Die Verantwortung liegt beim Menschen. Dass das ungeheuer schwierig ist, ist keine Frage. Dass wir das also irgendwie zur Kenntnis nehmen: Durch die Technik sehen wir ja jetzt alles, diese Dörfer irgendwo in Afrika und weitab in Asien, mit hungernden, schlecht gekleideten, also mit diesen armen Kindern. Und irgendwie sagen wir, dort ist das eben so. Aber das kann doch auf die Dauer nicht sein. Das kann ja zu nichts Gutem fahren. Also, um es wieder zurückzubringen, einfacher zu machen, es ist immerfort dasselbe: Verständigung, gegenseitige Verständigung, gegenseitiges Entgegenkommen. Dass das nicht von heute auf morgen garantiert werden kann und sehr gut funktionieren wird, ist etwas anderes, aber Schrittchen, für Schrittchen. Wir wussten doch, dass der Nazismus, der Nationalsozialismus, eine sehr schlechte Ideologie hat. Was haben wir eigentlich dagegen unternommen? Es wurde dagegen geschrieben, das sind die selbstverständlichen Dinge. Und diese jungen Menschen, die begeistert waren, und die geglaubt haben, das ist für sie ein guter Weg in die Zukunft. Es ist nicht gelungen, diese Menschen zu überzeugen, dass das nicht der richtige Weg ist, dieses Ubermenschentum, nicht. Dass das so wahrscheinlich nicht gehen wird. Die Folgen des Nazi-Reiches waren ja im deutsch tschechischen Verhältnis genau das Behindernde\ was in unser beider Verhältnis zwischen Deutschland und Tschechien eben so lange zu einer Gesprächspause geführt hat. Wie beurteilen Sie aus der heutigen Sicht diese Beziehung, und was kann Literatur dafür tun, dass diese Beziehungen gut und besser und fruchtbar werden? Also erstens bin ich kein Politiker. Zum Glück! Ich bin kein Politiker, ich bin kein Staatsmann, ich bin eine Privatperson. Wir haben diese lange Grenze mit Deutschland. In den dreißiger Jahren wollte der Hitler dieses Land haben, weil wir eine gute Rüstungsindustrie hatten und so weiter und so weiter. Der hat also viel da hineingesteckt. Ob wir dagegen genügend getan haben, ist schwer zu sagen, ob wir mehr dagegen hätten tun können. Das alles sind Fragen; das ist zum Glück schon Vergangenheit. Jetzt haben wir Europa. Das ist ja T eine neue Angelegenheit. Das wird sich zeigen, so hoffe ich, ob uns das also hilft, verschiedene Barrieren zu nehmen. Die Welt hat sich ja in den letzten Jahren so ungeheuer verändert, dass wir mit den politischen Mitteln, die wir einst gebraucht haben, nicht mehr zurechtkommen können. Die Technik greift da ein, nicht. Das Leben hat sich in seiner ganzen Form geändert. Und dem muss man Rechnung tragen. Sie haben das Stichwort genannt. Im Augenblick ist ja Europa wegen dieser Verfassungsdebatte in einer Krise. Andererseits wächst zusammen, was zusammengehört. Ich habe das jetzt unmittelbar erlebt. Die Grenze zu Bayern ist durch das Schengen-Abkommen gefallen, man fährt ganz selbstverständlich zwischen Bayern und Tschechien hin und her. Da wächst zusammen, was zusammengehört, wie Willy Brandt das einmal formuliert hat. Andererseits gibt es aber auch in einzelnen Ländern wieder so nationale Bestrebungen, Europa sei doch zu groß. Die einzelnen Länder mucken wieder dagegen auf Wie schätzen Sie das als große Europäerin ein? Ich bin kein Politiker, lassen Sie das ... Einer der größten Gegner Europas ist ja unser derzeitiger Präsident. Aber Musik kann ja Frieden stiften Ich liebe Mozart, die »Kleine Nachtmusik« »Die laute Straße umfing mich mit selbstverständlicher Vertrautheit. Prag, in tschechischer Sprache das Femininum Praha, kann launenhaft sein wie eine Frau, setzt in den letzten Jahren mitunter ein unpassend aufdringliches Make-up auf. Aber das ist nur eine oberflächliche Schminke, ein Zugeständnis an die kommerziellen Unarten der Zeit, das wahre Anditz der Stadt läßt solche ungewollten Veränderungen gelassen über sich ergehen, mein Heimatort hat seine Erfahrungen und bleibt, was er schon immer war: unser wunderbar närrisches Prag.« Lenka Reinerovä Prag, die Goldene Stadt, die goldenen Jahre, eine goldene Zeit, in der Weltliteratur zu Hause ist: Hundert Autoren haben in dieser Stadt gewirkt, was heißt das für Sie, was bedeutet Bragfur Sie? Prag ist meine Heimatstadt, damit ist eigentlich alles gesagt. Ich bin hier aufgewachsen, ich kenne diese Stadt. Oder besser gesagt, ich kannte diese Stadt sehr gut, sie ändert sich ja kolossal, und ich hatte immer das Gefühl, diese Stadt kennt auch mich sehr gut. Es war nicht immer einfach. Als ich nach dem Krieg zurückkam in diese Stadt... die Stadt war da ... aber meine Menschen waren nicht da. Ich spreche nicht nur von meiner Familie. Eine große Anzahl, die meisten meiner Freunde, die meiner Gesinnung waren, Antifaschisten, von ihnen war niemand mehr da. Es war also sehr schwierig, sich hier wieder zu Hause zu fahlen. Ich konnte jahrelang nicht in das Stadtviertel gehen, in dem ich als Kind gelebt habe. Es ging einfach nicht. Was mir an Prag so sehr gefallen hat, sie ist eine kleine große Stadt, und weil unsere Vorfahren sie so sehr schön aufgebaut haben, dieses Zentrum, und weil wir wiederum dieses Glück hatten, dass wir durch beide Weltkriege als Stadt gut davongekommen sind ... In der letzten Phase des letzten Krieges wurden wir einmal von Bomben getroffen, paradoxerweise von amerikanischen, die glaubten, sie seien schon über Dresden, da haben sie unter sich Kirchtürme gesehen und haben einfach losgefeuert. Es ist nur ein Streifen, der dadurch gelitten hat, dieses Ernmaus-Kloster, also ist alles noch da. Eine Kontinuität ist da. Und zudem ist natürlich die Stadt, also der Kern, sehr schön, aber wiederum aufgebaut von italienischen Bauleuten, deutschen Bauleuten. Aber das Konzept von Karl IV ist ja großartig, dass er diesen Hradschin dort hinstellen ließ. Es ist eine schöne Stadt. Und diese Kontinuität empfinde ich ja nun wieder, nachdem ich mich beruhigt habe und hier wieder zu Hause bin. Städte beeinflussen eine Literatur, Menschen beeinflussen eine Literatur. Wir haben über Egon Erwin Kisch gesprochen, Sie haben irgendwann auch mal gesagt, dass Hemingway Sie beeinflusst habe ... der Reporter die Reporterin, oder was ist es, was Sie damit gemeint haben? Wir haben ja schon darüber gesprochen, ob und wie der Kisch mich beeinflusst hat. Der Hemingway ist ja sehr nahe an Kisch, wenn man das so überlegt, das ist eben diese Art, das wirkliche Leben darzustellen. Das ist alles. Das wirkliche Leben ist die eine Seite, das andere sind die Träume, Sie haben einmal berichtet von einem Traum, dass zwischen ihren Fingern plötzlich Blumen erwachsen sind... das ist wie eine Befreiung ... Das ist mir ja nicht so eines Tages eingefallen, da war ich schon lange in Einzelhaft, und Einzelhaft ist ein unnatürlicher Zustand für einen Menschen. T Ich begann mich in meiner Zelle zu fürchten, stemmte mich aus Angst gegen die Tür. Aber ich wollte nicht hinaus, im Gegenteil ich wollte mich davon überzeugen, dass sie verlässlich verschlossen ist, so eine Angst war das. Alle Farben der Sonne und der Nacht Verraten Sie mir doch bitte nicht, was im »Traumcafe«* passiert, in einem Ihrer letzten Bücher, sondern was das Geheimnis der nächsten Minuten sein wird? Das kann ich Ihnen schwer verraten, ich kann ihnen nur verraten, dass ich gegen diesen Buchtitel war, im Tschechischen heißt dieses Buch »Die Wartezimmer meines Lebens«. Viel besser! Der deutsche Verlag bestand auf diesem Titel. Da haben wahrscheinlich die Leute des Verkaufs mit hineingeredet. Für mich ist der Titel zu bombastisch. Der passt gar nicht zu mir. Es ist nicht das Geheimnis der nächsten Minuten, das kenne ich nicht. Warten scheint mir ein großes Abenteuer zu sein. Eben durch diese Unwahrscheinlichkeit und durch diese Unsicherheit, was nun passieren wird. Aber es ist eben auch ein Zustand, den man * Das Buch »Traumcafe« veröffentlichte Lenka Reinerovä 1996 im Aufbau-Verlag. 2007 kam ihr neuestes und letztes Buch »Das Geheimnis der nächsten Minuten« dort heraus. nicht verhüten kann. Es kommt immer wieder im Leben vor, dass man auf etwas oder jemanden wartet, und damit muss man eben auch fertig werden.« Warten ist ein ganz besonderer Zustand, in den man im Leben, gewollt oder ungewollt, immer wieder gerät, der uns von der ersten Stunde an begleitet, gut sein kann oder schlimm, banal oder ganz außerordentlich, ein Alpdruck oder ein aus Sehnsucht gesponnener Traum. Das Geheimnis der nächsten Minuten Jetzt warten wir, am Ende unseres Gesprächs, für das ich mich sehr herzlich bei Ihnen bedanke, auf die Schlussmusik. Was haben Sie sich ausgewählt, was soll am Schluss unseres Gespräches sein, verbunden mit dem Wunsch, dass Ihr Literaturhaus möglichst viele Besucher und möglichst großen Einfluss hat? Ich weiß es nicht, was wäre Ihr Vorschlag? Wir spielen einen Tschechen!? Dann spielen wir Antonm Dvorak, ja, »Aus der Neuen Welt«. Man wartet nicht auf ein endgültiges Ende, sondern auf die erträumte Möglichkeit eines unbekannten, zweifellos völlig andersartigen Anfangs. Das Geheimnis der nächsten Minuten * * * Lenka Reinerova starb am 27. Juni 2008 im Alter von 92 Jahren in Prag. Sie war die letzte Vertreterin der deutschsprachigen Literatur in Prag aus der Generation von Franz Kafka, Max Brod und Franz Werfel. Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus (25.01.2008) Gedenkrede von Lenka Reinerova Vorgetragen von Angela Winkler Dass ich heute und hier zu Ihnen sprechen kann, ist für mich, wie Sie mir gewiss glauben werden, ein ganz besonderes Erlebnis. Eine Jüdin aus Prag, der Hauptstadt der kleinen demokratischen Republik der zwanziger und dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieser kleine demokratische Staat, mit der langen Grenze zu Deutschland, war in den dreißiger Jahren für alle Nazigegner ein ersehntes und sogar erreichbares Asylland. Das wurde auch im großen Maße ausgenützt. In Prag lebte damals zum Beispiel der Philosoph Ernst Bloch, dessen einziger Sohn hier auf die Welt gekommen ist. Die Brüder Thomas und Heinrich Mann haben sogar die Staatsbürgerschaft zugesprochen bekommen. Aus Berlin verlegte der Prager deutschsprachige Schriftsteller Franz Carl Weiskopf die Redaktion der AIZ - der »Arbeiter-Illustrierten-Zeitung« - nach Prag. Wieland Herzfelde eröffnete hier von Neuem seinen Malik-Verlag, sein Bruder John Heartfield schuf in der tschechischen Hauptstadt eine Reihe großartiger Fotomontagen. Der Schauspieler Wolfgang Langhoff emigrierte nach seiner Freilassung aus dem KZ Börgermoor zu uns und brachte eines der ersten Bücher über den Naziterror, »Die Moorsoldaten«, aus dem KZ mit. Bertolt Brecht und Helene Weigel lebten eine kurze Zeit in Prag ebenso wie noch viele andere auch. In jener Zeit wurde in der böhmischen Hauptstadt eine große Manifestation gegen den Nationalsozialismus organisiert, sie fand in dem vielleicht größten Saal von Prag, in der Lucerna statt. Auf dem Programm stand unter anderem auch das Auftreten eines kurz zuvor aus dem KZ Fuhlsbüttel entlassenen Häftlings. Es war ein Hamburger Arbeiter, der später der Schriftsteller Willy Bredel wurde und ein Buch über das KZ schrieb unter dem Titel »Dein unbekannter Bruder«. Er wurde von den Menschen stürmisch begrüßt, sprach sehr sachlich über seine Erlebnisse und stockte mit einem Mal. Er sagte: »Jetzt weiß ich nicht, war das vor meiner ersten oder meiner zweiten Auspeitschung.« Ich war damals ungefähr siebzehn Jahre alt, und in mir stockte das Blut. Da steht ein Mann vor mir, keine Heldenfigur, ein untersetzter bescheidener Mensch. Und er wurde ausgepeitscht? Ich konnte es nicht fassen. Bald darauf erhielt ich meine erste journalistische Anstellung. Eben in der Weiskopfschen AIZ. Ich war dort, um es kurz zu sagen, das Mädchen für alles. Unter anderem oblag mir auch die Verwaltung des Fotoarchivs. Da gab es unter vielen die Aufnahme einer hübschen jungen Frau mit einem kleinen Kindchen. Das Foto war hell, und der große und der kleine Mensch sahen fröhlich aus. Nur - sie hatte dieses Kind im Gefängnis auf die Welt gebracht, das Kind wurde ihr genommen, und sie selbst wurde hingerichtet. Die Frau hieß Lilo Hermann. Wann immer ich dieses Foto aus dem Archiv hervorholte, zitterten meine Hände. Da war etwas, das ich auf keinen Fall verstehen konnte. Aber es wurde noch schlimmer. 1939 besetzte die Wehrmacht meine Heimat und machte sie zum Protektorat Böhmen und Mähren. Von diesem Tag an durften die jüdischen Bürger nicht mehr auf Gehsteigen gehen, sie durften sich in Parkanlagen auf keine Bank setzen. Sie durften keine Transportmittel benützen, keine öffentlichen Telefonautomaten, sie durften weder auf die Hauptpost, geschweige denn in ein Kino gehen. Sie durften am besten nicht sein! Meine gesamte Familie, elf Personen, wurde von den Nazis umgebracht, beginnend mit meiner Großmama, bis hin zu meiner älteren Schwester, die mit ihrem damals ungefähr sieben bis neun Jahre alten kleinen Sohn ins Gas gestoßen wurde. Ich überlebte, weil ich am Tage der Besetzung nicht im Lande weilte. Und so begann für mich das Exil. Unter anderem saß ich in Paris ein halbes Jahr in Einzelhaft, im berüchtigten Frauengefängnis »La Petite Roquette«, das es zum Glück nicht mehr gibt, danach ungefähr zwei Jahre im Internierungslager für lästige Ausländerinnen »Rieucros«. Dank der Bemühungen guter Freunde, vor allem der Schriftsteller Egon Erwin Kisch und des schon erwähnten Franz Carl Weiskopf, bekam ich ein Visum und eine Schiffskarte nach Mexiko. Unterwegs blieb ich für ein halbes Jahr in Marokko stecken. Erst war ich im Lager »Oued Zern« am Rande der Sahara, und nach sechs Monaten in Casablanca kam ich dann glücklich in Mexiko an. Dort hatte ich die große Chance, dass eigentlich gleich nach meiner Ankunft die diplomatischen Beziehungen zwischen Mexiko und der tschechoslowakischen Exilregierung in London geknüpft wurden. Und ich habe vom ersten Tag an in dieser diplomatischen Mission gearbeitet. Glücklich, dass ich wenigstens von Weitem ein kleines bisschen zum großen Kampf gegen den Faschismus beitragen konnte. Wir erhielten aus London die verschiedensten Nachrichten und eines Tages eine ganz merkwürdige. Im Schlösschen Wannsee im Westen Berlins fand eine Arbeitskonferenz statt, an der durchwegs gebildete und studierte Leute teilnahmen unter der Leitung eines Reinhard Heydrich, des späteren Vizeprotektors von Böhmen und Mähren. Dieser wurde als solcher vom tschechischen Widerstand umgebracht. Unter den Teilnehmern waren aber auch Adolf Eichmann und lauter hochgestellte Beamte. Verhandelt wurde, wie man schnell und tunlichst billig die sechs Millionen Juden Europas ein für alle Mal loswerden könnte. Dort entstand die Idee des Holocausts. Die Juden sollten also restlos liquidiert werden, was aber sollte mit den sogenannten minderwer- T tdgen Völkern geschehen, als da waren die Tschechen, Slowaken, Polen usw. Ein Vorschlag war, man sollte sie alle in irgendwelche völlig endege-nen Regionen aussiedeln oder, wenn das zu teuer käme, sie vor allem in die Kriegsmaschinerie Deutschlands einbauen und sie dabei bis zur absoluten Erschöpfung für das Dritte Reich schuften lassen. Wenn man heute über diese Dinge spricht und vor allem nachdenkt, will man sie eigentlich gar nicht glauben. Aber es sind leider Tatsachen. Damit etwas Ahnliches nie wieder auf uns zukommen kann, glaube ich, müssen wir viel mehr Verständnis für die Andersartigkeit riesiger Massen der Bevölkerung unseres Planeten aufbringen, um einem solchen Unglück, wie es in letzter Zeit der Terrorismus darstellt, rechzeitig und gründlich beikommen zu können. Denn dass wir friedlich miteinander leben wollen und können, ist vielleicht eine Selbstverständlichkeit, die allerdings unterstützt und behütet werden muss. Es scheint mir, dass wir immer noch zu wenig Verständnis für die Lebensart, die Tradition und den Glauben eines sehr großen Teils unserer Mitmenschen auf diesem Planeten aufbringen. Das geschriebene Wort sollte dabei so wirksam wie nur möglich mithelfen. Ich bin, und das ist keine Neuigkeit, der letzte deutschsprachige Autor in der Tschechischen Republik. Im Hinblick darauf, dass meine ganze Familie dem deutschen Nationalsozialismus zum Opfer gefallen ist, wurde mir diese Tatsache eine gewisse Zeitlang beinahe vorgeworfen, zumindest ungern gebilligt. Das hat sich mit der Zeit schließlich geändert, und heute finde ich viel Verständnis dafür, dass ich eine gewisse Kontinuität aufrechterhalte, und zudem glaube ich, dass wirklich jeder von uns nach seinen Möglichkeiten zum gegenseitigen Verständnis beitragen sollte. Deshalb bin ich auch sehr froh, dass meine Bücher im Laufe der letzten Jahre einen tschechischen Verleger gefunden haben und von den Lesern sehr gut und warmherzig aufgenommen werden. Ich hoffe sehr, dass ich eine bescheidene kleine »Klammer« für das gegenseitige Einandernäher-kommen geworden bin. Falls dem so ist, bin ich zufrieden. Ich bin allerdings überzeugt davon, dass wir noch mehr tun müssen, um einander möglichst gut zu verstehen. Das hat mich unter anderem dazu T veranlasst, in Prag ein Literaturhaus unserer deutschsprachigen Autoren zu gründen, denn wir haben nicht nur Franz Kafka, Werfel, Rilke und Egon Erwin Kisch, sondern den ganzen Prager Kreis mit einer Reihe sehr interessanter, nur leider in Vergessenheit geratener Autoren. Zudem wollen wir tschechischen Schriftstellern Stipendien nach Deutschland und deutschen zu uns gewähren, um ein besseres Näherkommen zu ermöglichen. Denn ich glaube, die Schrecken des Faschismus mit dem unvorstellbaren Massenmord des Holocausts haben wir zum größten Teil hinter uns gebracht. Jetzt geht es darum, das neue Unheil, den Terrorismus zu bekämpfen. Das müssen und können wir nur gemeinsam tun, jeder mit seinen Mitteln und Möglichkeiten. Es muss und wird uns gelingen, auch diesem Verbrechen den Boden zu entziehen und das Leben für uns alle besser, nutzvoll und freudig zu gestalten. Das ist es, was ich Ihnen hier und heute sagen wollte, und ich danke Ihnen, dass Sie mich angehört haben. Lenka Reinerovä, Prag Biografie Lenka Reinerovä wird am 17. Mai 1916 in Prag geboren. Sie ist die Tochter eines tschechischen Eisenwarenhändlers und einer Deutsch-Böhmin. Lenka Reinerovä wächst also in einer mehrsprachigen jüdischen Familie im Vorstadtviertel Karlin (Karolinenthal) in Prag auf und geht auch in Prag zur Schule, ins Stefansgymnasium, das vor ihr schon der Freund Kafkas Max Brod besucht. Franz Carl Weiskopf - als F. C. Weiskopf und Literat bekannt - bietet ihr zunächst eine Tätigkeit als »Mädchen für alles« bei der »Ar-beiter-Illustrierten-Zeitung« - der AIZ - an und ermuntert sie auch, Reportagen zu schreiben. Unter dem Eindruck von Hitlers Machtübernahme wird sie Kommunistin. Als die deutsche Wehrmacht 1939 in die Tschechoslowakei einmarschiert, kehrt sie nach Warnungen ihrer Schwester von einer Auslandsreise nach Bukarest als damals 2 2-Jährige nicht mehr in ihre Heimatstadt Prag zurück. Sie flieht nach Paris und wird dort als missliebige Ausländerin für sechs Monate in dem Frauengefängnis »La Petite Roquette« festgehalten. Dann kommt sie in das Internie- T rungslager »Rieucros« in Südfrankreich, das in der Vtchy-Zone liegt, und wird später erneut in Marseille interniert. Weiskopf setzt sie auf die Liste der »American League of Writers«; sie erhält dadurch den zur Ausreise nach Mexiko benötigten Stempel. Ihr FlüchtlingsschifT wird aber schon in Casablanca gestoppt. Reinerovä wird in das berüchtigte Wüstenlager »Oued Zern« gebracht, aus dem sie jedoch fliehen kann. Die nächste Station ihrer Flucht ist Mexiko. Dort sieht sie ihren späteren Förderer, die Reporterlegende Egon Erwin Kisch, wieder und trifft auch Anna Seghers, Weiskopf und die anderen kommunistischen Autoren, die in der Organisation »Freies Deutschland« zusammenarbeiten. Dort lernt sie das Maler-Ehepaar Frida Kahlo und Diego Rivera kennen, ebenso den Emigranten Wieland Herzfelde und den Philosophen Ernst Bloch. Sie trifft in Mexiko auch den jugoslawischen Arzt und deutschen Schriftsteller Theodor Balk (»Das verlorene Manuskript«), den Reinerovä 1943 in Mexiko heiratet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrt sie nach Europa und in das zerstörte Belgrad zurück. Dort wird 1946 ihre Tochter Anna geboren. Ihre jüdi- sche Familie, elf Familienmitglieder, unter ihnen ihre Großmutter, Mutter und Schwester, haben den Holocaust nicht überlebt. Ernest Hemingway ist das literarische Vorbild von Lenka Reinerovä, die in der Einzelhaft in Paris mit dem Schreiben beginnt: Detektivgeschichten für Kinder, Märchen und Liedertexte. 1948 kehrt sie in ihre Heimatstadt Prag zurück und arbeitet als Schriftstellerinjournalistin und Übersetzerin. Sie wird während der stalinistischen Säuberungen rund um den Slänsky-Prozess inhaftiert, von den eigenen Genossen. Als Häftling Nummer 2814 sitzt sie fünfzehn Monate wegen Hochverrat, Zionismus und Spionage für den Klassenfeind, wird aber erst 1964 rehabilitiert. Nachdem die sowjetischen Truppen den Reformkurs Alexander Dubceks im »Prager Frühling« durch Panzer niedergewalzt haben, bekommt Reinerovä Schreibverbot und darf nicht länger Chefredakteurin der deutschsprachigen Monatsschrift »Im Herzen Europas« sein. Sie wird aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen und arbeitet als Simultandolmetscherin. Mit dem Fall der Grenzen wird die Prager Autorin jedoch wiederentdeckt und publiziert ihre Werke schon ab 1983 im Aufbau-