baren und doch nicht flattrigen Schutzumschlag die CD zum Herausnehmen und Hören befindet, und das sich von außen doch nicht von einem Buch unterscheidet. Nun liegt der zweite Band derneuen Reihe GEHÖRT GELESEN im Wieser Verlag vor Ihnen. So wird das Einsame zum Gemeinsamen - beim Lesen, Nachhorchen und Hinhören. Es GEHÖRT einfach GELESEN. Mit dem Gespräch Peter Handke und Michael Kerbler im Band 1 gemeinsam mit Öl - dem Kultursender Österreichs - bestanden wir unsere Feuerprobe. Mit dem Gespräch Lenka Reinerova und Norbert Schreiber im Band 2 gemeinsam mit hr2 Kultur -dem Kultursender Deutschlands - können wir getrost »über die dunklen Brücken gehen« (Kafka), denkt Ihr Lojze Wieser. Närrisch an das Leben glauben Soll ich ein Taxi nehmen? Nein, ich wähle die Straßenbahn, Linie 9, stadtauswärts, um zu Lenka Reineroväs Wohnung in der Pleniska-Straße zu gelangen. In bekannten wie in fremden Städten wähle ich immer dieses alte Verkehrsmittel, wenn vorhanden, um eine größere Nähe zu den Orten und ihren Menschen zu gewinnen. Die Geografie der Stadt ist besser erkundbar. Und sie rattern auch so schön, diese Bahnen, machen Geräusche und bimmeln, als alte Vehikel der Schiene. Alte Häuser steilgegegiebelt Hohe Türme voll Gebimmel In die engen Höfe liebelt Nur ein winzig Stückchen Himmel Rainer Maria Rilke Man atmet das alltägliche Leben der anderen mit ein. Teilt ihre Gerüche und Geschmäcker, abzulesen zum Beispiel an ihrer Kleidung. Über »böhmischen Volkes Weise« Magst du auch sein weit über Land gefahren fallt es dir doch nach Jahren alles wieder ein. Rainer Maria Rilke Prag ist die Stadt mit »poetischer Lizenz« (Egon Erwin Kisch). Am Vormittag habe ich mit dem literarischen Reiseführer »Prag« von Hans Zimmermann, dem Berliner Literaturwissenschaftler, einen ausführlichen Rundgang durch die Goldene Stadt absolviert, in der es »brodelt«, »werfelt« und »kischt«, aber die Geschichte der tschechischen Literatur reicht ja doch weiter zurück als nur bis in die Anfänge des letzten Jahrhunderts. Ins 9. Jahrhundert, als die Schriftdenkmäler entstanden sind, in altkirchen-slawisch verfasst, bis ins 11. und 12. Jahrhundert, als böhmische Glossen in lateinischer und hebräischer Handschrift erscheinen. Um 1300 herum entwickelt sich dann die eigentliche böhmische Literatur, mit den epischen Kompositionen in Versen, den Chroniken, Liedern und Legenden, den Traktaten und Postillen aus der Jan-Hus-Zeit im 15. Jahrhundert. Jiří Melantrich, Lutheraner und Freund Melan-chthons, gilt als Begründer der tschechischen Buchdrucktradition. In Ihrem Buch »Es begann in der Melantrichgasse« hat Lenka Reinerová darüber geschrieben. Ihre erste eigene Wohnung lag in der Prager Melantriska Nummer 7, dort wo die Kischs ein paar Häuser weiter wohnen, der im französischen und mexikanischen Exil ihr Freund und Förderer wird. Immer wieder geht mein Blick wie magisch angezogen zur »Burg«, zum Hradschin, den Karl IV einst erbauen ließ und Hans Christian Andersen so beschrieb: Doch sehe ich noch den Hradschin im Sonnenglanze strahlen hoch über blühenden Feldern und herrlichen Baumgruppen erhaben. Du schöner Morgen! Prag hat ja doch so viel Schönes und Eigentümliches. Du frischer, duftender Morgen! Verwische alle grauen und unschönen Erinnerungen. Hans Christian Andersen Während die Straßenbahn dahinrattert, die Prager Männer und Frauen, Jungen und Mädchen eilig ein- und aussteigen, wird eine blasse Erinnerung aus der Wendezeit wieder in mir wach, damals konnte ich das nationale Gedenkheiligtum, unterirdisch gelegen und von der Öffentlichkeit abgeschirmt, besuchen. Welche gedruckten Dokumente, erinnere ich mich, mögen die toten Staat- smänner hinterlassen haben, die in der nationalen Gedenkstätte im dritten Bezirk Prags, im Stadtteil Shivkov, begraben liegen, dort wo die letzten Führer der kommunistischen Partei, Klement Gottwald, Staats- und Parteichef Antonin Novotny und Ludovik Svoboda, in Sarkophagen ihre letzte Ruhestätte fanden. 200 Plätze wären noch frei dort. Der Kommunismus hat an seine Zukunft und die seiner Führer ganz besonders unerschütterlich geglaubt und längerfristig großzügig vorgeplant. Der Kommunismus, in Marmor erstarrt und für immer begraben. Für immer...? Gott war guter Laune: Geizen ist doch wohl nicht seine Art Und er lächelte: da ward Böhmen reich an tausend Reizen. Rainer Maria Rilke So reimt Rilke. Prag - die Reizende. Die Stadt an der Moldau, die Stadt der Brücken und des Hrad-schins. Hier wohnen Menschen, die »über dunkle Brücken gehen« (Kafka). Ja, sie ist keineswegs nur die liebenswerte, auch die magische, die düstere: »Mütterchen Prag hat Krallen«, schrieb der junge Kafka in einem Brief. Ja, sie lässt auch mich nicht mehr los, so wie mich die Chiffre »1968« mit dem Einmarsch der Sowjets und den Geschehnissen auf dem Wenzelsplatz nie mehr losließen, Nelken in einem Panzerrohr, nie werde ich als Journalist dieses Bild aus meinem Gedächtnis tilgen können. Heinrich Boll, zu jener Zeit in Prag ein Augenzeuge, spricht vom Ende des »Prager Frühlings« »Das Modell einer Hoffnung ... wurde hier zerstört.« »Was Sie gestehen sollen?« wiederholte er, »Ja, du meine Güte, doch Ihre Verbrechen. Hochverrat und Spionage für den Klassenfeind, Kontakte im Westen, Umtriebe in Jugoslawien, das alles. Packen Sie ordentlich aus, ich protokoliere, Sie unterschreiben, und wir schicken Sie nach Hause. Klar?« »Warum sagen Sie mir so etwas? Das ist doch purer Unsinn« Lenka Reinerovä Die Dächer Prags glitzern im Winter-Sonnenlicht, es ist Ende Januar, der Himmel ist heute blassblau geblieben, und der weiße Rauch kräuselt aus den hohen Schornsteinen über den goldenen Dächern an der Moldau und zieht zum Horizont hinter den Laurenziberg. Die ausländischen Touristen haben die Stadt noch nicht be- setzt. Gerade habe ich im Literaturhaus deutschsprachiger Literaten in Prag einen wunderbaren Morgenkaffee zu mir genommen und an der Karlsbrücke die Ausstellungstücke über das Prag der frühen Jahre besichtigt. Inzwischen ist das Literaturhaus ja weitergezogen, und der gute Hausgeist Lucie Cernohousovä, die als Germanistin ein perfektes Deutsch spricht, hat mir erklärt, welche Ziele das Literaturhaus hat: »Die Grundidee ist, ein Literaturhaus zu schaffen, das Prag bisher noch nicht hat. Das Literaturhaus soll der Öffentlichkeit die deutschsprachigen Autoren vorstellen, die auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik gelebt und gewirkt haben. Der Stiftungsfonds will damit zum harmonischen Zusammenleben einzelner Nationalkulturen in Europa beitragen. Es geht um einen Weg zur Wahrnehmung und Wiederbelebung des Kulturerbes der deutschsprachigen Literatur aus den böhmischen Ländern. Hier gehören außer Franz Kafka weitere Namen wie Max Brod, Franz Werfel, Egon Erwin Kisch und Rainer Maria Rilke dazu. Diese Literatur wird auch durch andere Autoren repräsentiert: Johannes Urzidil, Josef Mühlberger, Rudolf Fuchs, Paul Leppin und viele andere. Die Nachkriegszeit bringt noch weitere Autoren: Libuše Moníková, Jiří Gruša, Jan Faktor, Alena Wagnerová, Michael Stavaric.« Das Literaturhaus deutschsprachiger Autoren bietet thematische Literaturveranstaltungen und Diskussionsabende. Geplant sind auch regelmäßige Besuche internationaler Schriftsteller. Sie sollen den geistigen Austausch über die Grenzen hinweg fördern und die multikulturelle Tradition Prags wiederbeleben. Stipendien für einheimische Schriftsteller sowie literarische Residenzen für Autoren aus dem Ausland werden jährlich vergeben. Was für ein Schatz! Die Bibliothek des Prager Literaturhauses ist die vollständigste Sammlung eigener Art in der Tschechischen Republik. Den Lesern stehen rund tausend Bände Primär- und Sekundärliteratur zum Thema Prager deutsche Literatur zur Verfügung. Das Prager Literaturhaus soll für alle, die der Literatur nicht gleichgültig gegenüberstehen, offen sein; den Studenten, Professoren, Germanisten und Literaturliebhabern aus dem In- und Ausland. Das Jahresprogramm reicht von »Gustav Meyrink und sein jüdisches Prag« über ein Kisch-Sym- posium bis hin zu einem Treffen der Prager Deutschen in Prag. Das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren wurde im Jahre 2004 von Lenka Reinerová, Kurt Krolop und František Černý gegründet. Reinerovás Literaturbaby wächst und gedeiht. Lenka Reinerová ist die Kronzeugin der Prager deutschen Literatur. »Man muss Tscheche, Deutscher oder Jude sein«, sagt Peter Demetz über sein Prag. Lenka Reinerová war alles, in einer Person, vor allem Europäerin, mit einem unerschütterlichen Glauben an das Gute, an die Gleichheit und die Gerechtigkeit. Sie hat die letzten Tage Habsburgs erlebt, Masaryks Erste Republik, die deutsche Besatzung, die erstarrten Jahre im Kommunismus und das Scheitern des »Prager Frühlings«, die samtene Revolution und heute den wuchernden, von ihr nicht gerade geliebten Kapitalismus. Und die Blöcke, sie zerbrachen. Unter den berstenden Blöcken meines, auch meines Flusses kam das befreite Wasser hervor. Ingeborg Bachmann Lenka Reinerovä hat als Exilantin ein Vagabundenleben gelebt. »Herr Pollak, hängen S' die Fahne raus, die Daitschn sind da.« Diesen Satz hat Peter Demetz in Prag aufgeschnappt, als Hitler und seine Armee einmarschierten. Wieder einmal verlor Lenka Reinerovä ihre Heimat, wie so oft in ihrem Leben. »Ist es nicht selbstverständlich, daß man von dort weggeht, wo man so gehaßt wird«, schreibt Franz Kafka über die Juden, aber Lenka Reinerovä schildert ohne Hass die Schrecken der deutschen Besatzungszeit in Prag und Tschechien. Ein paar Monate nach unserem Zusammentreffen wird Lenka Reinerovä in ihrer Prager Wohnung 92-jährig sterben. Aber das weiß ich ja jetzt noch nicht, als ich den Wagen der Linie 9 bestiegen habe und schwarzfahren muss, weil ich keine Ahnung habe, wie und wo man ein Ticket kauft. Prag mag es mir verzeihen. Ich werde es mit Sympathie zurückzahlen und oft wiederkehren. Lenka Reinerovä wird also nur noch ein paar Monate zu leben haben. Auf die Frage: »Woran glauben Sie?« hat sie einem Kollegen geantwortet: »An das Leben.« Gleich wird sie mir darüber etwas erzählen, wie sie das immer als Schriftstellerin getan hat gegenüber Journalistenkollegen: bescheiden zu berichten über ihr »närrisches Leben«. »Mein Anliegen ist immer mehr die Zeugenaussage«, sagt Lenka Reinerovä über ihre Literatur. Ja, deshalb will ich sie ja gerade besuchen, denn diese Zeugen werden selten, und ich bin fasziniert von dieser Frau, weil sie sich auch noch im höchsten Alter als »pathologische Optimistin« bezeichnet. Ich liebe Optimisten. Ein paar Minuten sind vergangen, die alten Fassaden sind an meinen Augen vorbeigezogen, und mit ihnen die Vergangenheit, die eben an uns allen vorüberzieht. Ich bin angekommen: Haus Nummer 129, zwischen Restaurants und kleinen Geschäften gelegen, ein unscheinbares Mietshaus mit grauer Fassade. Ich drücke den Klingelknopf mit einfachem Namensschild, vierter Stock, der Türöffher summt, und ich muss zu Fuss das Treppenhaus hinaufsteigen. Ich besuche jetzt eine Frau, die in den kulturellen Zirkeln der zwanziger und dreißierer Tahre in Prag ein und aus ging, die mit Ernst Bloch und Stefan Heym, Egon Erwin Kisch und F. C. Weiskopf verkehrte, die eine Irrfahrt durch die ganze Welt hinter sich hat, die in der Mitte Europas lebt, von dem andere immer fälchlicherweise behaupten, es sei ein Europa des Ostens. Reinerovä pflegt den klaren Stil der literarischen Reportage: »Mir fehlt der Ehrgeiz, etwas zu erfinden.« Sie interessiert sich für Menschen, für Straßen und Plätze, für Häuser, Friedhöfe, Gefängnisse. Sie sucht nach der Wirklichkeit als Erfahrung. Sie braucht kein Internet, sie trifft das Leben selbst. Ihre Sprache ist klar, präzise, unverkrampft, eben journalistisch geprägt. Eine Haushälterin empfängt freundlich auf Tschechisch und bittet mich in das Wohn-Arbeitszimmer. Die »Grande Dame« der deutschsprachigen Literatur in Prag begrüßt mich sehr herzlich, ihre munteren Augen verraten, dass sie sich freut auf ein Gespräch mit einem Deutschen aus Frankfurt am Main - trotz ihrer körperlichen Beschwernisse durch die langjährige Krebskrankheit und Chemo-thearpie. Sie trinkt einen Tee und bietet mir et- was zu trinken an. Sie sitzt versunken in ihrem kleinen Sesselchen und blickt auffordernd zu mir auf: Lass uns beginnen, scheint sie zu signalisieren, und fängt schon an mich auszufragen: Wer ich bin, was ich tue, woher ich komme? Sie stellt die »W«-Fragen, was das Interview soll, wo es gesendet wird, was ich vom deutsch-tschechischen Verhältnis halte, wie es denn ankomme, dass sie nun die Ehre hat, vom deutschen Parlament zum Gedenktag der nationalsozialistischen Opfer etwas äußern zu dürfen? Derweil entsteht bei mir ein schlechtes Gewissen, dass ich ihr vielleicht ein zu langes Gespräch zumuten werde, aber auf die Frage »kurzes oder langes Interview« hat sie selbst entschieden und wie selbstverständlich, nachdrücklich betont: »Wir haben Zeit.« Einen Tag nach unserem Interview wird die Schauspielerin Angela Winkler ihre Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag verlesen, und sie wird das nur im Fernsehen anschauen können, wenn ihre Rede von jemand anderem verlesen wird, das deutsche Volk wird Lenka Reinerovä nicht mehr hören können, ihr Gesundheitszustand bindet sie an ihr Zuhause. Aber ich werde sie gleich hören, ihre Stimme aus einer untergegangenen Welt, sie wird für mich ganz allein erklingen, in ihrem »Prager Deutsch«, für einen einzelnen Deutschen, der sie besucht. ... das ist eben diese Art, das wirkliche Leben darzustellen. Das ist alles. Lenka Reinerovä Es gibt einen Kafka-Spruch über Sie, und der stammt vom Verleger Klaus Wagenbach, der besagt: Wenn man hören will, wie Kafta gesprochen hat, dann muss man nur der Reinerovä zuhören, denn sie spricht »Prager Deutsch«. Eben, genau, das ist mein Prager Deutsch, und ich wurde schon unendlich oft gefragt, was das eigentlich sei, das Prager Deutsch. Es ist kein Dialekt, es ist meiner Meinung nach eine besondere und ein bisschen eigenwillige Art vielleicht des Deutschen, der deutschen Sprache. Zweifellos beeinflusst durch die geografische Lage. Darin sind österreichische Einflüsse. Für mich, ich bin ja kein Wissenschaftler, ist das Prager Deutsch weicher und - wenn ich so sagen darf - ein bisschen schlampiger als das deutsche Deutsch. Das deutsche Deutsch ist exakt, sehr präzis, und wir sind, das kommt vielleicht vom Tschechischen wieder, wir sind etwas lockerer. Ich höre diesen Unterschied. Aber dass ich als geborene Pragerin, als eine in dieser Stadt aufgewachsene Person, Prager Deutsch schreibe, kommt mir ganz natürlich vor. Sie haben in Deutsch geschrieben und sind ins Tschechische übersetzt worden. Überhaupt sind es die drei Wurzeln hier: Jüdisch, deutsch, tschechisch — interkulturell. Das ist schon richtig. Aber ich habe anfänglich ein Manuskript auf Tschechisch geschrieben. Komischerweise, das war am Anfang des Krieges, als ich wieder einmal im Gefängnis war, diesmal in Paris. Und ich habe es also durchgesetzt, dass sie mir Feder, Tintenfass und ein Heft in die Zelle gaben. Ich hatte Einzelhaft, und ich habe damals ein Kinderbuch geschrieben, tschechisch, weil ich mir dachte, das ist in Frankreich eine Geheimsprache, die kann niemand. Aber das war an sich eine völlig überflüssige Vorstellung, denn es war ein Kinderbuch, ein bisschen eine Detektivgeschichte. Das hätte eigentlich jeder lesen können und sollen, aber es hat mir das Leben dort ungeheuer erleichtert. Warum waren Sie überhaupt in Haft gekommen, sie waren von Deutschland aus geflohen - nach Frankreich? Nein, ich war am Tage der Besetzung der Tschechoslowakei durch Deutschland nicht im Land. Ich war mit einer journalistischen Aufgabe in Rumänien. Ich habe in Bukarest bei Freunden gewohnt, bei einem Journalisten, der später »Spiegel«-Korrespondent in London wurde. Und der kam nach Hause, am Tag vor der Besetzung, am Vorabend und sagte: »Heute hat sich die Slowakei von euch losgerissen. Da ist etwas los, du solltest heute zu Hause anrufen.« Und ich merkte mir genau, was mir meine jüngere Schwester sagte: »Ich glaube, du solltest noch nicht nach Hause kommen, du hattest doch diese Grippe, und du hättest hier keine Ruhe. Heute waren deine Freunde hier.« Das war am Vorabend des Einmarsches. Also bin ich nicht gekommen. Dann hat sich herausgestellt, ich war in den dreißiger Jahren hier in Prag in der Funktion unter anderem als verantwortlicher Redakteur für eine Emigrantenzeitung, für eine deutsche Emigrantenzeitung, weil nach unserem damaligen Pressegesetz der Verantwortliche ein Staatsbürger sein musste. Ich habe nie auch nur einen Strich in dieser Zeitung geschrieben. Ich habe sie einfach nur gedeckt - sozusagen. Und dann hat sich gezeigt, dass am Vorabend des Einmarsches irgendwie aufgrund von Verzeichnissen gewisse Leute »geholt« wurden. Und zu diesen gewissen Leuten habe anscheinend auch ich gehört. Also bin ich nicht mehr nach Hause gekommen. Und nebenbei gesagt, das war überhaupt mein letztes Gespräch mit meiner jüngeren Schwester. Da haben wir zum letzten Mal in meinem Leben miteinander gesprochen. In den Frühlingsmonaten des Jahres 1945 mischte sich ein neuer, aufrüttelnder Laut unter die in Ravensbrück gewohnten Geräusche. Jeden Tag klapperten Holzpantinen über die Landstraße, scharrten Tausende bloßer Füße, schrien zornige Aufseherinnen und misshandelte Frauen. Rasselten die Maschinen in den Werkstätten und tuteten die Frachter am Landungssteg des Schwanensees. Knarrte der Leichenwagen und jaulte der Wind im Schornstein des Krematoriums. Aus der Erzählung »Der Ausflug zum Schwanensee«, 1983 Ihre gesamte Familie ist in den Lagern der Nazis getötet worden. Meine ganze Familie, im Ganzen elf Personen, beginnend mit meiner Großmutter, Mutter, Schwester, bis hinunter zu meinem kleinen Neffen, der damals - ich weiß nicht genau - sieben bis neun Jahre alt war. Alle! Sodass meine Tochter nie eine Großmutter hatte, nie eine Tante. Hinter ihr ist nichts, da bin nur ich. Und vielleicht ist die Natur so freundlich und lässt mich deshalb so lange leben, was weiß ich? Sie haben immer unter irgendwelchen Säuberungen gelitten. Unter den Säuberungen der Nazis, unter den stalinistischen. Sie sind auch damals ins Gefängnis gekommen. Und letzten Endes auch 1968, als der Prager Frühling mit Panzern zusammengeschossen wurde. Sie waren immer ein Opfer. Also, '68 ist mir nicht so viel passiert, mir ist das passiert, was Hunderten, vielleicht Tausenden auch passiert ist. Ich bin auf die Stunde aus meinem Beruf und der Arbeit herausgeflogen. Und durfte also nicht mehr Journalistin sein. Ich durfte unter meinem eigenen Namen nicht einmal übersetzen. Ich bin über diese Zeit ganz gut hinweggekommen. Ich habe gedolmetscht, und zwar simultan. Sehr viel habe ich mir erst im Nachhinein erklären können. Es e-ab in diesen Jahren sehr viele und sehr gut besetzte internationale medizinische Symposien, Kongresse und so weiter, und wie ich mir das überlegt habe, die waren immer sehr gut besetzt. Wir waren doch für die westlichen Teilnehmer ein sehr billiges Land. Es hat sich gelohnt, den Kongress in Prag abzuhalten - abgesehen davon, dass Prag eine sehr schöne Stadt ist. Und das war sehr gut, das war also keine politische Arbeit, Die hat man mir gelassen, die konnte ich tun. »Als der schreckliche Krieg dann endlich vorbei war, dachten viele voller Hoffnung, nun sei dieser bodenlose Abschnitt der Geschichte zu Ende. Nun werde man nie mehr wegen seiner Zugehörigkeit zu einem Volk, wegen seiner Hautfarbe, dem Glaubensbekenntnis oder der Uberzeugung sterben müssen. Das darf doch kein Irrtum gewesen sein! Wieso konnte eine so schmutzige Welle von Verdacht, Lüge und Unmenschlichkeit in schwergeprüften, kaum zu neuem Leben erwachten Ländern abermals alles überschwemmen? Woher kam das wütende Bestreben, den Menschen im Menschen zu ersticken? Und die Farben der Sonne? Das war wohl eine verrückte Idee, die mir in Augenblicken höchster Niedergeschlagenheit immer wieder einfiel. Mein Leben hat die Farbe Sonne.« Lenka Reinerovd