sich Hugo noch einmal sagen, „trinken wir auf ein Wiedersehen. Bald, hoffentlich, sehr bald!" „Gut", hört er sie antworten, „aber ich verstehe wirklich nicht, warum du jetzt nicht mitkommst. Du hast es mir doch versprochen!" Hugo nickt. „Ich weiß", flüstert er, „aber ich glaube, ich muss hier am Meer bleiben. Deine große Stadt, das ist nichts für mich. Was soll ich da machen?" „Und hier?", fragt sie zurück. „Was machst du hier?" „Hier habe ich wenigstens meine Fische. In der Stadt habe ich doch nichts zu tun." Sie lächelt: „Du kannst mir im Geschäft helfen. Mit den Kunden sprechen, Rechnungen schreiben, telefonieren." „Aber das habe ich noch nie gemacht. Das ist nicht meine Sache." 12 Die Blaumacherin Eine Serviette, zwei Glaser „Aber die Fische musst du doch auch verkaufen!" „Ja, schon, aber da brauche ich kein Telefon und keine Kasse. Garibaldi holt sie für seine Bar und basta." Laura schüttelt den Kopf und nimmt einen Schluck Weißwein. „Du kannst auch zu Hause bleiben, bei Helene, Morgens bringst du sie in die Schule, mittags kochst du etwas für sie und nachmittags geht ihr in den Park. Oder du liest ihr eine Geschichte vor. Und abends komme ich nach Hause und wir machen noch etwas zusammen. Am Wochenende fahren wir dann raus und machen ein Picknick im Grünen." „Ein Picknick im Grünen?" „Ja", lächelt Laura, „warum nicht?" Ja, denkt Hugo, warum fahre ich nicht mit? Warum soll ich hier bleiben? Das Fischen geht schlecht, die großen Schiffe machen die Preise kaputt und im Dorf gibt es viele Touristen und wenig Freunde. „Also", sagt sie noch einmal, „warum kommst du nicht mit?" Ja, warum ist er nicht einfach mitgefahren? Sie würden jetzt im Zug sitzen, sie würde ihre Hand auf sein Knie legen und lächeln und sagen: „Wie schön, dass du da bist, alles wird gut." „Darfes noch etwas sein?", fragt plötzlich eine Stimme. Hugo sieht auf. Der Kellner steht am Tisch. „Oh ja, bitte", antwortet Hugo, „einen Kaffee." Der Kellner sieht die beiden Gläser. »Einen oder zwei?", fragt er. „Einer ist genug, glaube ich." „Wie Sie wünschen." Hugo blickt über den Tisch. Die Serviette mit dem roten Lippenstift. Ist sie vielleicht noch da? denkt er plötzlich. War sie vielleicht vorhin gar nicht im Zug? Ist sie vielleicht gar nicht mitgefahren? Plötzlich hält ihm jemand die Augen zu. „Wer ist das?" „Rate mal!" Ein zarter Kuss auf seiner Wange, eine sanfte Stimme flüstert in sein Ohr: „Ich hatte einfach keine Lust, alleine wegzufahren." „Und Helene?" „Helene soll herkommen. Mit dem Zug. Das gefällt ihr bestimmt. Und heute Abend gehen wir alle drei zu Garibaldi essen." „Und das Geschäft?" „Ist doch egal", antwortet sie, „der Laden bleibt ein paar Tage geschlossen." „Wunderbar", sagt er. Er zögert, ob er es ihr sagen soll. „Aber was ist denn?" Sie sieht ihm in die Augen. „Freust du dich nicht?" „Doch", sagt Hugo und lächelt. „Es ist nur ..." „Na, was?" „Vorhin, als der Zug abgefahren ist, habe ich mir vorgestellt, ich würde noch schnell einsteigen und mitfahren." „Wirklich", lacht sie, „zum Glück hast du das nicht gemacht. Stell dir vor..." „Ich habe dich im Zug lange gesucht und dann endlich gefunden, du hast ein Buch gelesen ..." „Und dann?", fragt sie, amüsiert von dieser Fantasie. „Du siehst mich, aber dein Blick ist fremd. Du hier? Was willst du hier? Du schaust mich an, mit Stadtaugen, Geschäftsaugen. Plötzlich weiß ich, dass es ein Fehler war, eine Dummheit. Ich 14 15 Eine Serviette, zwei Glaser möchte aussteigen, aber der Zug fährt schon. Zu spät. Ich muss mit..." Sie legt den Arm um seine Schulter. „Hugo, nie, nie werde ich dich mit fremden Augen anschauen", hört er sie flüstern, „nie, das weißt du, nie!" Jemand kommt an den Tisch, „Ihr Kaffee", sagt der Kellner und stellt die Tasse vor ihn hin. „Danke", sagt Hugo leise. Der Kellner räumt den Tisch ab. Er nimmt die Serviette und stopft sie in ein Teeglas. Hugo sieht, wie sich die Serviette mit dem kalten Tee vollsaugt, das leuchtende Rot wird schmutziges Grau. „Ist der Schnellzug schon abgefahren?" fragt Hugo. „Ja", sagt der Kellner, „schon lange." Abends kommt Hugo in die Dorfbar. „Wo kommst du denn her?", fragt Garibaldi. „Vom Bahnhof, antwortet Hugo. „Was hast du denn da gemacht?" Hugo zögert einen Augenblick. „Du weißt doch", sagt er und lächelt vor sich hin, „das Cafe am Bahnhof ist das einzige, das sonntags den ganzen Tag aufhat." 17 Die Blaumacherin Anekdote aus einem bayrischen Bifrgarten Anekdote aus einem bayrischen Biergarten Sie erwarten jetzt sicher Folklore. Männer in Lederhosen, rustikale Lieder, Gemütlichkeit, Schweinshaxn und natürlich jede Menge Bier. Ich muss Sie enttäuschen. So war es nicht. Überhaupt nicht. Wir haben immer gleich unsere Vorstellungen: Ein Wort, eine Geste, schon sind sie da, unsere Assoziationen, unsere Klischees. Aber ich gebe zu, auch ich habe etwas ganz anderes erwartet... Das heißt, eigentlich erwarte ich gar nichts. Ich bin einfach nur froh, dort zu sein. Ich sitze wieder einmal nach langer Zeit in meinem persönlichen Paradies. Eine halbe Stunde mit dem Fahrrad durch den Wald, dann der Kirchturm, die Wiese, das Dorf und plötzlich darf ich wieder dort sein, im Biergarten „Zur Traube". Einfache Holztische unter Kastanienbäumen, alles unverändert. Sogar die Kellnerinnen sind noch dieselben. Hier kann man auch gut alleine sein. Man braucht kein Buch und keine Zeitung. Ein Biergarten ist wie ein Schauspiel, es gibt so viel zu sehen. Ich bestelle also meine Halbe Bier, lehne mich glücklich zurück und schon beobachte ich eine interessante Szene. Auf den ersten Blick nichts Besonderes. Junge Leute, eine Frau, zwei Männer, alle um die fünfundzwanzig, vielleicht noch Studenten, vielleicht schon in der großen Welt der Geschäfte: Architekten, Werbetexter, Computerhelden. Warum ich das glaube? Keine Ahnung, aber wie gesagt, man hat so seine Vorstellungen. Das Grüppchen ist jedenfalls ein freundlicher Anblick, die Jungs in weiten weißen Hemden, die Frau in einem bezaubernden Sommerkleid. Aber nicht ihre Kleidung macht mich aufmerksam. Es ist ihre Unterhaltung, obwohl ich sie nicht verste- hen kann. Ich erkenne aber sofort: Das hier ist kein Plaudern, das ist eine brillante Konversation. Einer der Männer spricht. Völlig fasziniert hört die Frau zu, ihr Blick auf seinen Händen. Seine Hände, welch ein Spektakel! Für Momente liegen sie ruhig, ziehen dann Linien auf dem Tisch, imaginäre Bilder und Skizzen, und fliegen plötzlich in die Luft, in magischen Kreisen und fantastischen Figuren. Die Frau folgt seinen Gesten, sieht ihm dann wieder ins Gesicht, antwortet. Es ist wie ein Duell zwischen den beiden. Der dritte, ein riesiger Kerl, sitzt nur da, überflüssig, er wirkt unkonzentriert, das Thema scheint ihm zu kompliziert zu sein. Was muss man einer Frau erzählen, dass sie einen so ansieht? Ich gebe zu, ich werde so neugierig, dass ich mich sogar ein Stück vorbeuge, um etwas zu verstehen. Das Thema, wenigstens das Thema möchte ich wissen! Diese Figuren in der Luft, so leicht, so lässig, was zum Kuckuck bedeutet das alles? Ein Wort kann genügen. Ich verstehe jetzt einige, aber was soll das bedeuten?,Schwarz',,weißt du, sicher1, ,gelb' oder ,Geld'? Schwarzgeld?, denke ich einen Moment. Illegale Geschäfte? Hier in meinem Paradies? Kann doch nicht sein! Ich konzentriere mich. Er sagt jetzt ein paar Mal ,modisch', außerdem ,Bilder und ,dekorativ'. Also doch keine Mafia, beruhige ich mich. Dann verstehe ich ,ModelF und ,Fan und plötzlich habe ich eine Idee: Natürlich! Sie ist Foto-Modell und er Mode-Designer und der Dritte vielleicht ihr Manager ... oder vielleicht doch eher ihr Chauffeur? Die Blaumacherin Anekdote aus einem bayrischen Biergarten Ich brauche noch mehr Informationen. Um jeden Preis. Ich nehme meinen Stuhl und rücke ein bisschen näher: psychologisch', ,Effekte', .Konflikt', reflektieren'. Hoppla, das klingt ja nicht gerade nach Gala-Abend und Schickimicki. ,Single', ,du entscheiden', ,konsequent', ,mit sich selbst identifizieren. Klingt eher nach Lebenskrise. Auf jeden Fall geht es um eine wichtige Entscheidung. Ist das spannend! Was zum Teufel ist hier los? Ich will mehr, ich will jetzt alles wissen. wenn dir der blaue Lampenschirm in dem Baumarkt gefällt, dann nimm ihn doch einfach." Was soll ich sagen? Dass ich desillusioniert war? Enttäuscht? Oder einfach nur irgendwie erleichtert... Aber ein paar Augenblicke später ist alles aus. Das Lokal wird voller und voller, und plötzlich setzen sich zwei Paare an meinen Tisch. Ohne zu fragen. Eine akustische Invasion, ein Alptraum: ein lautes, lustiges Gespräch über ihren Sommerurlaub. Warum sitze ich hier und nicht dort? Ich sehe noch einmal hinüber, das Schauspiel geht weiter, der Zauberer und die Fee und daneben der schlafende Riese. Die magischen Worte werden mir also Rätsel und Geheimnis bleiben, für immer. Kurze Zeit später habe ich mein Bier ausgetrunken, das Paradies ist verloren, ich kann gehen. Auch mein Trio ist schon weg, das habe ich gar nicht bemerkt. Ich zahle also und hole mein Fahrrad. Aber als ich losfahren will, höre ich plötzlich seine Stimme. Ich drehe mich um, da sind sie wieder, die drei. Der Riese sitzt schon in einem gelben Sportwagen, die beiden anderen umarmen sich noch einmal zum Abschied. „Und", sagt er, „denk an meine Worte, Susi, einmal muss man sich entscheiden. Dieser und kein anderer. Sicher, wenn du noch lange weitersuchst, findest du vielleicht irgendwo einen besseren, einen optimalen. Aber einmal muss man eine Entscheidung treffen und dafür die Verantwortung tragen. Und