VlKI ifrf.n Verlieren Samstagabend, 23 Uhr Ith gehe ins Bett und möchte noch lesen. Mein neues Buch. Ein Freund hat es mir geschenkt. Ich habe es schon angefangen, total spannend. Aber Wo ist es? Es liegt nicht auf dem Nachttisch. Ich stehe auf und suche. Auf dem Schreibtisch ist es auch nicht. Und auch nicht im Regal. So was! Na ja, egal, ich nehme ein anderes Buch, Erzählungen von Kafka, und gehe wieder ins Bett. Ich lese ein paar Seiten von ,Die Verwandlung', aber ich kann mich nicht konzentrieren. Ich mache das Licht aus. 23 Uhr 15 Ich kann nicht einschlafen. Wo ist das Buch? Vorgestern hatte ich es doch noch. Ich habe es hier gelesen, zu Hause, nicht in der U-Bahn, nicht im Park. Ganz sicher. Komisch. 23 Uhr 45 Ich kann immer noch nicht einschlafen. Wie heißt das Buch? Ich erinnere mich nicht mehr. Irgendwas mit .Geschichten', glaube ich, aber was für .Geschichten'? Und der Autor? Auch seinen Namen habe ich vergessen. Ein Südamerikaner, Kurzgeschichten, und auf dem Titelbild ein grünes Krokodil, das weiß ich noch. Der Rest ist weg. Es ist wie verhext! Sonntagmorgen, 2 Uhr 28 Ich wache plötzlich auf. Da ist etwas in meinem Bett, direkt vor meiner Nase. Hin dunkles Ding. Ich taste vorsichtig mit der Hand. Fest, glatt, kantig. Ach so, nur ein Buch. Ich drehe mich um und mache die Augen wieder zu. 3 Dil BlAUMACHERIN Verlieren 2 Uhr 31 Augenblick mal! Ein Buch? Das Buch ist wieder da! Ich setze mich auf und mache das Licht an und ... Nein, kein grünes Krokodil, nur wieder dieser Kafka. Ich nehme das Buch und knalle es auf den Nachttisch. 7 Uhr'12 Ich wache früh auf. Kurz nach sieben. Zu früh für Sonntagmorgen. Aber ich weiß plötzlich, wo das Buch ist. Gestern habe ich Tennis gespielt und für die Busfahrt habe ich noch schnell ein Buch in die Sporttasche gesteckt. Der Bus war aber sehr voll, ich musste stehen und konnte nicht lesen. Das Buch muss noch in der Tasche sein. 7 Uhr 20 Ich stehe auf, gehe zu der Tasche und leere sie aus. Ganz unten ist tatsächlich ein Buch. Ein grünes Krokodil. Na also, der Tag fangt ja gut an. Ich will das Buch aufs Bett werfen. Das Buch (liegt durchs Zimmer, es fliegt gegen die Wand, fällt auf das Kopfkissen und rutscht auf den Boden. Ich gehe kurz ins Bad und mache den Boiler an. So kann ich nachher gleich duschen. In der Küche trinke ich ein Glas Milch. Dann gehe ich ins Bett zurück. Gleich ein paar Seiten lesen? Später, beschließe ich, jetzt noch ein bisschen weiterschlafen, vielleicht träume ich noch etwas Schönes. 9 Uhr 50 Die Sonne scheint durchs Fenster. Wunderbar! Ein neuer Tag, ein Tag voll großartiger Möglichkeiten! Also, zuerst eine schöne Geschichte. Ich nehme das Buch vom Nachttisch und schlage es auf. Wie? Was? Wieso ,Verwandlung'? Verdammt! Schon wieder dieser Kafka! Aber wo ist jetzt mein Mensch, wie heißt er denn nun? Und wo ist er? Ach ja! Ich beuge mich vor und suche auf dem Boden. Aber da ist er nicht mehr. Ich suche im Bett und unter dem Bett. Kein Krokodil. Und den Namen habe ich mir auch nicht gemerkt. 9 Uhr 55 Habe ich vorhin nur geträumt? Das mit der Tasche und mit dem Buch? Die Tasche liegt mitten im Zimmer, Tennisschuhe und Handtuch auch. Gut, das heißt noch nicht viel. Aber der Boiler im Bad ist an. Also bin ich vorhin wirklich aufgestanden. Das Buch muss irgendwo sein. 10 Uhr 12 letzt beginne ich wie ein Verrückter zu suchen. Ich krame immer wieder in der lasche, suche dann im Bett und unter dem Bett. Zwischendurch glotze ich auf den Nachttisch und auf den Boden vor dem Bett. Schließlich krame ich wieder in der Tasche. Zum Glück sieht mich niemand. 10 Uhr 30 Ich suche immer noch. Ich suche letzt auch im Bad und in der Küche. Vielleicht habe ich das Buch ja im Halbschlaf irgendwohin gelegt. Ich schaue auf dem Boiler nach, zwischen den Handtüchern auf dem Fensterbrett und in der Kiste auf dem Kühlschrank. Nichts. 10 Uhr 42 Immer noch glaube ich fest: Gleich finde ich es. Gleich sage ich: „Da ist es ja! Mein Gott, natürlich!", und der Spuk ist zu Ende. 4 5 Die Blaumacherjn Verlieren Aber ich finde es nicht. 10 Uhr 54 Ein Fensterbrett, eine Kiste auf dem Kühlschrank, das sind irgendwie akzeptable Orte für ein Buch. Ein bisschen komisch, aber das kann passieren, früh am Morgen, wenn man verschlafen durch die Wohnung tappt. Man wundert sich ein bisschen und freut sich dann, dass das Buch wieder da ist. 10 Uhr 58 Aber was, wenn das Buch auch dort nicht ist? 11 Uhr 02 Es gibt noch die anderen Orte. Dort, wo es eigentlich nicht sein kann. 1) Uhr 10 Ich weiß, das kann man eigentlich niemandem erzählen. Aber ich suche jetzt auch dort. An den unmöglichen Orten. Ich suche jetzt auch im Kleiderschrank und in meinen Jackentaschen, ich schaue in die Sockenschublade und hinter den Schreibtisch und ... ja wirklich, auch vor die Wohnungstür. 11 Uhr 20 Ich glaube, es gibt keine gute Lösung mehr. 11 Uhr 32 Ach was, manchmal genügt es bei einem Problem ja, einfach drüber zu schlafen. Am nächsten Tag wacht man auf und sieht wieder völlig klar. Aber es ist jetzt Vormittag, ich bin hellwach und fast der ganze Sonntag liegt noch vor mir. Wochen später Ich habe das Buch nie mehr gefunden. Ich habe es auch nicht nochmal gekauft. Ich erinnere mich ja nicht mehr an den Titel, und an den Namen des Autors auch nicht. Ich weiß, ich kann den Freund anrufen, der es mir geschenkt hat. Ich kann ihn fragen. Aber ich will nicht mehr. Das Buch ist weg. Basta. Ich muss oft an die Sache denken, sie irritiert mich. Ich träume sogar davon. Aber ich glaube trotzdem, es ist besser so. Besser, als eines Tages zu entdecken, dass man jemand ist, der an einem Sonntagmorgen ein wiedergefundenes Buch im Kühlschrank liegen lässt. 11 Uhr 11 Warum? Keine Ahnung. 11 Uhr 13 Ich beginne mich zu fragen: Was, wenn das verdammte Buch nun wirklich im Kleiderschrank ist? Oder in der Schublade? Soll ich mich dann immer noch freuen, oder muss ich schon erschrecken? Über das Buch und über mich selbst. Wo endet die i;reude und wo fängt der Horror an? 7 DlF BlAUMACHERIN Entscheidung am Strand Entscheidung am Strand War es mein Fehler? Wahrscheinlich. Ich wohne schon ein paar Jahre hier, ich muss das wissen. Man denkt, es ist so einfach: junge Leute, ein freies Wochenende, ein Ausflug, na klar ... und dann ... na ja, vielleicht war es wirklich mein Fehler. Der Plan ist gut: Nüria und Quirn wollen am Samstag an die Costa Brava fahren. Und dann weiter in ihr Dorf bei Olot. Ich fahre mit. Wir essen zusammen, gehen an den Strand und abends fahre ich mit dem Zug zurück nach Barcelona. Eigentlich ganz einlach. Dann habe ich diese Idee. Können wir vielleicht meine Bekannten mitnehmen? Karin und Harald? Die sind neu hier, haben kein Auto und nicht viel Geld. Und wir haben noch Platz für zwei. Warum nicht, sagt Quirn, bring sie mit. Um zwölf Uhr, Ecke Diagonal mit Gracia. Im Grunde haben hier die Probleme schon begonnen. Ich rufe Karin und Harald an. Sie treuen sich, sie haben Zeit, sie wollen mitkommen, zusammen picknicken, zusammen am Strand wandern. Aber sie wundern sich: Zwölf Uhr finden sie sehr spät für einen Tagesausflug. Zwölf Uhr, warum nicht neun, warum nicht zehn? Ich zucke mit den Schultern. Am Samstag wundern sie sich weiter. Wir warten oben an der Diagonal. Zwölf Uhr ist spät, aber Nüria und Quirn sind um zwanzig nach zwölf immer noch nicht da. Harald schaut ständig auf die Uhr und schüttelt den Kopf. Lohnt sich das überhaupt noch? Nüria und Quirn kommen um halb eins, man begrüßt sich freundlich. 8 Die Sonne scheint. Alles wird gut, denke ich noch. Aber im Auto wundern sich Harald und Karin schon wieder. Quirn will bis nach Cadaques fahren. Das sind fast zweihundert Kilometer. Harald rechnet. Das sind über zwei Stunden Fahrt. Das heißt, wir sind frühestens um drei Uhr dort. Um sechs Uhr wird es schon wieder dunkel. Warum Cadaques? fragt er mich leise und auf Deutsch. Cadaques ist sehr schön, sage ich kurz. Aber es ist zu weit, flüstert Harald, wir wollen doch wandern und picknicken. Am Himmel gibt es plötzlich Wolken. Sag mal, frage ich Quirn, ist Cadaques nicht ein bisschen weit? Fs wird drei Uhr, bis wir dort sind. Ja und? meint Quirn, genau richtig zum Mittagessen. Nüria kennt dort ein gutes Fischlokal. Ich sehe Harald an. Ich weiß: Harald ist Vegetarier. Von der harten Sorte. Er hasst Fisch. Immer mehr Wolken. Kurz vor Cadaques habe ich immer noch Hoffnung. Meine Vision: ein freundliches Restaurant direkt am Wasser. Mit Terrasse. Fisch für die einen, Salat und Brote für die anderen. Für alle Wein. Und vor allem Strand. Alles ist möglich: sich sonnen, Beachball spielen, spazieren gehen. Für jeden etwas. Ich sehe aus dem J;enstcr. Eine wunderbare Idee, nur ... der Himmel ist inzwischen bedeckt Die Sonne ist weg. Um Viertel nach drei kommen wir an. Wir stehen am Hafen von Cadaques. Rechts die Spanier, links die Deutschen, ich in 9 Die Blaumaciii rin Entscheidung am Strand der Mitte. Leichter Regen. Tropfen auf dem Meer, der Strand wird nass. Für die Spanier ist alles ganz einfach. Es ist nach drei Uhr und es regnet. Und Núria kennt ein gutes Lokal. Klare Sache. Núria zeigt uns das Restaurant. Es sieht elegant aus, eher teuer. Keine Terrasse, keine Brote. Ich schaue rüber zu den Deutschen. Auch für die Deutschen ist die Sache klar. Ausllug. Endlich. Los geht's. Fürs Picknick an der Tankstelle einkaufen und dann losmarschieren, Richtung Leuchtturm. Es regnet? Kein Problem! Ich übersetze, ich suche immer noch eine Lösung für alle. Ich übersetze vorsichtig und nicht ganz korrekt. Für die Spanier sage ich Supermarkt statt Tankstelle und Spaziergang statt Wanderung. Für die Deutschen mache ich aus dem Menü ein paar kleine Tapas und setze den Preis ein bisschen nach unten. Es hat keinen Sinn. Zuerst schauen mich die Spanier fragend an und dann die Deutschen. Zwei Welten. Ein Spanier fährt nicht nach Cadaqués, um dann ein Käsebrot im Regen zu essen. Eigentlich logisch. Ein Deutscher fährt nicht zwei Stunden lang ins Grüne, um dann in einem fensterlosen Restaurant zu warten, bis es dunkel wird. Auch logisch. Wo bleibt eigentlich die Globalisierung?, frage ich mich. Man sieht mich immer noch fragend an. Ich schaue aufs Meer. Ich muss jetzt diplomatisch sein. Oder besser gesagt: pädagogisch. Ich war einmal Lehrer. Meine Idee: Gruppenarbeit. Gruppen nach Interesse. Mehr Spaß und Motivation durch Autonomie. Konfliktfrei und dynamisch: Je länger die einen in Ruhe essen, desto länger können die anderen im Regen herumlaufen. Ich schlage also vor: Wrer wandern will, soll wandern und wer ins Lokal gehen will, soll ins Lokal gehen. In zwei Stunden treffen wir uns hier wieder und fahren noch zusammen zum Leuchtturm. Ich sehe wieder nach links und rechts. Niemand protestiert. Um halb sechs sind alle da und jeder scheint ganz zufrieden. Die Spanier hatten ein tolles Menü, die Deutschen einen abenteuerlichen Weg am Meer entlang. Jedem das Seine. Oben beim Leuchtturm hat man einen herrlichen Blick über die Küste. Der Regen hat aufgehört. Die Bar ist geöffnet, wir bestellen Kaffee. Endlich etwas, was alle mögen. Danach fahren wir wieder los, Quirn und Nüria bringen uns zum Bahnhof von Girona. Wir haben Glück, schon zehn Minuten später fahrt ein Zug nach Barcelona. Also ist alles noch einmal gut gegangen. Aber irgendwie ganz schön anstrengend. Ein freier Tag, ein Ausflug, junge Leute, irgendwie denkt man, das könnte leichter sein. Und lustiger. Ach ja, wo ich eigentlich am Nachmittag gewesen bin? Na ja, ich kenne Gadaques ja schon, und außerdem hatte ich keine Regenjacke dabei. 10 11 Dil' BLAl'M.MIIfcRIN Eine Serviette, zwei Gläser Hugo erreicht den Bahnsteig, aber der Zug fährt schon ab. Er macht noch ein paar Schritte, der Zug wird immer schneller. Hugo bleibt stehen und sieht ihm nach. Er musste im Cafe noch zahlen, das hat lange gedauert, der Kellner ist nicht gekommen. Und jetzt ist sie weg. Er schaut, er sieht die winkenden Hände in den Fenstern, dann ist der Zug verschwunden. Er wartet noch einen Moment, aber es hat keinen Sinn. Lang sam geht er zurück ins Cafe. Einen Kaffee, denkt er. Auf dem Tisch stehen noch die zwei Gläser, die leere Weinkaraffe, der volle Aschenbecher. Eine Serviette auf einem Teller. An der Serviette das leuchtende Rot des Lippenstifts. „Erst kurz vor drei, wir haben Zeit", hört sich Hugo noch einmal sagen, „trinken wir auf ein Wiedersehen. Bald, hoffentlich, sehr bald!" „Gut", hört er sie antworten, „aber ich verstehe wirklich nicht, warum du jetzt nicht mitkommst. Du hasi es mir doch versprochen!" I Ingo nickt. „Ich weiß", flüstert er, „aber ich glaube, ich muss hier am Meer bleiben. Deine große Stadl, das ist nichts für mich. Was soll ich da machen?" „Und hier?", fragt sie zurück. „Was machst du hier?" „Hier habe ich wenigstens meine Fische. In der Stadt habe ich doch nichts zu tun." Sie lächelt: „Du kannst mir im Geschäft helfen. Mit den Kunden sprechen, Rechnungen schreiben, telefonieren." „Aber das habe ich noch nie gemacht. Das ist nicht meine Sache." 12 8199 DlF Blaumacherin F.Inf Servihttk, zwti Glaser „Aber die Fische musst du doch auch verkaufen!" „Ja, schon, aber da brauche ich kein Telefon und keine Kasse. Garibaldi holt sie für seine Bar und basta." Laura schüttelt den Kopf und nimmt einen Schluck Weißwein. „Du kannst auch zu Hause bleiben, bei Helene. Morgens bringst du sie in die Schule, mittags kochst du etwas für sie und nachmittags geht ihr in den Park. Oder du liest ihr eine Geschichte vor. Und abends komme ich nach Hause und wir machen noch etwas zusammen. Am Wochenende fahren wir dann raus und machen ein Picknick im Grünen." „Ein Picknick im Grünen?" „Ja", lächelt Laura, „warum nicht?" Ja, denkt Hugo, warum fahre ich nicht mit? Warum soll ich hier bleiben? Das Fischen geht schlecht, die großen Schiffe machen die Preise kaputt und im Dorf gibt es viele Touristen und wenig Freunde. „Also", sagt sie noch einmal, „warum kommst du nicht mit?" ]a, warum ist er nicht einfach mitgefahren? Sie würden jetzt im Zug sitzen, sie würde ihre Hand aufsein Knie legen und lächeln und sagen: „Wie schön, dass du da bist, alles wird gut." „Darfes noch etwas sein?", fragt plötzlich eine Stimme. Hugo sieht auf. Der Kellner steht am Tisch. „Oh ja, bitte" antwortet Hugo, „einen Kaffee." Der Kellner sieht die beiden Gläser. „Einen oder zwei?", fragt er. „Einer ist genug, glaube ich." „Wie Sie wünschen." Hugo blickt über den Tisch. Die Serviette mit dem roten Lippenstift. Ist sie vielleicht noch da? denkt er plötzlich. War sie vielleicht vorhin gar nicht im Zug? Ist sie vielleicht gar nicht mitgefahren? Plötzlich hält ihm jemand die Augen zu. „Wer ist das?" „Rate mal!" Ein zarter Kuss auf seiner Wange, eine sanfte Stimme flüstert in sein Ohr: „Ich hatte einfach keine Lust, alleine wegzufahren." „Und Helene?" „Helene soll herkommen. Mit dem Zug. Das gefällt ihr bestimmt. Und heute Abend gehen wir alle drei zu Garibaldi essen." „Und das Geschäft?" „Isl doch egal", antwortet sie, „der Laden bleibt ein paar Tage geschlossen." „Wunderbar", sagt er. Er zögert, ob er es ihr sagen soll. „Aber was ist denn?" Sie sieht ihm in die Augen. „Freust du dich nicht?" „Doch", sagt Hugo und lächelt. „Es ist nur..." „Na, was?" „Vorhin, als der Zug abgefahren ist, habe ich mir vorgestellt, ich würde noch schnell einsteigen und mitfahren." „Wirklich", lacht sie, „zum Glück hast du das nicht gemacht. Stell dir vor ..." „Ich habe dich im Zug lange gesucht und dann endlich gefunden, du hast ein Buch gelesen ..." „Und dann?", fragt sie, amüsiert von dieser Fantasie. „Du siehst mich, aber dein Blick ist fremd. Du hier? Was willst du hier? Du schaust mich an, mit Stadtaugen, Geschäftsaugen. Plötzlich weiß ich, dass es ein Fehler war, eine Dummheit. Ich ii 15 EiNt Serviette, zwei Glaser möchte aussteigen, aber der Zug fährt schon. Zu spät. Ich muss mit..." Sie legt den Arm um seine Schulter. „Hugo, nie, nie werde ich dich mit fremden Augen anschauen", hört er sie flüstern, „nie, das weißt du, nie!" Jemand kommt an den Tisch. „Ihr Kaffee", sagt der Kellner und stellt die Tasse vor ihn hin. „Danke", sagt I lugo leise. Der Kellner räumt den Tisch ab. Er nimmt die Serviette und stopft sie in ein Teeglas. Hugo sieht, wie sich die Serviette mit dem kalten Tee vollsaugt, das leuchtende Rot wird schmutziges Grau. „Ist der Schnellzug schon abgefahren?" fragt Hugo. „Ja", sagt der Kellner, „schon lange." Abends kommt Hugo in die Dorfbar. „Wo kommst du denn her?", fragt Garibaldi. „Vom Bahnhof, antwortet Hugo. „Was hast du denn da gemacht?" Hugo zögert einen Augenblick. „Du weißt doch", sagt er und lächelt vor sich hin, „das Cafe am Bahnhof ist das einzige, das sonntags den ganzen Tag aufhat." 17 Die Bi au macherin Anekdote aus einem bayrischen Biergarten Sie erwarten jetzt sicher Folklore. Männer in Lederhosen, rustikale Lieder, Gemütlichkeit, Schweinshaxn und natürlich jede Menge Bier. Ich muss Sie enttäuschen. So war es nicht. Überhaupt nicht. Wir haben immer gleich unsere Vorstellungen: Ein Wort, eine Geste, schon sind sie da, unsere Assoziationen, unsere Klischees. Aber ich gebe zu, auch ich habe etwas ganz anderes erwartet ... Das heißt, eigentlich erwarte ich gar nichts. Ich bin einfach nur froh, dort zu sein. Ich sitze wieder einmal nach langer Zeit in meinem persönlichen Paradies. Eine halbe Stunde mit dem Fahrrad durch den Wald, dann der Kirchturm, die Wiese, das Dorf und plötzlich darf ich wieder dort sein, im Biergarten „Zur Traube". Einfache Holztische unter Kastanienbäumen, alles unverändert. Sogar die Kellnerinnen sind noch dieselben. Hier kann man auch gut alleine sein. Man braucht kein Buch und keine Zeitung. Ein Biergarten ist wie ein Schauspiel, es gibt so viel zu sehen. Ich bestelle also meine Halbe Bier, lehne mich glücklich zurück und schon beobachte ich eine interessante Szene. Auf den ersten Blick nichts Besonderes. Junge Leute, eine Frau, zwei Männer, alle um die fünfundzwanzig, vielleicht noch Studenten, vielleicht schon in der großen Welt der Geschäfte: Architekten, Werbetexter, Gomputerhelden. Warum ich das glaube? Keine Ahnung, aber wie gesagt, man hat so seine Vorstellungen. Das Grüppchen ist jedenfalls ein freundlicher Anblick, die Jungs in weiten weißen Hemden, die Frau in einem bezaubernden Sommerkleid. Aber nicht ihre Kleidung macht mich aufmerksam. Es ist ihre Unterhaltung, obwohl ich sie nicht verste- Anekdoti aus einem bayrischen Biergarten hen kann. Ich erkenne aber sofort: E)as hier ist kein Plaudern, das ist eine brillante Konversation. Einer der Männer spricht. Völlig fasziniert hört die Frau zu, ihr Blick auf seinen Händen. Seine Hände, welch ein Speklakci! Für Momente liegen sie ruhig, ziehen dann Linien auf dem Tisch, imaginäre Bilder und Skizzen, und fliegen plötzlich in die Luft, in magischen Kreisen und fantastischen Figuren. Die Frau folgt seinen Gesten, sieht ihm dann wieder ins Gesicht, antwortet. Es ist wie ein Duell zwischen den beiden. Der dritte, ein riesiger Kerl, sitzt nur da, überflüssig, er wirkt unkonzentriert, das Thema scheint ihm zu kompliziert zu sein. Was muss man einer I rau erzählen, dass sie einen so ansieht? Ich gebe zu, ich werde so neugierig, dass ich mich sogar ein Stück vorbeuge, um etwas zu verstehen. Das Thema, wenigstens das Thema möchte ich wissen! Diese Figuren in der Luft, so leicht, so lässig, was zum Kuckuck bedeutet das alles? Ein Wort kann genügen. Ich verstehe jetzt einige, aber was soll das bedeuten? .Schwarz', .weißt du, .sicher', ,gelb' oder .Geld1? Schwarzgeld?, denke ich einen Moment. Illegale Geschäfte? Hier in meinem Paradies? Kann doch nicht sein! Ich konzentriere mich. Er sagt jetzt ein paar Mal .modisch', außerdem .Bilder' und .dekorativ'. Also doch keine Mafia, beruhige ich mich. Dann verstehe ich .Modell' und ,Fan und plötzlich habe ich eine Idee: Natürlich! Sie ist Foto-Modell und er Mode-Designer und der Dritte vielleicht ihr Manager... oder vielleicht doch eher ihr Ghauffeur? 18 19 Dlk Blai/machf.kik Ich brauche noch mehr Informationen. Um jeden Preis. Ich nehme meinen Stuhl und rücke ein bisschen näher: .psychologisch', .Effekte', .Konflikt', .reflektieren. Hoppla, das klingt ja nicht gerade nach Gala-Abend und Schickimicki. .Single', ,du entscheiden', .konsequent', .mit sich selbst identifizieren. Klingt eher nach Lebenskrise. Auf jeden Fall geht es um eine wichtige Entscheidung. Ist das spannend! Was zum Teufel ist hier los? Ich will mehr, ich will jetzt alles wissen. Aber ein paar Augenblicke später ist alles aus. Das Lokal wird voller und voller, und plötzlich setzen sich zwei Paare an meinen Tisch. Ohne zu fragen. Eine akustische Invasion, ein Alptraum: ein lautes, lustiges Gespräch über ihren Sommerurlaub. Warum sitze ich hier und nicht dort? Ich sehe noch einmal hinüber, das Schauspiel geht weiter, der Zauberer und die Fee und daneben der schlafende Riese. Die magischen Worte werden mir also Rätsel und Geheimnis bleiben, für immer. Kurze Zeit später habe ich mein Bier ausgetrunken, das Paradies ist verloren, ich kann gehen. Auch mein Trio ist schon weg, das habe ich gar nicht bemerkt. Ich zahle also und hole mein Fahrrad. Aber als ich losfahren will, höre ich plötzlich seine Stimme. Ich drehe mich um, da sind sie wieder, die drei. Der Riese sitzt schon in einem gelben Sportwagen, die beiden anderen umarmen sich noch einmal zum Abschied. „Und", sagt er, „denk an meine Worte, Susi, einmal muss man sich entscheiden. Dieser und kein anderer. Sicher, wenn du noch lange weitersuchst, findest du vielleicht irgendwo einen besseren, einen optimalen. Aber einmal muss man eine Entscheidung treffen und dafür die Verantwortung tragen. Und ANEKDOTE AUS einem bayrischen BlFRGARTEN wenn dir der blaue Lampenschirm in dem Baumarkt gefallt, dann nimm ihn doch einfach." Was soll ich sagen? Dass ich desillusioniert war? Enttäuscht? Oder einfach nur irgendwie erleichtert ... 20 21 DlK Iii aumacherin Der s'i romausfall Der Stromausfau Licht!, sagt Fridolin. Mach das Licht Wiederau! Er wartet einen Moment. Nichts. Kein Licht. Das Wohnzimmer bleibt dunkel. Verdammt, zischt er und tastet nach der Fernbedienung für den Fernseher. Die Chipstüte, die Bierdose, aber keine Fernbedienung. Ich bitte dich, Berta! Das Spiel beginnt doch gleich und ich kann die Fernbedienung nicht finden. Mach sofort das Licht wieder an! Stille. Dunkelheit. Mein Gott, tlucht Fridolin. Er hat jetzt wirklich keinen Sinn für solche blöden Scherze. Auch nicht für Grundsatzfragen: warum ich und nicht du? Sie haben heute schon lange genug diskutiert. Alle wollten fernsehen. Ausgerechnet heute. Die Verhandlungen waren kompliziert und der Preis hoch, bis endlich jeder zufrieden war. Fridolin musste alles Mögliche versprechen, erlauben und zur Verfügung stellen. Seine Frau hat das Handy bekommen. Das heißt, sie wird nachher in der Badewanne sämtliche Freundinnen anrufen und dabei eine astronomische Telefonrechnung produzieren. Sein Sohn Max darf sogar in Fridolins Büro. Das heißt, er wird auf Fridolins teurem Computer irgendwelche Monster abschießen und dazu auf Fridolins neuer Stereoanlage grauenhafte Musik hören. Schreckliche Vorstellungen! Aber Fridolin will sich jetzt gar nichts vorstellen, er will die Füße auf den Tisch legen und das Spiel sehen. Berta will sich nicht einmal um die Pizza kümmern. Warum immer ich und warum nicht mal du? Schon gut, schon gut! 22 Eine fürchterliche Familie! Fridolin hat die Tiefkühl-Pizza selber in den Ofen gelegt, genau zur Halbzeit-Pause wird sie fertig sein. Alles ist vorbereitet, noch drei Bierdosen im Kühlschrank, nichts kann mehr schiefgehen, eigentlich ... Mach das Licht an, Berta! Ich zähle bis drei und dann ist das Licht an! Eins, zwei, drei ... Stille. Dunkelheit. Plötzlich ein Geräusch aus dem Badezimmer. Ein Platschen, dann ein Schrei. Berta ist gar nicht im /immer, denkt Fridolin, sie ist schon im Bad. Dann muss die Glühbirne kaputt gegangen sein. Dieses verdammte Ding! Leuchtet jahrelang und geht dann plötzlich kaputt, genau fünf Minuten vor dem großen Halbfinale hier in der Stadt. Einfach so. Fridolin seufzt. Wenigstens gibt es in der Küche Ersatzglühbirnen. Stille. Dunkelheit. Die Wohnzimmertür knarrt. Berta?, fragt Fridolin. Ia, sagt Berta. Sag mal, Berta, könntest du in der Küche ...? Fridolin, unterbricht ihn Berta, im Bad ist das Licht kaputt gegangen. Ich bin ausgerutscht und ich glaube, mir ist ... Was, im Bad auch? Ja, ganz plötzlich und ich glaube, mir ist ... Dann ist das ein Kurzschluss, ruft Fridolin, so ein Mist! Und was heißt das?, fragt Berta. Man muss im Keller die Sicherungen auswechseln. Berta, du weißt doch, wo ... Fridolin, ich habe nichts an, ich habe nasse Füsse und ich glaube, mir ist ... 23 Dn Blaumacherin DER S'l ROMAUSEALL Schon gut, schon gut, stöhnt Fridolin, ich gehe ja schon. Immer ich ... Fridolin quält sich langsam aus dem Fernsehsessel. In diesem Moment spürt er einen Gegenstand auf seinem Oberschenkel. Fr greift danach. Zu spät. Das Ding rutscht und kracht auf den Boden. Stille. Dunkelheit. Was war das?, fragt Berta erschrocken. Ich weiß nicht, sagt Fridolin, aber ich glaube, es war die Fernbedienung. Wenn man doch nur etwas sehen könnte! Wieder ein Schrei. Wie vorhin im Bad. Aber jetzt mitten im Wohnzimmer. Was ist passiert?, ruft Fridolin erschrocken. Etwas hat mich angefasst, flüstert Berta entsetzt. Ich bin's, sagt Max. Du?, staunt Fridolin. Und warum bist du nicht in meinem Büro? Der Computer ist plötzlich ausgegangen und die Musik auch. Mist, ich hatte schon sieben Drachen getötet und war schon in der Burg. Wo warst du?, fragt Berta. Vergiss es, Mama, davon hast du keine Ahnung. Stille. Dunkelheit. Dann ist das ganze Haus ohne Strom, sagt Fridolin, wir brauchen eine Taschenlampe. Wir haben keine Taschenlampe, die haben wir doch im Sommer auf dem Campingplatz verloren. Gut, sagt Fridolin, dann gehe ich schnell zum Nachbarn rüber und hole eine. Bin gleich wieder da. Du willst einfach abhauen, ruft Berta. Aber wir brauchen doch eine Taschenlampe! Du willst das Fußballspiel anschauen und uns alleine lassen, schluchzt Berta. Du kannst ruhig hier bleiben, sagt Max, es hat sowieso keinen Sinn. Und warum nicht? fragt Fridolin trotzig. Schau doch mal zum Fenster raus, sagt Max, die ganze Straße ist dunkel. Kein Licht. Ein totaler Stromausfall. Ein totaler Stromausfall? Fleißt das, dass in der ganzen Straße niemand das Spiel sehen kann? Sieht so aus, oder siehst du was? Also gut, dann bleibe ich eben hier, sagt Fridolin. Stille. Dunkelheit. Ich habe Hunger, sagt Max. Wir könnten etwas essen. Essen kann man ja wohl auch im Dunkeln. Gute Idee, sagt Fridolin. Es gibt sogar Pizza, dauert aber noch ein bisschen ... Vergiss es, sagt Berta. Und warum, bitte? Ich habe sie doch vorhin selbst in den Ofen getan. Der Ofen ist aus, Fridolin, und die Pizza tiefgefroren. Stille. Dunkelheit. Aber wir könnten uns setzen, sagt Max, das Sofa geht doch noch, oder? Plötzlich ein lautes Knacksen. Was war das, Fridolin? Ach nichts, sagt Fridolin, ich glaube, ich habe die Fernbedienung gefunden. Stille. Dunkelheit. 24 25 Dlh BlAUMACHERIN DhK Sl ROM AUSFALL Ich hab's, sagt Fridolin, wir nehmen das Auto und fahren irgend wohin. Am besten zu Onkel Georg! Da gibt es immer etwas zu essen und ich könnte nebenbei das Fußballspiel... Das geht doch nicht, sagt Max genervt. Warum nicht?, regt sich Fridolin auf. Flabe ich vielleicht ein elektrisches Auto mit Steckdose? Ich habe immer noch einen Diesel, einen guten alten Diesel! Schon gut, Papa, aber dein Diesel steht in der Garage. Na und? Dann holen wir ihn raus! Aber das Garagentor ist elektrisch, das fandest du doch so praktisch ... Stille. Dunkelheit. Ich wüsste was, sagt Max. Was?, fragt Fridolin hoffnungsvoll. Wir könnten telefonieren. Aber das Telefon geht doch auch nicht mehr. Das Telefon nicht, aber das Handy, wir haben immer noch das Handy. Natürlich, daran habe ich gar nicht gedacht. In diesem Moment beginnt Berta zu schluchzen. Beruhige dich doch Berta, wir nehmen ein Taxi und verschwinden von hier. Berta schluchzt weiter. Was ist denn los Berta?, ruft Fridolin. Du wirst sehen, alles wird gut. Sie schüttelt den Kopf. Vorhin im Bad, als plötzlich das Licht ausgegangen ist... Fridolin erinnert sich wieder. Oh nein! Das Platschen, der Schrei. Nein, Berta, das darf doch nicht wahr sein! Doch, ich wollte es vorhin schon sagen, aber dann ... 2K Stille. Dunkelheit. Aus, sagt Fridolin, alles ist weg, verloren: der Fernseher, der Ofen, das Auto, nichts geht mehr. Wir sind erledigt. Hey, sagt Max, das ist doch nur ein Stromausfall. In ein paar Stunden geht das alles wieder. Ganz normal. Das Handy nicht, sagt Fridolin bitter, das schwimmt in der Badewanne. Die Fernbedienung auch nicht, sagt Berta giftig, die hast du vorhin auf den Boden fallen lassen und bist dann draufgetre-ten. Und das Fußballspiel ist dann auch vorbei, flüstert Fridolin. Stille. Dunkelheit. Sagt mal, beginnt Fridolin noch einmal, könnte es sein, dass die ganze Stadt ohne Strom ist? Kann sein, sagt Max, aber das ist jetzt auch egal. Na ja, sagt Fridolin, nicht ganz, dann wäre ja auch im Stadion kein Licht. Dann könnten die gar nicht spielen, die Partie würde ausfallen und nächste Woche ... Fridolin! Schon gut, schon gut, ich dachte ja nur. Stille. Dunkelheit. Seltsam, sagt Berta, gerade noch hat alles ganz normal funktioniert. So selbstverständlich. letzt sitzen wir eine halbe Stunde im Dunkeln und schon kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, wie das einmal war, so mit Licht und Fernseher und Backofen. Stille. Dunkelheit. So muss das im Krieg gewesen sein, sagt Fridolin. Opa hat das 29 Div Blaumai herin Der Stromausfau doch immer erzählt. Im Dunkeln sitzen und nichts geht mehr. Auf dem Campingplatz in Italien war es doch auch so, sagt Max. Da funktionierte doch auch nichts, wir hatten nicht einmal einen Kühlschrank. Aber das war Urlaub, sagt Fridolin, da muss das so sein. Wir wollten das so. Wir haben das wunderbar gefunden. Ich habe das nicht wunderbar gefunden, protestiert Berta, es war einlach furchtbar. Ich hatte nur Arbeit. Koch du mal (lulasch auf so einem verdammten Camping-Köcher! Nie wieder! Unsere Camping-Reisen haben dir also gar nicht gefallen? Uberhaupt nicht, mir hat es immer gegraust! Warum hast du denn nie was gesagt? Du hast mich ja nie gelragt! Wir haben immer nur alles wegen der Kinder gemacht. Meinetwegen hätten wir nicht fahren müssen, sagt Max. Ich wäre auch lieber zu Hause geblieben. Was? Du auch?, fragt Fridolin leise. Stille. Dunkelheit. Plötzlich hört man Schritte. Jemand kommt langsam die Treppe herunter. Pssst!, zischt Fridolin. Knarrend öffnet sich die Wohnzimmertür. Alle halten den Atem an. Mama?, fragt eine zarte Stimme. Papa? Eva?, fragt Fridolin erstaunt. Ja, Papa, ich bin's. Kind, hast du uns erschreckt! Seit wann bist du denn zu Hause? Ich? Schon den ganzen Nachmittag. Schon den ganzen Nachmittag? Warum bist du denn nicht zu uns ins Wohnzimmer gekommen? Ins Wohnzimmer? Was soll ich denn hier? Hier läuft doch die ganze Zeit nur der Fernseher. Ich habe gelesen und dann bin ich eingeschlafen. Übrigens, warum sitzt ihr hier eigentlich im Dunkeln? Ach ja, du weilst es ja noch gar nicht... Stille. Dunkelheit. Das ist schon lange nicht mehr passiert, sagt Eva. Ja, sagt Fridolin, so ein Mist! Und ausgerechnet heute! Ich meine nicht den Stromausfall. Ich meine, dass wir alle vier zusammen im Wohnzimmer sitzen und der Fernseher nicht läuft. Ach so, sagt Fridolin, stimmt. Man kann einfach nichts machen. Nur da sitzen und warten und warten. Wir könnten uns unterhalten, sagt Eva. Uns unterhalten? Worüber denn?, fragt Fridolin. Na, du könntest mal was erzählen. Du hast uns schon lange nichts mehr erzählt. Hm, brummt Fridolin, was soll ich euch erzählen? Ich arbeite von morgens bis abends, ich erlebe doch nichts, nichts Besonderes jedenfalls ... Na, dann erzähl doch mal, wie du Mama kennen gelernt hast! Au ja!, ruft Max. Ach Gott! ruft Berta. Wie ich Mama kennen gelernt habe? Wie meinst du das? Ihr musst euch doch irgendwann kennen gelernt haben. Ihr habt euch getroffen, ihr habt euch in einander verliebt, ihr seid ein Paar geworden. Wie war das alles? FIm, sagt Fridolin, das ist alles schon so lange her... Tja, Berta, wie war das eigentlich? Erinnerst du dich? Ja, seufzt Berta, sogar ziemlich genau. Wir haben beide im Studentenchor gesungen und eines Tages hat mich euer Vater zum Tee eingeladen, zu sich nach Hause. Oma und Opa waren 30 31 D\h Bl aumachejun Kakao ohne Untlkm hrsi r nicht da. Und? ruft Eva. Was und? sagt Fridolin nervös. Wir haben auf dem Sofa gesessen und uns unterhalten. Und dann? Nix dann, wir haben uns eben sehr lange unterhalten. Kann man sich gar nicht vorstellen, sagt Eva. Ja, sagt Berta, und plötzlich ist das Licht ausgegangen. Plötzlich diese Stille und diese Dunkelheit. Ach ja, Berta hat plötzlich das licht ausgemacht, sagt Fridolin schnell. Fridolin, ich habe das Licht nicht ausgemacht! Du hast es ausgemacht! Wieso ich? Das ist doch lächerlich! Stille. Dunkelheit. Na ja, sagt Berta leise, jedenfalls war das ein wunderbarer Abend. Findest du?, fragt Fridolin vorsichtig, findest du das wirklich? |a, flüstert Berta, und im Grunde ist es völlig egal, wer das Licht ausgemacht hat, nicht? Ja, sagt Fridolin langsam, eigentlich völlig egal. Fs war einfach nur wunderschön. Kakao ohne Unterschrift „Wo muss ich unterschreiben?" fragt ein junger Mann auf Englisch und nimmt einen Plastikbecher. „Nirgends", sage ich und frage zurück: „Warum unterschreiten?" „Keine Ahnung", sagt er, „ich habe heute schon drei Mal unterschrieben: für die Bettwäsche, für die U-Bahnkarte, die dritte Sache weiß ich nicht mehr." „Kann ich noch etwas haben?" fragt ein anderer und gibt mir seinen leeren Becher. Ich nehme die Kanne mit dem Kakao, noch ist sie schwer. „Klar", antworte ich und schenke ein. Ich kann einfach nicht Nein sagen. Aber ich weiß, dass noch mehr Leute kommen. In ein paar Minuten ist nichts mehr da. Dann gibt es wieder traurige Gesichter. Der kleine Platz ist abends normalerweise ziemlich ruhig. Keine Kneipen, keine Restaurants. Ab und zu Leute auf dem Weg nach Hause, ab und zu ein Auto. Aber seit neun Uhr ist hier plötzlich eine Menge los. Sie kommen, einzeln, zu zweit, in kleinen Gruppen. Eine lose Karawane. Afrikaner, Asiaten, viele Menschen aus Osteuropa. Um halb zehn müssen sie zurück sein, in dem improvisierten Asyl für Immigranten. Dort müssen sie ihre Karte zeigen und in der Liste hinter ihrem Namen unterschreiben. Ein Schild über dem Eingang warnt: Wer seine Karte weitergibt, für einen anderen unterschreibt oder eine Nacht ohne Entschuldigung fehlt, verliert seinen Schlafplatz. Das heißt, ein Bett in einem der großen, kalten Räume. Immerhin ein Dach über dem Kopf. Viele von ihnen haben vorher einige Wochen draußen geschlafen, auf Parkbänken, in Hauseingängen. 12 33 Kakao ounh Untersi iikiii Natürlich will niemand dieses Bett verlieren. Also versucht jeder, pünktlich zu sein. Normalerweise gehen sie sofort ins Haus und dann wie immer: Unterschrift, Hausregeln, Nachtruhe. Heute, wie jeden Donnerstag, ist es ein bisschen anders: Wir haben vor dem Haus einen 'lisch aufgestellt. Darauf die Thermoskannen mit Kakao, eine Menge Plastikbecher und ein paar Kilo Kekse. Ein Betthupferl. Die meisten Rückkehrer bleiben stehen und nehmen etwas. Es sind nur ein paar Minuten. Aber Zeit genug, um ein bisschen zu plaudern und zu lachen, manche singen auch oder beten zusammen. Es ist nur ein Moment, aber ein guter Moment, in Monaten und Jahren voller Schwierigkeiten. Wenigstens das: Einmal in der Woche wartet jemand auf sie, gibt ihnen das Gefühl, nach Hause zu kommen. Und ausnahmsweise einmal müssen sie nicht unterschreiben. 35 Die Blaumacherin Fee mit Idee „Können wir uns nachher sehen?" tragt Federica. Fabian ist überrascht: „Die anderen essen zusammen. Gehst du denn nicht mit?" „Ich weiß", sagt Federica, „aber ich möchte gerne mit dir alleine sein. Ich ..." - sie sieht ihn kurz an - „... ich muss mit dir sprechen. Aber ich möchte natürlich nicht..." „Warte doch", sagt Fabian, „natürlich geht das, wir müssen ja nicht mitgehen. Wir gehen einfach in ein anderes Cafe." „Wirklich", fragt sie, „ist das okay für dich?" „Ja", sagt Fabian schnell, „absolut okay. Also, nachher vor der Schule?" „lieber nicht", flüstert Federica, „da sehen uns die anderen." „Stimmt", sagt Fabian. „Im Cafe am Ufer?" „Ja", sagt sie, „das ist eine gute Idee. Um halb zwei?" „Alles klar", grinst Fabian. „Danke", sagt sie leise und gehl wieder ins Klassenzimmer. Fabian bleibt auf dem Balkon. Er sieht auf die Uhr, noch fünf Minuten Pause, genug Zeit für eine Zigarrctte. Fr braucht jetzt eine. „Ich muss mit dir sprechen. Allcine." Ii sieht noch einmal auf die Uhr. Noch zwei Stunden Deutsch. Fine Ewigkeit! Zwei Stunden Konjunktiv und Präteritum und Konversation. Wie soll er das aushalten? „Ich muss mit dir sprechen. Alleine." Endlich! Heute morgen war er noch enttäuscht. Sie ist zu spät gekommen, neben ihm war ein Platz frei. Genaro ist heule nicht da, wahrscheinlich macht er blau und schlaft noch, Fabian hat ihn morgens in der Wohnung nicht gesehen. Aber sie hat sich nicht neben ihn gesetzt, sie hat ihn nicht einmal gegrüßt. 3« Fee mit Idee Fast einen Monat ist Fabian nun hier. Sommersprachkurs in Berlin. Heute beginnt die letzte Woche. Der Kurs war eine super Idee, eine gute Kombination aus Lernen und Ferien machen. Und ihre Gruppe ist einfach toll. Fine kunterbunte Mischung aus aller Welt. Zwölf Studenten aus acht Ländern. Er ist der einzige Holländer, Genaro, sein Wohnungskollege, ist aus Mexiko, dann gibt es noch Leute aus Australien, Japan, Frankreich und ... eine Italienerin. Sie haben sich alle von Anfang an gut verstanden. Und das auf I kutsch! Vormittags vier Stunden Unterricht, gut, das war manchmal ein bisschen stressig, aber es hat auch Spaß gemacht. Und nach der Schule war immer etwas los: Straßencafes, Picknicks, Ausflüge. Und dann die Abende! Sie sind oft zusammen ausgegangen, Kneipen, Konzerte, Diskotheken. Aber das Beste waren eigentlich die privaten Partys. Einfach bei jemandem Spaghetti kochen und dann feiern, tanzen und singen. Genaro hat eine Gitarre, er spielt super und kennt alle Lieder, von Cat Stevens bis Paolo Conte. Federica kam erst in der zweiten Woche, sie war anfangs ganz schon distanziert und Genaro fand sie sofort ein bisschen schickimicki. Sie wollte nie mitkommen, sie war ständig auf dem Kulturtrip. So konnte das nicht weitergehen. Einmal lud Fabian sie mittags ein, mit dem Fahrrad an den Wannsee zu fahren, aber sie lächelte nur: „Nein danke, ich habe schon etwas vor". Das war ziemlich arrogant, aber dann drehte sie sich plötzlich um und sagte: „Ich gehe in die Nationalgalerie. Wenn du Lust hast, kannst du ja mitkommen." Natürlich hatte er Lust, nicht so sehr auf das Museum, aber auf 37 OlF Blaumacherin einen Nachmittag mit Federica. In dem Museum war er sogar schon gewesen, in der ersten Woche mit der Schule. Aber das musste er ihr ja nicht sagen. So wusste er einiges und konnte ihr ein bisschen imponieren. Schließlich studiert sie Kunstgeschichte. Danach liefen sie lange am Kanal entlang und unterhielten sich gut. Über Italien, über ihr Studium, über Van Gogh. Er hatte schon einen tollen Plan für den Abend, sein Lieblingsrestaurant und dann die Salsabar, aber plötzlich sah sie auf die Uhr und sagte: „Ich nehme hier die U-Bahn. Ich treffe m einer halben Stunde meinen Tandempartner. Nett war's, bis morgen." Schon war sie weg. Und tschüss. Das war der Anfang. Immerhin. Aber es dauerte noch ein bisschen. Dann ließ sie sich endlich einmal blicken, auf der Party bei lohn, dem Australier. Natürlich war sie zuerst wieder ganz trocken, aber so nach zwei, drei Gläsern Wein wurde sie immer lockerer. Und dann spielte Genaro ein paar italienische Lieder, „Bella ciao" und „Azurro", und plötzlich war sie richtig gut drauf. Sie legte Genaro den Arm um die Schulter und sang bester Laune mit. Fabian auch, er kennt die Texte, und das beeindruckte Federica, offenbar mehr als seine Kunstkenntnisse, jedenfalls legte sie ihren anderen Arm um ihn. Und von „schickimicki" wirklich keine Spur mehr. Am nächsten Morgen in der Schule war der Spaß vorbei und sie wieder ganz ernst, aber immerhin fragte sie ihn zwei, drei Tage später, ob er noch einmal Lust hätte, auf ein Museum. Das Pergamon. Auch das Pergamon war nichts Neues für Fabian, aber natürlich sagte er ja. Und dachte an den Kanal und an sein Lieblingsrestaurant und an die Salsabar. Aber aus dem Rendezvous wurde wieder nichts. Diesmal hatte Federica auch abends Zeit, das war nicht das Problem. Aber sie hatte Genevieve mitgebracht, ihre Kursnachbarin aus Paris, und Ff.f. Mir Inn die nervte ziemlich. Zuerst ihre altklugen Kommentare im Museum und dann das Gemecker im Restaurant. In Paris wäre alles besser.'Dann lass uns doch in Ruhe", dachte Fabian die ganze Zeit, aber Genevieve dachte gar nicht daran und quatschte pausenlos weiter. Sie gingen alle bald nach Hause. Mit dem Rendezvous hatte es bis heute noch nicht geklappt. Aber es gab gute Abende und der beste war am letzten Mittwoch. Party in der Schule, Donnerstag war frei. Dabei hatte es ziemlich mies begonnen. Federica war nicht da. Fabian hatte schon Horrorvisionen, dass sie in die Oper gegangen war und dort mit ihrem Tandempartner über Richard Wagner filosofier-te. Noch dazu war die Musik auf der Party schrecklich. Aber dann holte Genaro seine CDs raus und inszenierte eine echte Latino-Nacht. Und plötzlich stand Federica vor Fabian, aus dem Nichts, und wollte mit ihm tanzen. Genaro kapierte gleich und spielte „Mirame", Fabians Lieblingslied. Eine rauschende Nacht. Kleine Pausen auf dem Balkon, Sekt und Pizza, lachen und plaudern mit den anderen, dann wieder tanzen, immer weitertanzen, Federica, lächelnd, unermüdlich, schwerelos. Irgendwann hatte dann die Musik aufgehört und Fabian dachte schon, die Nacht wäre zu Ende. Aber die Fee hatte eine Idee. Ihre Vermieterin war nicht zu Hause, sie konnten bei ihr noch ein bisschen weiterfeiern. Unglaublich! Sie waren wieder einmal zu dritt, Genaro kam auch mit. Aber das war in Ordnung. Sie sind schließlich Freunde und Genaro schlief nach einem Glas auch freundlicherweise auf dem Sota ein. Federica legte ganz leise eine CD auf, und sie tanzten noch einmal zu „Mirame". Ganz langsam. Irgendwann, bei Sonnenaufgang, nahm Fabian dann die erste U-Bahn. Der gute Genaro schlief da noch friedlich auf dem 38 39 Dlh Hl Al MAI III HIN Sofa. Erst mittags kam er nach Hause und weckte Fabian mit einem starken Kaffee. Seitdem hat Fabian sie kaum mehr gesehen. Am Freitag war sie in der Klasse, aber nach dem Unterricht sofort verschwunden. Am Wochenende organisierte die Schule einen Ausflug nach Prag. Federica hatte ihm auf der Party gesagt, dass sie wahrscheinlich nicht mitfahren würde und deshalb blieb auch er zu Hause. Er war sicher, dass sie anrufen würde, aber sein Telefon klingelte nicht. Ein schreckliches Wochenende, Genaro war auch nicht da. Fabian saß nur zu Hause herum, klimperte auf Genaros Gitarre und hoffte auf ihren Anruf. Schade, dachte er, wirklich schade. Und nun will sie mit ihm sprechen. Alleine. Fabian denkt an die Party. Wie sie getanzt haben. Genau in dem Raum, wo sie jetzt sitzen und Deutsch pauken sollen. Der Lehrer stellt ein paar Fragen, aber niemand kann sich so richtig konzentrieren. Konversation. Der Lehrer tragt nach dem Wochenende, nach den Höhepunkten der letzten Tage. Nicht sehr originell. Einige Schüler erzählen von Prag. „L'nd du, Federica", fragt der Lehrer, „warst du auch in Prag?" Federiea schüttelt den Kopf. „Nein." „Na, was hast du gemacht?" 'Gute Frage', denkt Fabian und spitzt die Ohren,'ganz authentisch und aktuell. Wie nützlich so eine Deutschstunde sein kann.' „Ich war zu Hause", antwortet Federica, nichts Besonderes. „Flabe lange geschlafen, bin spazieren gegangen,... das war alles." 'Warum, verdammt', denkt Fabian, 'hast du mich dann nicht angerufen?' Fee mit Idee „Aha", sagt der Lehrer, „und let/le Woche, irgend etwas Schönes?" „Na ja, die Party", sagt Federica, „die Party hat mir gut gefallen. Die war echt super." Und endlich, einen Moment lang, sieht sie zu Fabian hinüber. 'Na also', denkt er. Nach dem Unterricht steht Federica sofort auf und geht weg. Fabian bleibt noch und redet mit den anderen. Sie wollen zusammen essen gehen, und danach an den Schlachtensee fahren . „Kommst du mit?" fragt Genevieve. Jetzt nicht", sagt Fabian, „später vielleicht, ich weiß noch nicht, ich rufe euch an." Zwanzig Minuten später, im Cafe am Ufer. Sie sitzt schon da, lächelt verlegen. „Tut mir Leid, dass du ..." „Ach was", sagt er, „macht doch nichts." „Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll." Sie sieht ihn an. „Vielleicht kannst du dir ja was denken." „Ja vielleicht", grinst Fabian, „aber ich bin mir nicht sicher." „Es ist nur eine Idee", flüstert sie. „Eine Idee? Da bin ich aber gespannt." „Ja", sagt Federica, „also, du kennst doch mein Zimmer, ziemlich klein, und die Wohnung ..." „Allerdings", sagt Fabian, „ 'mirame' und so weiter." „Ja", sagt Federica, „und heute kommt die Vermieterin zurück und die ist ziemlich schwierig." 'Soso', denkt Fabian, 'und was kommt jetzt?' 40 41 Die Blaumacherin Die Untai „Ich habt aber mit ihr telefoniert und sie wäre einverstanden. Die Frage ist nur, ob du ...", sie legt ihre Hand auf seine Hand, „... ob du einverstanden bist.'1 Er nimmt ihre Hand und lächelt. „Einverstanden, aber womit denn, Federica?" Sie lehnt sich vor und sieht ihm bittend in die Augen. „Dass wir beide die Zimmer tauschen. Es sind ja nur noch vier Tage. Und das Wochenende mit Genaro war so schön." Die Untat „Ich muss dir etwas erzählen", sagt Silvia und nimmt noch einen Schluck Kaffee, „aber auf Italienisch. Auf Deutsch geht das jetzt nicht, das macht mich zu nervös." „Natürlich", sage ich, „aber was ist denn los?" Normalerweise reden wir immer auf Deutsch. Schließlich ist das kein Kaffeeklatsch, sondern Privatunterricht. Silvia ist seit einem halben Jahr in Berlin, sie spricht schon sehr gut, flüssig und ziemlich korrekt. Sie ist eine angenehme Schülerin: interessiert und immer guter Laune. Deutsch macht ihr Spaß und sie hat Lust zu erzählen. Ein Glücksfall von Schülerin. Aber heute stimmte etwas nicht, obwohl die Stunde wie immer anfing. Montagnachmittag, 17 Uhr, in meiner Wohnung. Sie steht lächelnd in der Für, ich nehme ihr den Mantel ab, sie bedankt sich höflich. Wir setzen uns, ich gieße den Kaffee ein, während sie ihren Block aus der Tasche holt. Unser Ritual, bevor es richtig losgeht. Ich frage, wie ihr Wochenende war, die klassische Montagsfrage, und Silvia beginnt wie immer zu erzählen. Am Samstagmorgen hat plötzlich ihr Freund vor der Tür gestanden. Jürgen ist Berliner, er studiert aber in Freiburg, sie können sich nicht sehr oft sehen. Eine tolle Überraschung also. Und der Samstag ist auch sehr schön gewesen, frühstück in einem Straßenkaffee, Spaziergang am Wannsee, Kaffee bei Freunden, danach die ganze Nacht auf einer Party. Das klingt eigentlich sehr gut, aber Silvia erzählt nicht so wie sonst, sie ist unkonzentriert, ihre Sätze sind kurz und voller Fehler. 42 43 Du Blaumacherin f.iih UniAi „Silvia, ist etwas nicht in Ordnung?" frage ich. Sie seufzt und schüttelt den Kopf. Und dann beginnt sie auf Italienisch: „Es ist erst gestern passiert und ich muss immer daran denken." „Aber was war denn?" frage ich. „Ach, wir wollten ins Kino gehen, in die Vorstellung um sechs Uhr, bevor Jürgen wieder nach Freiburg zurückfahren musste. Wir haben die U-Bahn genommen, am Kottbusser Tor. Der Zug war total voll, wie immer am Sonntagnachmittag. Neben mir stand ein alter Mann, ziemlich verunsichert, offenbar nicht gewohnt, U-Bahn zu fahren, er schaute immer auf den Plan. Und dann war da noch ein junger Typ, vielleicht 16, 17 Jahre alt, mit einem Stapel Papieren in der Hand. Schulsachen, habe ich gedacht. Aber irgendwie komisch, wozu Schulsachen am Sonntagnachmittag? Der Zug fährt in die nächste Station, Prinzenstraße, der Junge geht zur Tür, er will aussteigen, und in diesem Moment fällt alles auf den Boden. Überall Papiere. Der Junge schreit auf und greift panisch um sich, einige I.eute reagieren schnell und helfen ihm. Alles geht durcheinander, weil der Zug auch noch scharf bremst. Auch der alte Mann bückt sich und gibt dem hingen ein paar Blätter. Plötzlich ruft jemand: „Achtung, Ihre Brieftasche!" Im gleichen Moment hält die U-Bahn, die Tür geht auf. Draußen warten eine Menge Leute. Der Junge steht ganz schnell auf und springt hinaus, obwohl immer noch viele Papiere herumliegen, ein anderer läuft hinterher. Dann drängen schon die Leute herein, das Piepsignal ertönt, und die Türen gehen wieder zu. Wrir sehen uns gegenseitig an, einige haben noch Blätter in der Hand, einige schütteln den Kopf. Was war denn das für eine Aktion? Plötzlich schiebt sich jemand durch die Menge, ein junger Mann, klopft dem alten Flerrn auf die Schulter und sagt ganz aufgeregt zu ihm: „Ihre Brieftasche, ich glaube, er hat Ihre Brieftasche gestohlen!" Der Alte sieht ihn nur verständnislos an, tastet an seine Brust, ohne den jungen Mann aus den Augen zu lassen und greift dann in seine Hosentasche. Silvia nippt kurz an ihrem Kaffee. „Nichts", fährt sie fort, "die Brieftasche war weg. Der andere Typ, der auch so schnell ausgestiegen ist, war der Komplize. So einfach geht das: Der eine macht dieses Theater mit den verdammten Papieren, der andere sucht sich in dem Chaos ein leichtes Opfer aus und schon ist es passiert." Wieder schüttelt sie den Kopf. „So eine Schweinerei. Und ausgerechnet der arme alte Mann. Diese verdammten Banden!" „Ja", sage ich, „man hört ja immer wieder etwas, aber diese Sache ist besonders fies." Silvia kann sich nicht beruhigen. Aber das Erzählen tut ihr gut. Die Geschichte muss raus, ganz raus. „Jürgen hatte sein Handy dabei und hat die Polizei angerufen. Aber der Polizist war total unfreundlich und hat nur gesagt, der alte Herr müsste vorbeikommen und eine Anzeige erstatten. Dann würde man ein Protokoll aufnehmen. Mehr könnte man nicht tun. Er sagte mir die Adresse der Polizei. Irgendwo in Kreuzberg.'* „Ja", sage ich, „die kenne ich auch." Silvia sieht mich an, ganz verzweifelt. „Aber der alte Mann hatte doch keine Ahnung. Er war aus einem Dorf und kannte sich überhaupt nicht aus in Berlin. 44 45 Die Untat Null." Sie zögert einen Moment, dann spricht sie weiter. „Also haben wir ihm den Weg erklärt, von der U-Bahn aus. Erst einmal ein paar Stationen zurück. Und dann ein Stück zu Fuß. Der Alte nickte die ganze Zeit, aber ich glaube nicht, dass er sich das alles merken konnte. Jürgen halt ihm aussteigen, ich sah noch, wie er auf dem Bahnsteig stand und nach rechts und links schaute, ganz verloren." Silvia sieht in ihre leere Fasse. „Natürlich wäre es besser gewesen, wenn ihn jemand begleitet hätte." „Ja", sage ich, „allerdings." „Ich weiß", sagt Silvia leise, „aber wir ich meine, es war doch Jürgens letzter Abend und wir wollten um sechs Uhr ins Kino gehen. Und um halb zehn fuhr schon sein Zug nach Freiburg." 47