Sie hatten zwei Jahrzehnte Schreibverbot. Aber noch einmal zurück in diese Nazi-Zeit. Sie waren in Frankreich und sind dann also ständig auf der Flucht gewesen und weitergegangen nach Mexiko, sind zwischendurch auch mal in der Sahara gewesen, das heißt, ein typisches Emigrantenschicksal, auf der Flucht, ständig auf der Flucht. Na ja, Sie sagen mit Recht, ein typisches Emigrantenschicksal. Nach dem Krieg waren es ja und sind es eigentlich bis heute Menschen, die aus irgendwelchen, hauptsächlich politischen Gründen ihr Land verlassen müssen, die kommen dann irgendwohin und bleiben dann tunlichst dort. Aber es war ja Krieg, das darf man nicht vergessen. Es war Krieg! Und die Emigranten in Frankreich, unter denen eine Riesenanzahl deutscher Emigranten war, mussten ja fliehen. Die wussten, da war noch dieser Zipfel von Frankreich, der unbesetzt war, aber man hat sich keine Illusionen gemacht. Man wusste doch, dass das vorübergehend ist. Und ich war damals noch sehr jung. Ganz allein. Aber ich hatte und ich habe sehr gute Freunde, verlässliche Freunde. In Frankreich, als ich da in diesem Frauenlager »Rieucros« war, haben sich in den USA zwei meiner Prap-er viel älteren Freunde, mein einstiger Chefredakteur, der deutschsprachige Schriftsteller Franz Carl Weiskopf, der mein erster Chefredakteur war, und mein lieber Egon Erwin Kisch - die haben sich also für mich in Amerika eingesetzt. Und zwar sehr energisch. Die »American League of Writers« hat sich damals um ihre Kollegen bemüht, das heißt, die Schriftsteller - aber das war ich bei Weitem nicht - aus diesem noch freien Zipfel Frankreich um Marseille herum tunlichst schnell herauszubekommen, ehe auch dieses Stück besetzt wird. Das betraf Feuchtwangerund solche Leute. Nun ja, meine zwei Prager Freunde haben ihre amerikanischen Kollegen überredet und haben gesagt, wir wissen, da gibt es ein junges Mädchen, das wir aus Prag gut kennen. Kurzum, die haben mich auf ihre Liste gesetzt und die Uberfahrt aus Europa, aus Frankreich, nach Mexiko gezahlt. Damals ist man ja nicht geflogen. Es war ja auch Krieg. Für mich war Mexiko abenteuerlich. Man wusste doch damals wenig - einen Film habe ich mal gesehen über Mexiko -, aber das war auch alles. Und der war nicht sehr ermunternd, weil da sehr viel geschossen wurde, was nicht mein Geschmack war. Ein Land der Revolutionäre ... ... ein Land der Revolutionäre, und was ich natürlich nicht wusste, ein ungeheuer großzügiges Land, ein Asylland par exemple. Was zum Beispiel hoch anzurechnen ist. Die Mexikaner haben ja mit den Spaniern nicht die besten Erfahrungen gemacht. Aber nachdem der Bürgerkrieg in Spanien schlecht ausgefallen ist, waren Hunderte, wenn nicht Tausende Spanier in Mexiko. Sie haben sie mit offenen Armen aufgefangen. Ebenso die europäischen Flüchtlinge. In Mexiko waren Flüchtlinge aus allen europäischen Ländern. Mein Schicksal ist es, eine Uberlebende zu sein. Kann man in dem Sinne sagen, dass Egon Erwin Kiscb, ihr großer Reporter- und Journalistenkollege, Ihnen auf diese Arzt und Weise das Leben gerettet hat? Ich glaube, zum großen Teil kann man das sagen, ja! Man weiß ja nie, aber ich denke schon. Ich kann mich auch an die erste Phrase von Kisch erinnern. Als ich also endlich in Mexiko war, war der erste Satz, den er mir sagte: »Wir haben uns >zerfranst< für dich, aber ich habe nicht geglaubt, dass ich dich noch einmal sehen werde.« Egon Erwin Kisch - was war das für eine Person? Kafka haben Sie ja nicht mehr kennengelernt. Als er starb, waren Sie erst acht Jahre alt. Eben, ich war erst acht Jahre alt. Das habe ich irgendwo geschrieben. Ich finde das so komisch: Da war mal eine Literaturtheoretikerin aus Deutschland bei mir und wollte mit Gewalt wissen, wie das zwischen Kafka und mir war. Und als ich sagte: »Hören Sie, ich war erst acht Jahre alt, als er starb«, sagte sie darauf: »Nun gut, aber was für einen Eindruck hat er auf Sie gemacht?« (lachend) Oder wie viel Bücher haben Sie von ihm gelesen ... Das hat sie mich nicht gefragt... Aber von den großen Namen - Max Brod, Franz Werfet, Egon Erwin Kisch - haben wir gerade gesprochen. Lenka Reinerovd, Ihr Name gehört natürlich dazu ... Das weiß ich nicht! ...das darf ich aber behaupten! - Wen haben Sie gekannt, wen ein bisschen weniger, und mit wem hatten Sie zu tun? Wie ich schon angedeutet habe, Weiskopf war mein erster Chefredakteur. Er ist nach Prag gekommen, nachdem die Nazis die Macht übernommen haben. Er war Chefredakteur der ATZ, der »Arbeiter-Illustrierten-Zeitung«, die nach Prag übersiedelte. Und ich bekam bei ihm als blutige Anfängerin meinen ersten Posten im Journalismus als »Mädchen für alles«. Ich wollte Sie gerade fragen, erinnern Sie sich noch an Ihre erste Reportage, Ihren ersten Artikel, Ihre erste Nachricht? Wie oft kann man neu beginnen Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Kann ich. Ich war ja engagiert - wie gesagt - als »Mädchen für alles«, Korrespondenz, auf der Schreibmaschine tippen, Telefongespräche aufnehmen und so weiter und so weiter, also so eine Art Sekretärin - eben alles. Wir waren damals alle junge Menschen. Die meisten Menschen in der Tschechoslowakei waren sehr engagiert. Wir wussten ja, was auf uns zukommt. Und wir haben in unserem deutschen Grenzgebiet versucht, gegen diesen zu erwartenden Einmarsch etwas zu tun. Und einmal kam ich von so einer Expedition zurück und erzählte meinem Chefredakteur, was ich so alles gesehen und erlebt hatte und wie sich das alles so abgespielt hat, und er sagte: »Weißt du was, jetzt pack dich zusammen, geh nach Hause, und das, was du mir jetzt erzählt hast, das schreib mal auf, und dann bringst du es mir.« Also ging ich nach Hause, schrieb das einmal, zweimal, wie das so ist am Anfang, und brachte es ihm am nächsten Tag: »Das habe ich geschrieben«, und er sagte: »Zeig!« Und ich stand hinter ihm und habe zugeschaut, wie er gelesen hat. Und er las, und dann blieb er plötzlich an einer Stelle stehen. Da hab ich geguckt, wo ist das? Es war im Winter. Ich habe an dieser Stelle die Winterlandschaft beschrieben, den glitzernden Schnee, den blauen Himmel und einen schwarzen Raben und so weiter, und Franz Weiskopf drehte sich zu mir um und sagte: »Bist du ganz sicher, dass du keine Farbe des Spektrums ausgelassen hast?« Das merk ich mir bis heute, dass man mit Eigenschaftswörtern etwas sparsam umgehen muss - nicht? Das waren so meine Lehrer, der Weiskopf. Und ich höre noch immer, wie mich der Kisch gelehrt hat. Eigentlich hat er mich nicht richtig gelehrt; ich habe einfach erst in Frankreich und dann in Mexiko neben dem Kisch gelebt, habe mir nur angeguckt und mitbekommen, wie er das macht. Hat er zu Ihnen gesagt: »Schreib das auf, Lenka!«? (Reinerovä lacht) Nein, das hat er mir nicht gesagt. Aber er war da überhaupt sehr sparsam mit Ratschlägen. Er konnte aber auch, muss ich sagen, sehr gefährlich sein. Ich habe einmal erlebt, das war noch in Frankreich, wie ihm ein deutscher Kollege sein Buch brachte, also das Manuskript, und er hat da wirklich keinen Satz stehen lassen, hat ihm gesagt: »Geh nach Hause, setz dich hin und schreib was anderes!« Also, wenn er der Ansicht war, es geht nicht, dann hat er's gesagt. Ich habe ihm eher zugesehen, wie er arbeitete, ohne dass er mir oder jemandem dazu etwas sagte. Und wie war das, wie hat er gearbeitet? Er war ja eigentlich, wie es hieß, ein »rasender Reporter«. Er war aber gar nicht »rasend« in der Arbeit, er war rasend, weil er durch die Welt gerast ist. Man sieht es ja noch, er hatte ja diese sehr barocke Handschrift. Er hat alles mit der Hand geschrieben, und seine Frau hat es dann abgetippt. ... und es gab noch keine Computer und keine richtigen Telefone oder Handys, und die Presseagenturen, das waren noch »Ticker«. Das war alles noch nicht so modern wie heute - ein ganz anderes Reporter-Dasein. Ein ganz anderes, und er malte also diese Schnörkel um seine Worte. Sie sind kein Zufall. Er dachte und überlegte dabei und malte seine »Spiralen«, mit der Hand geschrieben, und sie hat das dann abgetippt. Und in Mexiko, in Frankreich auch. Ständig war jemand da bei den Kischs. Man ging vorbei und ging halt eben rauf. Wenn er schrieb, ließ er sich nicht stören, saß in seinem Zimmer und schrieb. Und da waren ein oder zwei Kaffeegäste schon, und Kisch saß im anderen Zimmer, und da plötzlich konnte es sein, dass der Egon erschien, mit einem Blatt Papier in der Hand, und sagte mitten in das Gespräch, das dort stattfand: »Seid mal ruhig, ich will euch etwas vorlesen.« Und las, sagen wir mal, zehn Sätze vor und beobachtete scharf die Reaktion der Zuhörenden und sagte mir eines Tages: »Wenn du etwas geschrieben hast und du liest es ein paar Leuten vor und du merkst, dass einer unter ihnen nicht mitgeht oder den Kopf schüttelt oder so irgendetwas, dann weißt du, da muss ich noch mal nachsehen. Das ist vielleicht nicht in Ordnung.« Was haben Sie, würden Sie sagen, als Lenka Reinerovd von Egon Erwin Kisch gelernt? Was ist das, was Sie übernommen haben, was Sie für ihr eigenes journalistisches, später literarisches, schriftstellerisches Leben verwendet haben? Ich weiß es nicht, es ist nur so: Es ist vielleicht kein Zufall, ich denke mir doch eigentlich kaum etwas aus. Ich schreibe einfach nieder, was ich erlebt habe, was auf mich zugekommen ist. Ich wüsste nicht, wie ich mich selbst bezeichnen soll. Bin ich eine Reporterin? Nein! Ich fahre ja nicht irgendwo hin, um ein Ereignis oder eine Person aufzuzeichnen. Aber ich glaube, diese Freude an der Niederschreibung der Wirklichkeit, das habe ich vielleicht von dem Kisch gelernt oder geerbt. Je älter ich werde, desto mehr bin ich mir dessen bewusst. Es ist kein Zufall, dass ich eben nicht das Bedürfnis habe, mir etwas so oder so auszudenken nach der Art und Weise wie ... der hatte dann mit der anderen Person diese und jene persönlichen Beziehungen und Komplikationen ... Nein, was mich interessiert, ist, was geschehen ist und was geschieht, was es für einen Einfluss auf die Menschen hat, und das mag ich vielleicht von ihm haben. Und es interessiert Sie bestimmt auch, was weitergegeben wird an die nächste Generation der Journalisten und Schriftsteller, denn deshalb haben Sie hier in Prag das Literaturhaus der deutschsprachigen Schriftsteller und Autoren gegründet, sozusagen das große Erbe von Lenka Reinerovd. Was ist Ihre Absicht, Ihre Motivation, was in Ihr Gefühl und Empfinden, wenn Sie diesen Plan in die Wirklichkeit umsetzen? Und es gibt ja dieses Literaturhaus schon. Sie haben das schon irgendwie angedeutet, dass mir das gelungen ist. Das hebt viele meiner persönlichen und jetzt physischen Schwierigkeiten auf. Wenn ich daran denke, dann kann ich nur froh sein. Begonnen hat das alles im Jahr 1968, also im »Prager Frühling«. Da war eine Gruppe von Menschen, nicht nur ich, die sich den Kopf zerbrochen hat, eigentlich die Absicht hatte, ein Museum für die Prager deutschsprachigen Schriftsteller zu gründen, nicht nur für die vier, fünf Prominenten. Es gibt ja eine große Reihe sehr guter und interessanter deutschsprachiger Autoren hier, die in Vergessenheit geraten sind. Nun, der »Prager Früriling« wurde, wie bekannt, niedergetrampelt, niedergerollt mit den Panzern. Also konnte daraus nichts werden. Ein paar Jahre später, als sich wieder einmal, wie so oft, die politische Lage von Grund auf verändert hat, bin ich auf diesen Gedanken zurückgekommen - aber leider, es war von der ursprünglichen Gruppe eigentlich niemand mehr da. Da war noch eine Zeitlang Eduard Goldstücker, dieser bekannte Kafkologe. Aber der ist ja inzwischen auch gestorben - leider, er war ein guter Freund von mir. Noch aus Vorkriegszeiten. Und da habe ich mir in den Kopf gesetzt, es muss trotzdem sein. Es war am Anfang gar nicht leicht, mit dieser Idee zu hausieren. Erst musste ich ja irgendwelche Menschen finden, die das mit mir machen. So etwas kann man ja nicht allein machen. Und es gab am Anfang gar nicht viel Verständnis für diese Konzeption. No, mit der Zeit ist mir das gelungen. Ein sehr großer Mithelfer wurde mit der Zeit - das ist ein großer Mithelfer, den ich schon viele Jahre kenne -František Černý, der eine Zeitlang tschechoslowakischer Botschafter in Deutschland war. Jetzt haben wir es endlich, und mit der Zeit habe ich mir überlegt: Ein Museum ist ja etwas, das zurückblickt, und wir haben also ein Literaturhaus für deutschsprachige Schriftsteller gegründet. Mein Anliegen, und das haben meine Freunde und Mitarbeiter übernommen, mein Anliegen ist in dieser unserer verrückten Welt - glaube ich - ein Rezept für die Gesundung. Und ein sehr wichtiges, scheint mir, ist die Steigerung des ge- genseitigen Kennenlernens. Das ist wahnsinnig wichtig. Und das wollen wir also tun. Wir haben auch Gott sei Dank Stipendien und wollen tschechische Schriftsteller, tunlichst junge, nach Deutschland schicken und deutsche Schriftsteller bei uns in der tschechischen Republik aufnehmen - also diese Verbindung herstellen. Für mich ist das Wichtigste eben - wie ich schon betont habe -, dass unsere Prager Autoren wieder gelesen werden. Wir graben sie aus, dass wir sie wieder ins Bewusstsein bringen. Das ist eine wichtige Aufgabe. Aber meine Grundidee ist, beizutragen zur gegenseitigen Verständigung und Abschaffung aller Vorurteile und was es da sonst noch so gibt. Dazu ist Literatur ein wunderbares Mittel, um so etwas zu erreichen, aber auch Musik kann über die Grenzen hinweg Verbindungen schaffen. Wenn Sie Musik hören ... oder anders gefragt, welche Musik liebt denn Lenka Reinerovd, die an der Moldau zu Hause ist? Meine Mutter war sehr musikliebend und hat mich schon als Kind in Konzerte mitgenommen. Zur Verständigung ist, glaube ich, Musik ein bisschen ein zu abstraktes Mittel, und ich bin also aufgewachsen und erzogen worden in der At- mosphäre klassischer Musik. Und für diese populäre Musik bin ich eigentlich schon zu alt. Das ist für mich nicht Musik, das sind für mich eher Geräusche. Und ich kann auch nicht verstehen -aber, wie gesagt, ich bin auch schon sehr alt -, warum die Menschen sich dabei wie im Krampf herumdrehen müssen und so. Ich weiß es nicht: Als großes musikalisches Ereignis, als ich ein junges Ding war, kam erst der Jazz auf - und der Tonfilm mit Musik, also Jazzmusik. Und in Prag gastierten Armstrong und diese Leute. Und das war ein Ereignis! Das war für uns junge Menschen damals wahrscheinlich ebenso wichtig wie für die jungen Menschen von heute diese für mich merkwürdigen Geräusche. Und auch zu Armstrong kann man solche Verrenkungen machen, wie Sie sie gerade geschildert haben. Ja, aber das wurde nicht gemacht. Das fiel niemandem ein. Aber Swing war doch auch Bewegung? Ja, Bewegung, aber eher Tanz, nicht dieses Krampfartige. Nun, jede Zeit hat ihren Ausdruck. ... ihre eigenen Verrücktheiten ... ... wenn ich dann im Fernsehen sehe, wie da im Zuschauerraum Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen, die gleichen Bewegungen machen, das wäre uns doch nie eingefallen. Das ist etwas Neues, ich muss es ja nicht akzeptieren. Wollen wir für Sie Louis Armstrong spielen? Sehr gut! »What a wonderful world?« Wunderbar! Wir haben die großen Namen schon erwähnt: Franz Kafka, Werfet, Rilke, Egon Erwin Kisch. Darüber haben Sie einiges erzählt. Was ist für Sie das Erbe dieser deutschsprachigen Literatur in Prag, das Erbe für Tschechien und das Erbe für Deutschland? Also ich habe »Erbe« als Wort erst mal nicht gern, muss ich dazu sagen, aber es ist einfach im Werk dieser Schriftsteller sehr viel Lokales enthalten. Da kann man also auf Kafka zurückgreifen und auf Werfel, der diese »Barbara« geschrieben hat, nicht, das ist da. No, das ist eben ein gutes Stück Literatur. Es liest sich schön, es hat Gedanken, und es ist natürlich auch ein Bild seiner Zeit. Warum ist dieses Prag als Stadt, diese gesamte Region, dieses Böhmen auch ein derart guter Humus gewesen für Literatur, denn darauf ist ja wirklich viel gewachsen? Das hängt, glaube ich, mit der geografischen Lage zusammen. Ich habe mich immer geärgert, wenn wir bis vor kurzem noch als Osteuropa bezeichnet wurden. Das ist doch die Mitte Europas ... Das Mitteleuropa. Man muss sich nur die Karte anschauen. Und es ist natürlich den Einflüssen der Nachbarländer ausgesetzt. Das große Deutschland, das nicht so große Osterreich, aber das kulturell interessante Osterreich und die slawischen Länder. Es ist alles da. Und ich wehre mich immer, wenn die Rede von dem »multikulturellen« Prag ist. Ich kann diesen Ausdruck nicht leiden. Multikulturell, das ist irgendwie eine Schablone. Und dann spricht man also von der tschechischen, deutschen und jüdischen Kultur in Prag. Da habe ich auch etwas dagegen. Die tschechische Kultur ist hier zu Hause. Das ist klar. Die deutsche, was von unseren einstigen Mitbürgern so negiert wird, die hatte ja in diesem Land in Prag zwei ständige deutsche Theater, eine deutsche Universität, ein deutsches Ökonomicum, eine ganze Anzahl deutschsprachiger Tageszeitungen. ... auch heute noch deutschsprachige Zeitungen und deutsche Theaterwochen ... ... ja, aber kein ständiges Theater. Das gibt es nicht. Ich kann mich nicht erinnern, muss mich auch nicht erinnern, weil es das nicht gab: ein jüdisches Theater, Keine jüdische Philharmonie, das gab es alles nicht. In der tschechischen und deutschsprachigen Kultur gab es Autoren und Künstler solcher Herkunft und dieser Herkunft. Aber sie schrieben Deutsch oder sie schrieben Tschechisch. Es gibt ein einziges Buch, der Autor heißt Jiří Langer, Bruder des ansonsten bekannten Schriftstellers František Langer, der in Hebräisch oder Jiddisch ein Buch geschrieben hat, das hier nicht bekannt ist. Aber das ist alles. Also, es gab und gibt die tschechische Kultur, es gab die deutschsprachige, und wie gesagt, die Autoren waren dieser oder jener Herkunft. Aber auch in dem Werk deutschsprachiger Autoren jüdischer Herkunft gibt es verschiedene Themen. Das Jüdische ist auch da. Aber das gibt es bei den tschechischen auch. Wer hat denn den »Golem« geschrieben? Zum Beispiel Meyrinck, der kein Jude war, nebenbei. Also, es ist hier dieses Miteinander, das es hier gegeben hat. Das hat ja sehr gute Früchte gebracht und könnte, so hoffe ich, in Zukunft wieder gute Früchte bringen. Im Deutschen Bundestag wird Ihre Rede* vorgelesen. Was ist es, was Sie dem deutschen Volke, das ist ja die Volksvertretung, dem Deutschen Bundestag sagen wollen? Die Idee der kulturellen Vermittlung, der Annäherung der beiden Völker oder ein Appell an die beiden Völker? No ja, ich glaube wir haben so oder so, die wir jetzt noch leben, wir sind ja schon weniger, wir haben den Faschismus, mit allem, was er so brachte, erlebt. Wir haben den Holocaust überlebt, etwas, was sich kein normaler Mensch je vorstellen konnte. Ich glaube nicht, dass wir aus all dem Malheur schon raus sind. Es gibt ja neue Erscheinungen in dieser Welt, die nicht weniger schlimm sind. Terrorismus zum Beispiel, sodass ich glaube, mich befremdet oder beunruhigt, das ist das richtige Wort, es gibt doch einen ganz * Anlässlich des Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wurde am 2 5. Januar 2008 im Deutschen Bundestag von der Schauspielerin Angela Winkler eine von Lenka Reinerova verfasste bewegende Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus vorgetragen - und in diesem Buch erstveröffentlicht. (Anm. des Herausgebers) großen Teil der Menschheit, den wir eigentlich bis heute nicht verstehen. Ich, aber da bin ich nicht allein, ich kann diese jungen Selbstmordattentäter nicht verstehen. Ich kann nicht verstehen, dass es das Ideal eines jungen Menschen ist, sich selbst umzubringen und tunlichst viele Menschen »mitzunehmen«. Ich kann Mütter nicht verstehen - ich hab' es im Fernsehen wiederholt gesehen - die sagen, sie sind stolz auf diese Art. Ich habe mal eine Frau gesehen, das kann ich nicht vergessen, eine Mutter, deren Sohn ein solcher Selbstmordattentäter war, der sich mit vielen Menschen zusammen umgebracht hat, und sie trug ein Foto ihres zweiten jüngeren Sohnes und sagte, Sie hoffe nun, er wird dasselbe tun. Da kann ich nicht mitkommen, das ist eine völlig andere Gesinnungsart. Ich weiß gar nicht, wie man das bezeichnen sollte. Das sind die extremen Fälle. Aber es gibt eine riesige Anzahl von Menschen auf dieser relativ kleinen Erdkugel, die eine völlig andere Tradition, einen völlig anderen Glauben, eine völlig andere Vergangenheit, eine völlig andere Gegenwart haben. Und ich glaube - vielleicht ist das eine Utopie -, dass man versuchen muss und dass wir in dieser sogenannten westlichen Welt klug und gebildet genug sind, mit diesen Menschen einen richtigen Kontakt zu finden. Dass wir miteinander erst gut sprechen können, um einander zu verstehen. Und das kann wahrscheinlich nicht nur die Aufgabe der Spitzenpolitiker sein. Das muss mitgemacht werden.